© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    30/02 19. Juli 2002

 
In der Welt der Sprache
U. Hahn: Das verborgene Wort
Doris Neujahr

Gleich auf der ersten Seite dieses Romans ergreift einen die Ahnung, daß einem Zeile für Zeile eine Begegnung der wunderbaren Art widerfährt, und wenn man das Buch zuklappt, ist daraus eine Überzeugung geworden.

Dabei haben Kindheit und Jugend der Hildegard Palm, von der hier erzählt wird, äußerlich nichts Großartiges. Hildegard wird Ende des Zweiten Weltkriegs im Rheinland geboren, der Vater ist ungelernter Arbeiter, die Mutter Hausfrau, die mit Heimarbeit ein Zubrot verdient, und über allen thront die streng katholische Großmutter: "Am Anfang erschuf Gott Hölle, Teufel und Kinder, und er sah, daß es schlecht war. Meine Großmutter auch. Kinder kamen schlecht auf die Welt. Erwachsen werden hieß besser werden. Dafür sorgten Erwachsene, die alles besser wußten, besser konnten, besser machten, eben weil sie erwachsen waren. Kind sein hieß schuldig sein. Sündig sein. Der Reue, Buße, Strafe bedürftig, in Ausnahmefällen der Gnade."

Aus dieser engen Welt erlösen sie die Spaziergänge mit dem Großvater, der Hildegard Geschichten erzählt und sie auf das Wunderbare in der Natur aufmerksam macht. Mit seiner Hilfe wird der Anblick eines Baumes für sie zur Offenbarung: "Meine Augen öffneten die Weide, öffneten sich für die Weide, Weide wurde zu Augen, die Augen zu Weide, Augenweide." Hildegard begreift instinktiv, daß ihre Welt immer dort zu Ende ist, wo ihre Sprache aufhört, das heißt, je mehr Wörter sie beherrscht, um so weiter dehnt sie sich. Welche Eroberungszüge stehen ihr da erst bevor, als sie in der Schule Lesen und Schreiben lernt ...

Ulla Hahns autobiographischer Roman ist eine poetische Kindheits- und Pubertätsgeschichte und schildert ein individuelles Erweckungserlebnis durch Sprache und Literatur. Er erzählt die Geschichte eines sozialen Aufstiegs und von den Schwierigkeiten und Verletzungen, die ihn begleiten. Damit wird er zur Parabel auf die Geburt der bundesdeutschen Mittelschicht-Gesellschaft. Hildegards Wort- und Bildungsdrang führt zu fürchterlichen Szenen im Elternhaus, wo es außer der Bibel keine Bücher gibt. Der Vater empfindet ihren Wechsel vom rheinischen Dialekt ins Hochdeutsche als Abkehr von ihrer Herkunft und reagiert ratlos und brutal: Als Gefangener seiner Sprachlosigkeit, dem die Andersartigkeit der Tochter Angst macht.

In einer reichen, bildhaften Sprache und mit großem Humor berichtet das Buch von der Innenseite des Wirtschaftswunders. Es steckt voller literarischer Anspielungen, mal ist ein Verweis auf Herman Melville eingestreut, dann gibt es ein Fingerzeig auf Brigitte Reimanns Roman "Franiska Linkerhand". Als Hildegard atemlos von einer jungen, in jeder Hinsicht unausgefüllten Apothekerfrau berichet, die das Geld ihres Mannes verschwendet und ständig nach Düsseldorf fährt, angeblich, um Klavierstunden zu nehmen, dämmert dem Leser allmählich, daß Ulla Hahn mit leichter Hand Flauberts "Madame Bovary" zitiert. Solche Einsprengsel stehen für den Versuch Hildegards, sich die Wirklichkeit durch ihre Literarisierung erträglicher zu machen.

Darin aber liegt auch ihre größte Gefährdung. Denn die Liebe zu den Worten kann zum Vorwand für die Flucht aus der Welt werden und, in Kombination mit Alkohol, in eine unaufhebbare Verlorenheit führen. Die Worte, erklärt ihr ein Lehrer, müssen sich der Welt zuwenden. Nur dann, sieht Hildegard ein, besteht die Chance, das eine, das verborgene, das "Zauberwort" zu finden, von dem Joseph von Eichendorff in einem Gedicht spricht. Ulla Hahn hat nicht nur ein gutes Buch, sie hat große Literatur geschrieben. 

Ulla Hahn: Das verborgene Wort. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart/München 2001, 594 Seiten, geb., 25 Euro


 
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