© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/02 26. Juli / 02. August 2002

 
Einführung des Geburtsrechtes durch die Hintertür
Staatsbürgerschaft: Mit seinem Urteil im Fall "Mehmet" hat das Bundesverwaltungsgericht faktisch das Abstammungsprinzip abgeschafft
Kurt Zach

Der deutsche Rechtsstaat hat eine große Nase. Auf der läßt sich trefflich herumtanzen, und wenn das noch nicht reicht, dreht er sich selbst eine lange Nase und lädt die Tänzer zum weiteren Verweilen ein."

Der sarkastische Leserbriefschreiber steht mit seinem Kopfschütteln über das "Mehmet"-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts durchaus nicht allein. "Hirnrissig", "macht zornig", "entsetzlich", "skandalös" fanden die Wahlkämpfer, was die Bundesrichter ihnen da über die Realität des deutschen Ausländerrechts erzählten. Serienstraftäter Muhlis Ari, aus "Datenschutzgründen" immer noch "Mehmet" genannt, obwohl sein Konterfei längst in jeder Zeitung prangt und er selbst inzwischen ab 2.000 Euro aufwärts pro Fototermin kassiert, darf zurück nach München.

Seine Abschiebung vor vier Jahren war rechtswidrig, befanden die Richter; denn das Ausländergesetz schütze Minderjährige in besonderer Weise vor Abschiebung, und das Grundgesetz stelle nun mal die Familie unter speziellen Schutz, und sei sie noch so verkorkst. Kaum erheblich, daß der nunmehr 18jährige mit dem langen Kerbholz zwar im Namen der "Familienzusammenführung" einreist, aber selbstverständlich in München nicht bei seinen Eltern wohnen will. Bereits Ende 2001 hatten die Eltern mit ihrer Klage gegen die Abschiebung vor dem bayerischen Verwaltungsgerichtshof Recht bekommen. Den Widerspruch der Stadt München und des Landes Bayern, die in Muhlis Ari keine besondere Bereicherung des gesellschaftlichen Lebens entdecken wollten, kassierte jetzt das Bundesverwaltungsgericht.

Es sei bedauerlich, daß dieses Urteil "auch nicht integrationsfähigen ausländischen jugendlichen Intensivstraftätern ein Aufenthaltsrecht in Deutschland" gebe, kommentierte Bayerns Innenminister Günter Beckstein prompt wahlkampfgerecht das Urteil. Wenn die Gesetze so seien, dann müsse man sie dringend ändern, schob CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer in leicht unbeholfenem Populismus nach. Denn für die Gesetzeslage ist durchaus nicht allein Rot-Grün verantwortlich; entsprechend lahm Becksteins Hinweis, daß das Einwanderungsgesetz der Koalition den (tatsächlich bestehenden) Ausweisungsschutz für solche Täter "noch erhöhe". Das vermag kaum davon abzulenken, daß sechzehn Jahre CDU-FDP-Koalition an der bestehenden Rechtslage genauso mitgearbeitet haben. Die Forderung nach einer Herabsetzung der Altersgrenze für die Familienzusammenführung hat die Union erst kürzlich wieder aus ihrem Wahlkampfprogramm gestrichen. Das EU-Assoziierungsabkommen mit der Türkei stellt deren Staatsbürger ohnehin schon jetzt in vieler Hinsicht mit EU-Bürgern gleich. Die Richter haben letztlich so entschieden, wie sie nach dem Willen der Politik wohl mußten.

Die Schieflage besteht dabei nicht nur im Ausländerrecht, sondern ebenso im Jugendstrafrecht. Denn für die Bundesverwaltungsrichter war Muhlis Ari gar kein Serienstraftäter. Zwar hatte der junge Türke bis zu seinem vierzehnten Lebensjahr über 60 Straftaten begangen, verurteilt und abgeschoben wurde er aber nur wegen der 62. und letzten, einem Raubüberfall, den er wenige Tage nach seinem vierzehnten Geburtstag verübt hatte. Das reiche nicht, meinte jetzt das Bundesverwaltungsgericht: Ausnahmen vom Abschiebeschutz für Minderjährige lasse das Ausländergesetz nur zu, wenn der betreffende Jugendliche wenigstens einer schweren Straftat wegen rechtskräftig verurteilt worden sei. Einen anderen Jugendlichen mit einer Latte niederzuschlagen und auszurauben sei aber nicht schwerwiegend genug, und rechtskräftig sei das Urteil zum Zeitpunkt der Abschiebung auch noch nicht gewesen. Daß Muhlis Ari zuvor, im zarten strafunmündigen Alter von elf bis dreizehn, über sechzigmal Raub, Diebstahl, Einbruch, Körperverletzung, Erpressung, Bedrohung und andere Straftaten begangen hatte, floß in die Bewertung nicht ein. Individualinteressen wogen für die Richter schwerer als das öffentliche Sicherheitsbedürfnis; Individualinteressen des Täters wohlgemerkt, nicht etwa die der Opfer seiner über sechzig Straftaten. Forderungen nach Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters, ein Dauerbrenner angesichts explodierender Kinder- und Jugendkriminalität, und nach raschen und harten Sanktionen gerade bei minderjährigen Straftätern gewinnen vor diesem Hintergrund neue Aktualität.

Die Konsequenzen reichen aber noch weiter. Die Grundsatzentscheidung der Berliner Richter bedeutet nicht nur, daß künftig Kinder unter vierzehn Jahren gar nicht mehr abgeschoben werden können, sofern sie in Deutschland geboren sind und die Eltern sich rechtmäßig hier aufhalten. Letztlich spricht das Urteil offen aus, was nicht so gern an die große Glocke gehängt wird - daß zwischen Deutschen und in Deutschland aufgewachsenen Ausländern de facto kaum ein Unterschied im Status besteht.

Die "Mehmet"-Entscheidung bestätigt die weitgehende Aushöhlung des ius sanguinis, des Abstammungsprinzips im Staatsbürgerschaftsrecht, durch die von allen Parteien betriebene Fortschreibung des Ausländerrechts, die daraus in der Praxis ein ius soli, also ein territorial begründetes Recht gemacht hat. Die zufriedene Kommentierung des Urteils durch Politiker der Linken liegt ganz auf dieser Linie: "Wir müssen selbst mit unseren Problemkindern fertigwerden", sagt die bayerische Grünen-Abgeordnete Elisabeth Köhler, während Bundesjustizministerin Hertha Däubler-Gmelin aus dem Richterspruch folgert, es sei unzulässig, "eigene Versäumnisse bei hier aufgewachsenen Migrantenkindern durch Ausweisung zu kaschieren".

"Eigene" Versäumnisse? "Unsere" Problemkinder? Weder Muhlis Ari noch seine Eltern besitzen einen deutschen Paß. Nicht nur der Jugendliche, auch seine Eltern haben sich Fehlverhalten zuschulden kommen lassen. Auch die vorsätzliche Vernachlässigung der elterlichen Aufsichtspflicht sei eine Straftat, meint Peter Gauweiler und fordert als Konsequenz aus dem "Mehmet"-Urteil, künftig eben jugendliche Gewalttäter gemeinsam mit ihren Eltern zurückzuschicken, wenn man denn die Jung-Schläger schon nicht von der Familie trennen könne.

Im Fall Muhlis Ari kommen solche Erwägungen freilich zu spät. Die Stadt München muß ihm wieder eine Aufenthaltsgenehmigung erteilen und ist eifrig bemüht, ihm eine "rasche Rückkehr" zu ermöglichen. Sowie sein türkischer Paß verlängert ist - daß er abgelaufen war, hat ihm die Teilnahme an der Verhandlung in Berlin verwehrt, für die er eine befristete Einreiseerlaubnis hatte - kann Muhlis Ari wieder nach Deutschland kommen und braucht dafür nicht einmal ein Visum. Den deutschen Paß kann er dann auch gleich beantragen - wegen seines langjährigen Aufenthalts bis zum 15. Lebensjahr könne man ihm den kaum verwehren, zuckt das Münchner Kreisverwaltungsreferat mit den Schultern. Sollte er seine kriminelle Karriere wieder aufnehmen, bräuchte er sich dann auch um eine drohende Abschiebung keine Sorgen mehr zu machen. Und wenn es mit dem nachgeholten Schulabschluß, von dem er derzeit PR-gerecht in Interviews in der Türkei noch spricht, nicht klappt, hat er selbstverständlich Anspruch auf Sozialhilfe. Alles streng legal.

Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, kritisiert der frühere Münchner Verwaltungschef Hans-Peter Uhl, sei "nicht im Namen des Volkes" gesprochen worden. Und die geltenden Gesetze, so scheint es, sind auch nicht in seinem Interesse gemacht.


 
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