© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/02 26. Juli / 02. August 2002

 
Pankraz,
Ernst Bloch und die Erbschaft jener Zeit

Gewiß muß die Tante erst tot sein, die man beerben will, doch vorher schon kann man sich sehr genau im Zimmer umsehen." Dieser Satz steht im Vorwort zu "Erbschaft dieser Zeit", einem der besten Werke Ernst Blochs, dessen Todestag sich am 4. August zum fünfundzwanzigsten Male jährt. "Erbschaft dieser Zeit" erschien 1935 im deutschsprachigen New Yorker Aurora Verlag, und der Satz war als Spitze gegen die Führung der Exil-KPD gemeint, die den Verlag insgeheim beherrschte und die das Buch gern verhindert hätte. Der Leiter der "Aurora", Wieland Herzfelde, brachte es aus persönlicher Loyalität gegenüber Bloch trotzdem heraus, obwohl er sich dadurch viele Scherereien zuzog.

Wer war die Tante, die Bloch beerben wollte und deren Erbschaft der Parteiführung so sehr zuwider war? Es war der sogenannte "Irrationalismus", der sich als Folge der goethe-hegelschen Klassik von 1800 im deutschen Geistesleben herausgebildet hatte, das Ernstnehmen und subtile Bedenken solcher Phänomene wie Leben, Seele, Nation, Ganzheit, Reich, solcher Philosophen und Forscher wie Carus, Dilthey, Nietzsche, Bachofen, Klages, C.G. Jung, Benn.

Für die Linken waren alle diese Phänomene bzw. Forscher nichts als reaktionärer Plunder, gefährliche "Ideologie", "Ablenkung vom Klassenkampf". Bloch aber, der sich für einen Linken, ja für einen radikalen Linken hielt, erkannte in ihnen pures Gold, eine riesige Kiste von Widerstandsargumenten gegen den entfremdenden, öde mechanischen, geistfernen Kapitalismus.

Natürlich sah er, daß sich auch und gerade seine Feinde, die Nationalsozialisten, aus dieser Kiste bedienten. Doch das war für ihn nicht der geringste Grund, das Kind mit dem Bade auszuschütten und die Hände von den Schätzen zu lassen. Im Gegenteil, es spornte ihn an, immer wieder Besitzansprüche der Linken an diesem "deutschen Irrationalismus" anzumelden und seine Genossen unermüdlich zum Miterben aufzufordern.

Das Buch "Erbschaft dieser Zeit" ist ein einziger tragischer (tragikomischer) Zweifrontenkrieg. Ein Krieg einerseits gegen die nationalsozialistischen "Betrüger" und "Agenten des Kapitalismus", die wie der Nibelungen-Drache die Schätze okkupieren, um das Volk damit für sich ködern zu können, andererseits gegen die lieben Genossen, die keine Ahnung haben von dem, was vorgeht, die das Gold für Talmi, ihren stumpfsinnigen "Klötzchenmaterialismus" für das höchste der Gefühle halten und mit ihrer Ignoranz "ungewollt" dem Feind in die Hände arbeiten.

Der Text liest sich blendend, Bloch entwickelt hier eine polemische Verve und eine Präzi-sion wie in kaum einer anderen seiner Publikationen. Aber letztlich beruhte alles auf einer Fehleinschätzung. Nicht der Nationalsozialismus, sondern der Kommunismus erwies sich als "höchstes Stadium des Kapitalismus" (Ulrich Schacht). Die im Kommunismus angelegte Anbetung des bloßen Konsums, die Zurückführung aller geistigen Regungen auf "objektive", ökonomische, zahlenmäßig ausrechenbare Vorgänge war nichts weiter als das liberal-kapitalistische Credo in Reinkultur.

Der Nationalsozialismus mußte bis auf den Grund niedergeworfen und gewaltsam ausgeschwefelt werden, damit die "Moderne" global Platz greifen konnte. Der Kommunismus knickte, nachdem sich herausgestellt hatte, daß das westliche Konsummodell erfolgreicher war als das östliche, ganz von selber ein, implodierte, seine Funktionäre verwandelten sich über Nacht in eifrig bemühte kapitalistische Kleinmanager, die auf den Knien darum flehten, daß die großen Investoren endlich auch zu ihnen kommen und ihnen gute Pöstchen verschaffen möchten.

Ist die "Erbschaft" damit bis in alle Ewigkeit blamiert und als Accessoire höllischer, unausgegoren-unfertiger Kräfte kenntlich gemacht? Oder existiert da nach wie vor ein Ungeschiedenes und Unabgegoltenes, das freigelegt, gereinigt und weitergeführt werden muß, um unser aller willen? Pankraz würde allzu gerne wissen, wie Bloch heute über diese Fragen dächte. Er hatte ja ein unerhört feines Gespür für Tendenzen und Latenzen in gemischten Verhältnissen, war sich stets darüber klar, das Heil und Unheil ganz dicht beieinander wohnen und manchmal sogar in osmotischem Austausch miteinander stehen. "Die Zeit fault und kreißt zugleich", heißt es gleich zu Anfang von "Erbschaft dieser Zeit". "Überall besteht die Pflicht zur Prüfung und Besetzung möglicher Inhalte." Genau deshalb muß man sich im Zimmer der Erbtante so gründlich umsehen.

Eines jedenfalls ist klar: Es gibt für die Menschenwelt keinen denkbaren Zustand, von dem ab es nur noch quantitativ-ausdehnungsmäßig weitergeht, weil angeblich alle entscheidenden Fragen geklärt sind und wir nur noch fröhlich vor uns hin zu konsumieren brauchen. "Nicht alles noch 'Irrationale'", schreibt Bloch, "ist einfach auflösbare Dummheit. Der Hunger nach - sage man: Weiterungen - bleibt, oder er wäre der erste, der durch Entziehung von Nahrungsmitteln gestillt worden ist."

Als sich Bloch und Pankraz, nach vielen Demütigungen, Verboten, Gefängnisaufenthalten, die sie im Land des real existierenden Sozialismus erlebt hatten, im Westen wiedertrafen, war bei Suhrkamp gerade eine neue, "leicht überarbeitete" Auflage von "Erbschaft dieser Zeit" erschienen. In das Exemplar von Pankraz schrieb der Autor als Widmung damals hinein: "Meinem lieben Günter Zehm in Freundschaft, Treue und Hoffnung". Mit der Freundschaft und Treue hat es dann in den folgenden Jahren - beiderseits - nicht so richtig geklappt, aber die Hoffnung ist - wohl ebenfalls beiderseits - geblieben.

Die Hoffnung nämlich, daß jene wichtige Erbschaft, die speziell in der deutschen Geistestradition nach wie vor auf uns wartet, eines Tages auch wirklich angetreten wird und daß das uns und der übrigen europäischen Welt zum Guten ausschlägt.


 
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