© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/02 26. Juli / 02. August 2002

 
Die Dimension des Unverfügbaren
Machtworte des Zeitgeistes: Der Mensch ist nicht mehr Abbild Gottes, sondern des Marktes
Wolfgang Saur

Es ist mißlich zu erleben, wie verdammt aufklärungsfromm, modernitätskompatibel und zeitgeistkonform christliche Theologen meist die Sache des Glaubens und der Kirche in der Öffentlichkeit vertreten. Solcher Opportunismus gründet aber in einer begreiflichen Sorge: Nach Marginalisierung der Religion in der Moderne droht man als Diskursteilnehmer aus dem Agendasetting ganz verdrängt zu werden, so wie es der klassische Atheismus im 19. Jahrhundert vorgesehen hatte. "Für die neue Gesellschaft existieren keine Rücksichten. Der unausgesetzte menschliche Fortschritt und die unverfälschte Wissenschaft sind ihr Panier. Hat noch jemand religiöse Bedürfnisse, so mag er sie mit seinesgleichen befriedigen. Die Gesellschaft kümmert sich nicht darum" (Bebel).

So sind Glauben und Kirche, seit 200 Jahren auf dem Rückzug, heute ängstlich bemüht, sich vor den Imperativen der Zeit zu rechtfertigen. Doch gerade so verspielt der Glaube sein ureigenes Gut, in der Rolle einer von den Zeitmächten approbierten sozialen Ethik wird er schnell ersetzbar. Doch birgt die christliche Tradition ein großes kritisches Potential; man braucht nur den Mut, es zu entfalten. Die Schrift heißt uns, kritisch der Welt entgegenzutreten; in diesem Sinn forderte die Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" des Zweiten Vatikanums, stets "nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten".

Zwei Theologen beim Hessischen Rundfunk, der Katholik Klaus Hofmeister und der Protestant Lothar Bauerochse, haben diese Maxime aufgegriffen und im letzten Winter in hr2 eine Sendereihe durchgeführt über die "Machtworte des Zeitgeistes", die jetzt auch als Buch erschienen sind. Mit der Absicht, aus dem defensiven Ghetto herauszukommen, haben hier elf Autoren einige Konjunkturvokabeln kritisch unter die Lupe genommen. Es sind dies: Beschleunigung, Fitneß, Erfolg, Flexibilität, Event, Individualität, Spaß, Neu!, Marktwert, Online und Mobilität - wie man sieht: aktuelle Erfahrungsmodelle, die zugleich strukturelle Dimensionen des Kultursystems beschreiben.

Die Beiträger: Theologen, Soziologen, ein Psychologe, arbeiten im akademischen Betrieb oder den Medien und stehen den Kirchen nahe. Bei aller Unterschiedlichkeit von Themenstellung, Perspektive, Argumentation machen sie sämtlich Miene, gegen den Zeitgeist in seiner kompakten Realität anzutreten. Dieser verdiene, so heißt es unumwunden, "eine regelrechte Herrschaftskritik" (Bauerochse) - kein Kleines für eine Zeit, in der kritische Freiräume rapide schwinden und der oppositionelle Impuls mit dem rethorischen Gestus von der "wehrhaften Demokratie" abgeschmettert wird. Nicht immer, aber immer öfter.

Das Wesen der Moderne zeigte sich den "Machtworten" in der "totalen Mobilmachung": ökonomisch, technologisch, sozial. Die Beschleunigung des Fortschritts wirft um so dringender die Frage nach dem Wohin? und Wozu? auf, indem die Zukunft als ein "Raum kollektiver Verheißung" nach den jüngsten Katastrophen auf einen bloßen "Raum des jeweils Möglichen" geschrumpft ist. Alles ist im Fluß, existiert im Plural und als Optativ. Im System der Relativitäten steht alles zur Disposition.

Der Imperativ in der "Multioptionsgesellschaft" lautet: "Flexibel sei der Mensch, hilfreich, entbehrlich." So ist alles fraglich, außer dem Markt selbst; er enthüllt sich zunehmend als harter Realitätskern hinter den semantischen Schleiertänzen und dem ideologischen Kulissenzauber. Der Sog des Ökonomischen, der alles mit sich reißt, wird deutlich benannt, an erster Stelle von Johannes Paul II. selbst: "Der Marktkapitalismus ist die erfolgreichste Religion aller Zeiten geworden." Reimer Gronemeyer (Marktwert) geht weiter, indem er den globalen Markt direkt als neues mythisches Supersubjekt, den "kommenden Gott" anspricht. Chicago wird so zum Eldorado der New Economy, ein neues Bethlehem, die Börsen sind die Kathedralen des neuen Zeitalters, und der Mensch ist nicht mehr Abbild Gottes, sondern des Marktes.

Vor der "heiligen Dreifaltigkeit" der Deregulierung, Flexibilisierung und Globalisierung verfällt auch die humanistische Bildungsidee der Lächerlichkeit. Wissen bestimmt sich heute funktional, es soll den menschlichen Marktwert heben, also heißt das pädagogische Programm jetzt: "Drin sein sollen Informationen, die standortgerecht sind, die einen flexiblen und beschleunigungsfähigen Typus ausstatten." Wandlungsdynamik zeigt sich überhaupt als eigentlicher Charakter aller Modernisierung, ihr Movens ist ein "kinetischer Imperativ" (Höhn). So behauptet sich nur mehr das "Gängige", alles "Beständige" gerät unter "Stagnationsverdacht". Die Dynamisierung frißt die "kulturellen Immobilien" auf, sie ist immer auf dem Sprung nach dem Neuen.

Das stellt aber Religionen grundsätzlich in Frage, auch das Christentum, ist doch damit "ein religiöser Sinnzusammenhang, der seine Verbindlichkeit aus einem zurückliegenden Ursprung und einer Tradition herleitet, im Kern 'unmodern' und damit für ein zeitgenössisches Bewußtsein ... unplausibel" (Franz-Xaver Kaufmann). Die "Zeitbiotope", also unverfügbare Zeiträume wie religiöse Feste, werden von absoluter Verzeitlichung aufgesaugt, einer modischen "Wiederkehr des immer Neuen". In dieser Situation wird die hart umkämpfte Aufmerksamkeit des Konsumenten zur knappen Ressource, die "Spaß-" (Malessa) und "Event-Kultur" (Foitzik) bekommt Konjunktur.

Interessant, was zum Thema "Spaß" Martin Kreß, Kölner Comedy-Produzent und Gag-Schreiber für Harald Schmidt, bemerkt hinsichtlich der alten Kabarett-Tradition: "Botschaften kann ich ja nur dann hören, wenn es überhaupt welche gibt. Mir leuchten keine mehr ein. Also, wo sind die Botschaften?" Wenn die Inhalte verschwinden, genügt es, "Kulissen des Glücks" zu arrangieren, in denen atomisierte Individuen unterwegs sind nach ihrem "Kick", also "erlebnisrational" reagieren. Der banale Subjektivismus antwortet auf die Neutralisierung der Sinndimension durch das System. "Auf der Suche nach dem schönen Leben gibt es keine überindividuelle, erst recht keine religiöse Ordnung mehr, die dem Individuum Sinn und Zweck seines Daseins verbindlich vorgibt" (Foitzik). So "zerlegt" das Gemeinwesen sich selbst, Günter Rohrmoser hat das eine "atomistische Revolution" genannt. In seiner Privatisierung wird das Sinnparadigma aufgelöst und driftet in die Beliebigkeit ab. Diese Tendenz stärkt Ego-Kult und Konkurrenz-Mentalität, wie Horst-Eberhard Richter (Flexibilität) im Gießen-Test von 1975-94 beobachtet hat. Leitwerte sind dabei "Erfolg" und "Effizienz", die, wie Stephan Krebs analysiert, nicht nur den Beruf, sondern auch das spaß-orientierte Freizeitverhalten bestimmen. "Man ist auch hier jung, gut gelaunt, lässig, schlank und sportlich."

So hat sich hier in den letzten 20 Jahren eine ausgedehnte Wellness-Industrie ausgebildet (Bernardin Schellenberger, Fitneß), die ganz die Körperlichkeit ins Zentrum rückt. Interessant, daß in diesem Verhalten traditionale Strukturelemente aus religiöser Askese und spiritueller Praxis erkennbar sind, ihrem Wesen nach aber völlig umgestülpt werden. Statt die Zeit zu überwinden und in absoluter Gegenwart die Ewigkeit zu erfahren, geht es nun um den regressiven Wunsch, "ein Maximum an Spaß zu haben". So empfehlen Theologen ernsthaft, den Gottesdienst in "Tho-Tainment" zu transformieren, damit Glaube "wieder Spaß mache". Die große Stunde für einen bislang wenig bekannten Psalm: "Habe Lust am Herrn, so wird er dir geben, was dein Herz wünscht." (Ps 37,4)

Doch an diesem Punkt bleibt die kritische Runde nicht stehen. Ungewöhnlich für einen Altlinken nimmt sich schon die Beschwörung der Heimat aus dem Munde Richters aus: "Das innere Bedürfnis der Menschen, in einem überschaubaren Lebenskreis beheimatet und für andere eine verläßliche, vertrauenswürdige Größe zu bleiben, ist auch eine Macht."

Theologisch fragt Stephan Krebs (Erfolg) zurecht, was in diesem windschnittigen System denn passiere mit "dem Menschen, wenn er scheitert?" Der Glaube tritt hier zurecht als alternative Macht auf, muß doch schon das Kreuzesmysterium als Skandalon wirken. Luthers Rechtfertigungsgedanke etwa bietet eine Struktur, in der menschlicher Unzulänglichkeit eine lösende, göttliche Antwort gegenübertritt. Überhaupt wird durch die religiöse Intervention eine Dimension des Unverfügbaren, nicht Funktionalisierbaren gestiftet. Die Logik des Glaubens schafft einen Raum der Freiheit, der sich dem hypertrophen Ich und der entfesselten Wirklichkeit widersetzt. Bleibt diese systemisch in sich gefangen, steht alles beim Einzelnen. Vom Individuum aus plädiert deshalb Fulbert Steffensky (Mobilität) für eine unzeitgemäße Askese. Die Nivellierung läßt sich nur aufhalten, so Kierkegaard, indem "das Individuum in individueller Aussonderung die Unerschrockenheit der Religion gewinnt".

Die sakrale Dimension des Lebens scheint heute nur mehr auf im Widerstand. Wir Modernen sind am Ende der Fahnenstange angelangt: Freiheit, Individualismus, Empirie, das Reale etc. - alles Werte, die sich verbraucht haben. Vielleicht muß der westliche Mensch wieder das große Schweigen entdecken, indem er sich einen inneren Berg Athos schafft, ein unsichtbares Katharinenkloster, auf daß er verwandelt und wirklich neu werde, nicht bloß für die nächste Saison. Wolfgang Saur

Machtworte des Zeitgeistes, hrsg. von Klaus Hofmeister und Lothar Bauerochse. Echter-Verlag, Würzburg 2002, 150 Seiten, 9,90 Euro


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen