© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/02 26. Juli / 02. August 2002

 
Mit Siebenmeilenstiefeln
Literatur: Ein Medienliebling wider Willen stapft durch den Schutt des amerikanischen Traumas
Silke Lührmann

Jonathan Franzen war nicht der erste - und wird gewiß nicht der letzte sein -, der davon träumte, den amerikanischen Roman zu schreiben: ein Handbuch zum American dream, gewaltig genug, nicht nur den flüchtigen Zeitgeist einzufangen, sondern die Psyche dieses ungeheuren Landes zu umspannen. Doch Franzen beließ es nicht beim Träumen. 1996 erschien in der Zeitschrift Harper's sein kulturkritischer Rundumschlag "Perchance to Dream" - und wurde zunächst als Erguß eines Futterneidischen abgetan, der seinen erfolgreicheren Kollegen die Trauben versauern wollte: Der Zustand der amerikanischen Gegenwartsliteratur, befindet der 43jährige Hobby-Seismologe, sei so desolat "wie eine dieser einstmals großen Geisterstädte im Herzen Amerikas, die nun von überdimensionalen Verkehrsadern ausgeblutet sind. Die kaputte Innenstadt der anspruchsvollen Werke ist umgeben von wuchernden Vorstädten, in denen Unterhaltung für die Massen produziert wird."

Beachtung fand Franzens Polemik erst, als im letzten Herbst sein dritter Roman überraschend zum Kassenschlager wurde. Seit Ende Juni liegt "The Corrections" auch auf deutsch vor. Die Zeitschrift Literaturen nahm diesen Termin zum Anlaß, in ihrem diesjährigen Sommer-"Special" eine - leider stellenweise recht lieblose - Übersetzung von Franzens Essay zu veröffentlichen.

"Geschichte ist, was wehtut", behauptet der amerikanische Neomarxist Fredric Jameson, und dies zu zeigen - daß nämlich das Politische immer auch persönlich ist -, sieht Franzen als die Bürde des Schriftstellers. Das "unmögliche Projekt, ein Buch über alles in der Welt zu schreiben", sagte er dem Spiegel, werde möglich, "sobald man diesen universellen Anspruch fallen läßt und einen einzigen Charakter in einem Augenblick großer Not begleitet". In Wirklichkeit ist "Vielleicht zu träumen" weniger die kulturelle Kampfansage, die vor allem amerikanische Rezensenten darin gelesen haben, sondern vielmehr die Fallstudie einer weltanschaulichen Genesung "vom depressiven Realismus zum tragischen Realismus, von der Lähmung durch Düsternis zur Motivierung durch Düsternis". Denn "früher oder später wird man die Waffen strecken und sagen: Ich will mich einfach nicht mehr so beschissen fühlen."

Franzen ist ein erklärter Widersacher des Fernsehens

Zwar kann, wie Franzen richtig sieht, kein Roman "das ganze Gewicht unserer geistesgestörten Gesellschaft" tragen, doch "Sätze von einer solchen Wahrhaftigkeit zu schreiben, daß man in ihnen Zuflucht finden kann - ist das nicht genug? Ist das nicht sehr viel?" Sein erklärter Widersacher ist das Fernsehen, zu dem er "eine plausible Alternative" bieten will: "Ich versuche, Romane zu schreiben, die so packend sind, daß man lieber lesen als fernsehen würde."

Ausgerechnet Oprah Winfrey, in deren Talkshow Amerika seine Seele jeden Nachmittag entblößt, befand der literarische Heilsbringer daher für unwürdig, seine frohe Botschaft zu verkünden. Als sie "The Corrections" zur Empfehlung des Monats für ihren Buchclub erkor, äußerte Franzen Bedenken: Ihm sei "unbehaglich" dabei, begründete er seine Weigerung, in der Sendung aufzutreten.

Franzens Pessimismus spiegelt eine Befürchtung, die schon Alexis de Tocqueville 1835 in seinen Reisenotizen "Über die amerikanische Demokratie" geäußert hatte: daß die Gleichheit auf Kosten der schöpferischen Freiheit, die Massenproduktion auf Kosten der Meisterschaft, die Quantität auf Kosten der Qualität gehen müsse - daß Volksherrschaft die Diktatur des Mittelmaßes bedeutet, weil nur eine Aristokratie in der Lage ist, Großartiges hervorzubringen. Daher rührt auch die gefährliche Schizophrenie der USA, die immer hin- und hergerissen waren zwischen politischem Größenwahn und kulturellen Minderwertigkeitskomplexen, zwischen dem Kult des Individuums und einem "repräsentativ" demokratischen Kunstbegriff, zwischen dem Ruf der Wildnis und dem Verlangen nach Komfort und Konformität, zwischen einem Selbstverständnis als pastorales Paradies oder als industrieller Gigant.

Die calvinistische Prädestinationslehre traf auf die kuriose Überzeugung, daß der Mensch nicht nur das Recht, sondern geradezu eine Pflicht hat, sein eigenes Glück zu schmieden, ja zu jagen, wie es in der Unabhängigkeitserklärung steht: ihm gnadenlos nachzustellen wie einem Beutetier, dem Büffel etwa oder einer unseligen Rothaut.

Am Anfang war das Wort: In den Utopien der Alten Welt exisitierte "Amerika" lange, bevor die Idee Land nahm. Dennoch tat der junge Staat, der durch einen Sprachakt ins Leben gerufen worden war, sich lange Zeit schwer damit, seine nationale Identität und seine Unabhängigkeit von Europa auch literarisch zu verfassen. Als 1851 gleich drei Texte erschienen, die heute aus dem Kanon der Nordamerikastudien nicht mehr wegzudenken sind, galt die "American Renaissance" der geistigen Elite weniger als Omen denn als Programm. In der Tat haben die Themen dieser Werke in den letzten hundertfünfzig Jahren stetig an Aktualität gewonnen: das Schiff in Herman Melvilles "Moby Dick" als multikultureller Hexenkessel unter dem Kommando eines von Rachephantasien zerfressenen Irren; die öffentliche Anprangerung eines Ehebruches in Nathaniel Hawthornes "Der scharlachrote Buchstabe"; der überschwengliche Stil von Walt Whitmans "Grashalmen" mit seinem peinlichen Enthusiasmus für das Projekt einer Demokratie, die die ganze Welt umarmen will.

Ein Abgesang auf das amerikanische Jahrhundert

Seither haben die verschiedensten Autoren sich die Ambition zu eigen gemacht, an der Franzen nun gemessen wird: Theodore Dreisers "American Tragedy" (1935) erzählt die uramerikanische Geschichte des Mannes, der sich an die weibliche Zivilisation gefesselt fühlt, vor dem blutroten Hintergrund des sozialdarwinistischen Naturalismus. Norman Mailer greift dieses Motiv dreißig Jahre später in "An American Dream" (1965) auf, während Philip Roths "American Pastoral" (1997) den Einbruch der sechziger Jahre in die kleinstädtische Idylle beklagt. John Dos Passos' "U.S.A." (1938) blickt durch ein Weitwinkelobjektiv auf die vitale "American Scene", die Henry James 1904 mit der europäischen Dekadenz kontrastierte.

In den USA wurde Franzens Familienchronik aus dem Herzen des Landes, dem Mittleren Westen, quer durch die Feuilletons salutiert als Abgesang des "amerikanischen Jahrhunderts", das 1898 mit den ersten Dehnübungen der erwachenden Weltmacht begann - dem Erwerb der Philippinen von Spanien -, und am 11. September 2001 in Schutt und Asche verging: wenige Tage, nachdem "The Corrections" erschien.

Die "Korrekturen" des Titels sind Wertverluste an der Börse, aber auch Methoden der Kindererziehung oder der chemischen Nachbesserung genetischer Defekte und Defizite: Viel deutlicher als seine Vorgänger hat Franzen den Markt - und nicht die Demokratie oder gar die Zehn Gebote - als erzählerische Blaupause des amerikanischen Romans erkannt und verstanden, daß Freiheit, Gleichheit und das Streben nach Glück ökonomische und erst in zweiter Linie existentielle Rechte sind. (Die Brüderlichkeit stand zwar der Quäkerstadt und city of brotherly love Philadelphia Taufpate, bekam aber nie einen Fuß in die Türen der Wall Street.)

Gegen diese Erkenntnis wehrt sich Franzen mit allen Mitteln der Schreibkunst. Der Willkürherrschaft ominöser Konzerne, Aktien- und Bankgesellschaften, wie man sie schon von seinen Vorbildern Thomas Pynchon oder Don De Lillo kennt, möchte Franzen eine "Gemeinschaft von Lesern und Schriftstellern" entgegensetzen, deren Mitgliedern - vereint in dem "Glauben, daß der Roman nicht unbedingt etwas verändern muß, aber daß er etwas bewahren kann" - "nichts auf der Welt einfach erscheint".

"Wir befinden uns in einem Zeitalter, in dem es sehr schwierig ist, Idealismus aufzubringen", sagte Franzen zum Aufbau der "Korrekturen". "Man kann kaum noch irgendwo Sinn entdecken. Aber die Familie ist und bleibt ein Ort, an dem Sinn entsteht." Dabei macht gerade der Irr- bis Unsinn, den seine durchschnittlich dysfunktionalen Normalverbraucher, die Lamberts aus St. Jude, erzeugen, die "Korrekturen" so lesenswert. Der Vater leidet an Parkinson - und kann für seine jahrzehntelange Tyrannei nicht mehr zur Rechenschaft gezogen werden -, die Mutter an der Entzauberung ihrer heilen Welt, die drei erwachsenen Kinder an diversen Neurosen und Zivilisationsmüdigkeiten.

Ein Roman, dessen Protagonist sich in einem Delikatessengeschäft namens "Alptraum des Konsums" ein Lachsfilet im Wert von 78,40 Dollar in die Lacklederhose stopft, um vor seinen Eltern nicht als der Versager dazustehen, für den er selber sich hält, ist ohne eine gehörige Prise Ironie unverdaulich. Doch die geht Franzen ab und zu aus, und dann ringt er um Atem, wenn auch nicht nach Worten. "Selbst wenn Silicon Valley einen VR-Helm in jedes amerikanische Haus bringt, selbst wenn das Lesen fast bis zur Bedeutungslosigkeit abnimmt, bleibt uns eine hungrige Welt jenseits unserer Grenzen, eine Staatsschuld, über die unsere Fernseh-Regierung nur die Hände ringen kann, und es bleiben die Apokalyptischen Reiter des Krieges, der Krankheit, der Umweltzerstörung", ereifert er sich in "Vielleicht auch träumen".

In den "Korrekturen" schwappt derlei Katzenjammer schon mal ohne Punkt und mit vielen Kommata, Klammern und Semikolons über die ganze Seite. An anderen Stellen schimmert der "universelle Anspruch" noch allzusehr durch: "So kam es, daß im Haus der Lamberts, in St. Jude wie überall in Amerika das Leben im Untergrund gelebt wurde." Der Ausverkauf Litauens übers Internet dagegen ist so bizarr und so lebensnah, daß man erwartet, demnächst in Carl Gustaf Ströhms "Blick nach Osten" mehr darüber zu erfahren.

Ein Buch, das auf die Macht der Hoffnung setzt

Die Frage, ob Franzen der große amerikanische Roman geglückt ist, kann man gründlich wiederkäuen und danach getrost den Hyänen und sonstigen Aasfressern der PR-Branche überlassen. Auf jeden Fall hat er eine äußerst amerikanische Geschichte geschrieben: ein Buch, das auf die Macht der Hoffnung setzt. Ein Willensakt genügt, den Siebenmeilenschritt von der Depres-sion zur Tragik zu gehen und noch jedes Scheitern als Leistung zu werten: "Man benötigt schon eine gute Portion Kraft und Optimismus, um scheitern zu können und sich zu öffnen für die Möglichkeiten und Freiheiten, die sich daraus ergeben", erklärte Franzen im Spiegel-Interview.

Leap of faith nennen die Amerikaner einen solchen Sprung, der mit blindem Glauben der Schwerkraft trotzt. Obwohl die Welt doch keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, besser zu sein, als man dachte, gestattet man sich, den Blick auf sie zu korrigieren - und vielleicht auch zu träumen.

Der Erfolg gibt Franzen recht - und scheint seine unvoreingenommen, unvereinnahmbar kritische Scharfsicht Lügen zu strafen. Doch vielleicht bedarf auch dieses Denken einer Korrektur. Kein Wunder schließlich, daß Chip Lambert als erstes "seine Marxisten" verhökert, um sich die langersehnte Teilnahme an der Spaßgesellschaft zu erkaufen. Mit den Genüssen und Gelüsten des Fleisches, mit den Reizen seiner Freundin Julia kann kein Habermas, Adorno oder Jameson mithalten.

Jonathan Franzen: Die Korrekturen. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell. Rowohlt Verlag, Reinbek 2002, 736 Seiten, geb., 24,90 Euro


 
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