© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    31-32/02 26. Juli / 02. August 2002

 
Neue Technologien: Methylphenidat (Ritalin)
Kinder heißen jetzt Kids
Angelika Willig

Früher gab es artige und unartige Kinder. Die Artigen wurden gelobt, die Unartigen bestraft. Dann durfte es nur noch Kinder geben, "wie Kinder nun einmal sind". Strafen und Tadel waren verpönt, egal was die Rangen anstellten. Nun kommt den geplagten Eltern ein Himmelsgeschenk, das ADS heißt. Das "Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom" oder "Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom" (ADHS) trifft genau das, was man früher "unartig" nannte. Der Terminus ist vielleicht etwas umständlich, aber dafür politisch korrekt. Er tadelt die Kinder nicht, sondern stellt eine Diagnose. Faulpelze, Raufbolde, Klassenclowns, Störer und Sprunghafte sind nicht etwa schlecht, sie sind nur krank. Und dafür kann ja keiner etwas. Die Abschaffung der Moral zugunsten der Medizin wirkt ungeheuer beruhigend. Den Eltern fällt geradezu ein Stein vom Herzen, wenn sie vom Arzt hören, daß ADS "wahrscheinlich genetisch bedingt" sei. Obwohl dafür bisher jeder Beweis fehlt, mag es eine "genetische Verwundbarkeit" tatsächlich geben. Doch wer hat wohl diese Kinder verwundet? Wenn es gar nicht mehr geht, wird vom Hausarzt ein Medikament verschrieben, das jetzt durch die Presse geht: Ritalin. Das Aufputschmittel erhöht den Gehalt an Dopamin, einem Neurotransmitter, im Großhirn und stimuliert damit ähnlich wie Ecstasy oder Kokain. Paradoxerweise wirkt es auf Kinder beruhigend und konzentrationsfördernd. Keiner kann erklären, warum. Auch andere Psychopharmaka funktionieren oft nach dem Trial-and-Error-Prinzip. Doch vorher könnte man es vielleicht mit einer anderen Erziehungsmethode versuchen. Und in der Tat werden schon Kurse für ADS-Eltern angeboten. Kinder seien nun einmal verschieden, vernimmt man da plötzlich, und manche brauchten das, was andere nicht brauchen, nämlich eine starke Führung. "Präzise Aufforderungen", so umschreibt man in diesen Kursen die nötigen Befehle. Als "Privilegienentzug" kommt die Strafe wieder zur Geltung, Fleißkärtchen werden "Belohnungspunkte" genannt, und das In-der-Ecke-Stehen heißt jetzt "Auszeit". Wichtig sei vor allem "wenn die Kinder lernen, daß ihre Handlungen Konsequenzen haben".

Wer den alten "Struwwelpeter" liest, findet darin ein Panoptikum der Kinderpsychiatrie. Der Schöpfer auch des "Zappelphilipp", Dr. Heinrich Hoffmann, war Nervenarzt. Allerdings stand ihm noch kein Ritalin zur Verfügung. Sonst wäre das beliebteste deutsche Kinderbuch vielleicht nie geschrieben worden.

"Schwarze Pädagogik" nennt man das System aus positiven und negativen Reizen, zugeschnitten auf die hündische Rudelnatur, die uns mit Sicherheit genetisch anhängt. Wie könnte man dann Ritalin nennen? Vielleicht "Pharmazeutische Pädagogik"? Oder "pädagogische Chemie"? Auf jeden Fall schmeckt es nicht bitter.


 
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