© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/02 09. August 2002

 
"Der Nationalstaat zerfällt"

Jean Ziegler über das unheilvolle Ende des Nationalstaates, die Schweiz und sein Buch über den Hunger in der Welt
Moritz Schwarz

Herr Ziegler, Ihr Buch "Wie kommt der Hunger in die Welt?" trägt den Untertitel "Gespräch mit meinem Sohn". Ist das Buch wirklich auf diese Weise zustande gekommen, oder handelt es sich um einen stilistischen Kniff, um das Thema attraktiver zu gestalten?

Ziegler: Ich arbeitete vier Jahre zusammen mit fünf Assistenten an einem Forschungsprogramm, das der Frage "Wie kommt der Hunger in die Welt?" nachging. Als es dann an die Formalisierung ging, standen wir vor der Frage, wie sich die Ergebnisse am besten präsentieren ließen. Es geht uns ja um den Aufstand des Gewissens, denn da wir in Europa in Demokratien leben, heißt das, wenn wir die Bürger sensibilisieren, dann können wir auch politische Wirkung erzielen. Also müssen wir eine Form wählen, die in dieser Hinsicht effizient ist. So kam es zu der Idee, dem Thema die Form eines didaktischen Gespräches zu geben. Natürlich am besten mit einem jungen Menschen zwischen fünfzehn und achtzehn Jahren, der Fragen hat. Schließlich ist es diese Altersgruppe, die die radikal-kritischen Fragen stellt. Mein Sohn ist gerade in diesem Alter und so regte mein Assistent an, ihn zu befragen.

In Frankreich ist das Buch bereits als Schulbuch übernommen worden.Was haben Sie als entscheidende Ursache des Problems festgestellt?

Ziegler: Das Furchtbare ist der Triumph der neoliberalen Ideologie. Diese besagt, Nahrungsmittel sind eine Ware wie jede andere Ware auch. Und Waren haben auf dem Markt nun einmal einen Preis. Das heißt, der freie Markt entscheidet. Wenn es Opfer gibt, dann sind die karitativen Organisationen an der Reihe. Den Opfern bleibt lediglich die Hoffnung auf humanitäre Hilfe. Das führt zu der heutigen Situation: wer Geld hat, ißt, wer keines hat, stirbt.

Sie sprechen in Ihrem Buch von "hemmungslosem globalen Kapitalismus", geht der Vorwurf nun an die Globalisierung oder den Kapitalismus?

Ziegler: Bei der Globalisierung handelt es sich um technische Vorgänge. Schuld ist vor allem der Raubtierkapitalismus, der sich nur an der Profitmaximierung orientiert und jeden Gedanken der Solidarität als archaisches Ressentiment abstempelt.

Das, was wir heute Raubtierkapitalismus nennen, hieß im 19. Jahrhundert Manchester-Kapitalismus. Das Problem ist also schon über hundertfünfzig Jahre alt.

Ziegler: Ja, aber heute ist er weltweit vernetzt! Gegen den Manchester-Kapitalismus hat es Widerstand gegeben, etwa in Form der Gewerkschaften, der Sozialdemokratie oder der Nationalstaaten.

Nationalstaat als Widerstand gegen Kapitalismus?

Ziegler: Ja, sicher. Der Nationalstaat drückt den Volkswillen aus und gewährt seinen Bürgern soziale Sicherheit. Heute gibt es ihn als wirtschaftliches Subjekt leider nicht mehr. Schröder etwa steht doch im Bann der Börsenkurse aus New York, London und Frankfurt.

Emanzipierte Nationalstaaten sehen sie also als Bollwerk gegen den Hunger?

Ziegler: Natürlich. 100.000 Menschen sterben am Hunger jeden Tag. 828 Millionen sind permanent schwerst unterernährt. Und das auf einer Welt, die von Gütern überfüllt ist.

Das heißt, das Konzept, das man im Europa des 19. Jahrhunderts entwickelt hat - Nationalstaaten gegen Kapitalismus - wäre auch eine Lösung für einige der drängendsten Probleme der dritten Welt.

Ziegler: Ja, wenn die Staaten dazu nur die Möglichkeit erhielten.

Birgt dann demzufolge auch der Rückbau der Nationalstaaten in Europa die Gefahr einer noch hemmungsloseren Ausbreitung des Raubtierkapitalismus?

Ziegler: Aber absolut. Der Zerfall des Nationalstaates bringt den Zerfall des Gesellschaftsvertrages und die Atomisierung des Bürgers mit sich. Nicht zuletzt geht die Aufklärung zu Ende: Die republikanische Staatsform lebt ja vom souveränen Bürger, von den Grundwerten der Volkssouveränität, der Regierung durch Delegation. Wenn die Regierung keine Macht mehr hat, dann bleibt auch der Bürger ohnmächtig dem Raubtierkapitalismus ausgeliefert.

Das heißt, der Bürger entwickelt sich vom Staatsbürger zum vermaßten Konsumenten.

Ziegler: Genau.

Betrachten Sie diesbezüglich die Eidgenossenschaft ob Ihrer Staatsbürgerlichkeit als Zukunfts-, oder ob ihres Kapitalismus als Auslaufmodell?

Ziegler: Die Schweizer Herrschaftsform ist leider eine Bankenoligarchie. Wir sind, betrachtet man das Pro-Kopf-Einkommen, das reichste Land der Welt, und das, obwohl wir gar keine Rohstoffe haben. Unser Reichtum sind die Großbanken und das Schweizer Bankgeheimnis. In ihre Kanäle strömt das Geld aus aller Welt: Das Fluchtkapital und die Korruptionsgelder aus der dritten Welt, das Steuerhinterziehungskapital aus der ersten Welt und das kriminelle Kapital aus Osteuropa. All das wird in der Schweiz gehortet, gewaschen und fruktifiziert. Das ist der Grund, warum die Schweizer Großbanken - nicht die Bürger - um gar keinen Preis in die EU wollen. Denn dann wäre es vorbei mit dem Bankgeheimnis und den Nummernkonten. In die Uno wollen sie deshalb nicht, weil sie dann die Sanktionen, etwa gegen Saddam Hussein und andere Halunken, mittragen müßten: Aus wäre es mit den Exklusiv-Geschäften! Südafrika zum Beispiel hat trotz Uno-Boykott Jahrzehnte überlebt, weil die Schweizer Banken den Boykott ständig durchbrochen haben.

Die Schweiz begann nicht mit den Banken, sondern mit dem Rütli-Schwur. Wieso hat dann das kapitalistische Banken-Prinzip über das Urprinzip der Staatsbürgerlichkeit gesiegt?

Ziegler: Die erste Eidgenossenschaft datiert tatsächlich - auch wenn das ein paar Historiker bestreiten - ins Jahr 1291. Die Kontrolle der Alpenpässe durch die Urschweizer-Bauerngenossenschaften ermöglichte eine erste, bescheidene Kapitalakkumulation. Richtig los ging es aber erst nach 1933: Die Schweizer Bankiers waren Hitlers Hehler. Dank dem deutschen Raubgold wurden Schweizer Banken zu Finanz-Weltmächten.

Der entschiedenste Vertreter dieser Schweizer nationalen Staatsbürgerlichkeit war wohl der Schriftsteller Gottfried Keller. In seinen Geschichten von den "Leuten von Seldwyla" geißelt er immer wieder das Umsichgreifen des Kapitalismus. Wäre eine stärkere Rückbesinnung der Schweizer auf diese Leitkultur eine mögliche Antwort auf die heutige Erziehung der jungen Menschen zu Konsumenten?

Ziegler: Es gibt keine Schweizer Leitkultur. Das Wort riecht nach rassistischer Überheblichkeit. Dazu kommt, daß Banken keine Kultur schaffen. Nur Profit. Gottfried Keller war ein ganz hervorragender, kluger Schriftsteller. Aber er hat eine Schweiz beschrieben, die es nie gegeben hat: das freiheitliche, basis-demokratische, sozial gerechte Gemeinwesen.

Sie haben mit Ihren Büchern zu dieser Problematik viel Aufsehen erregt. Haben sich die Probleme dadurch gebessert?

Ziegler: Nein, aber es wurde Bewußtsein geschaffen.

Hat man bezüglich der Debatte um das "Nazi-Gold" die Verwicklung der Schweiz mit dem Nationalsozialismus aufgearbeitet, oder wurde mit dem Einlenken der Banken einfach der schnellste Ausweg aus dem Thema gewählt?

Ziegler: Die Schweizer sind Weltmeister im Verdrängen. Die Rückweisung von 10.000 jüdischen Flüchtlingen an der Schweizer Grenze ab 1942, die milliardenschwere Goldwäsche im Dienst der Massenmörder von Berlin etc. sind nach kurzer Debatte bereits wieder aus dem Kollektivgedächtnis verschwunden.

Hat die Debatte dem Schweizer Nationalbewußtsein Schaden zugefügt?

Ziegler: Im Talmud von Babylon steht der Satz: "Die Zukunft hat eine lange Vergangenheit". Natürlich hat das helvetische Kollektivbewußtsein durch die Unfähigkeit, das Geschehene zu erkennen, schwersten Schaden genommen. Ich halte das für nachteilig. Die Schweiz hat eine demokratische Zukunft verdient.

Ein Problem unserer Epoche: Wie kann man aufklären, ohne das Selbstvertrauen in ein Land zu zerstören?

Ziegler: Aufklärung stärkt die Kollektivpersönlichkeit und fördert das Selbstvertrauen. Intransparenz und wissentliche Lüge zerstören sie.

Wie sehen Sie die Zukunft der Schweiz?

Ziegler: Entweder ein verkommenes Off-shore-Paradies, ein korruptes Albanien der Alpen - oder eine demokratische Nation im föderalistisch organisierten Europa. Für die zweite Lösung kämpfe ich.

Überall erstarken die Regionen: Osteuropa, Norditalien, Österreich, Schottland. Ist die Schweiz die "erste Region" Europas?

Ziegler: Nein, sie ist eine Eidgenossenschaft. Regionen sind ethnozentrische Gebilde, und die sind gefährlich. Denn zwischen ihnen werden wirtschaftliche Gefälle und soziale Ungerechtigkeit geschaffen. Umberto Bossi und die Lega Nord in Italien sind ein Rückschritt, weil sie den Süden des Landes in die Armut zurückstoßen.

Die Schweiz hat ein in Europa einmaliges Regierungssystem, das unabhängig von Wahlergebnissen nach einem "goldenen Schlüssel" die Macht unter allen Parteien aufteilt. Ist das ein Modell, das die demokratische Auseinandersetzung befördert oder gehemmt hat?

Ziegler: Der helvetische Betonkonsens hemmt die demokratische Auseinandersetzung. Er ist verantwortlich für die Versteinerung des Landes. Aber die helvetische Nomenklatura ist für einen Systemwechsel viel zu träge. Am Pfründetrog laben sich praktisch alle Nomenklaturisten.

Wie beurteilen Sie den umstrittenen Rechtspolitiker Christoph Blocher und seine konservative Schweizer Volkspartei (SVP)?

Ziegler: Er ist ein interessanter Mann mit total reaktionären Ideen.

Blocher wird mit Haider verglichen - zu Recht?

Ziegler: Nein, zu Unrecht. Blocher hat seine vielen hundert Millionen Schweizer Franken selbst erarbeitet und selbst erspekuliert. Haiders Vermögen dagegen stammt aus jüdischen Menschen gestohlenen, sogenannten "arisierten" Landgütern.

Wie hat man in der Schweiz die Regierungsbeteiligung der FPÖ in Wien beurteilt und wie den, inzwischen ja aufgehobenen, EU-Boykott gegen Österreich?

Ziegler: Es herrscht in der Schweiz eine große Sympathie für die österreichische Nation. Haider finden die meisten Leute jedoch unmöglich, wegen seiner Nazi-Sprüche und seiner xenophoben Politik. Boykott nutzt nichts. Aufklärung hilft. Hoffentlich kommen bald Neuwahlen.

Auch in der Schweiz gab es eine Kampagne "gegen Rechts".

Ziegler: Rassisten, Skinheads und andere Trottel gehören, wenn sie gewalttätig werden, ins Gefängnis.

In Deutschland gibt es die Forderung, nach Schweizer Vorbild Volksabstimmungen einzuführen. Wie beurteilen Sie die Volksabstimmungspraxis in der Schweiz?

Ziegler: Sie ist ein unverzichtbarer Bestandteil lebendiger Demokratie, denn direkte Demokratie stellt immer einen Gewinn an Demokratie dar.

Die Schweizer Armee ist seit Jahren Gegenstand heftigen Streits und auch verschiedener Volksabstimmungen. Immer wieder geht es um die Frage von Auslandseinsätzen im Rahmen der UNO.

Ziegler: Die sündhaft teure, weitgehend nutzlose Schweizer Armee könnte wenigstens in solidarischen, friedenserhaltenden Auslandseinsätzen ein wenig Sinn zurückgewinnen. Blocher und die SVP sind dagegen. Was beweist, daß solche Auslandseinsätze vernünftig sind.

 

Prof. Dr. Jean Ziegler geboren 1934 in Bern. Von 1987 bis 1999 Nationalrat der Sozialdemokratischen Partei (SP) im Schweizer Parlament. Ziegler erlangte mit seinen Büchern als der profilierteste Kritiker der Schweiz internationale Bekanntheit. Heute lehrt er als Soziologe an der Universität Genf und an der Sorbonne/ Paris.

Wichtigste Veröffentlichungen: "Die Schweiz wäscht weißer" (Droemer & Knaur,1992), "Die Schweiz, das Gold und die Toten" (Bertelsmann, 1997), "Die Barbaren kommen. Kapitalismus und organisiertes Verbrechen" (Bertelsmann, 1998)

 

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