© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    33/02 09. August 2002

 
Der Kongreß der Weißwäscher
von Roland Baader

Bezeichnenderweise geht den meisten Bürgern der westlichen Welt erst heute, ein oder zwei Menschenalter zu spät - und erst nach dem Erscheinen von Büchern wie Courtois' "Das Schwarzbuch des Kommunismus", Furets "Das Ende der Illusion", Löws "Das Rotbuch der kommunistischen Ideologie" und Rothenhäuslers/Sonder- eggers "Erinnerung an den Roten Holocaust - Der Jahrhundertverrat der Intellektuellen" - ein Licht darüber auf, welche unbeschreiblichen Verbrechen und Menschenvernichtungen im 20. Jahrhundert begangen worden sind; und zwar nicht nur im Zeichen des zwölf Jahre währenden braunen Sozialismus (Nationalsozialismus), sondern auch im Namen des siebzig Jahre währenden roten Sozialismus. "Bezeichnend" ist das deshalb zu nennen, weil damit deutlich wird, daß die Intellektuellen der westlichen Welt - vor allem aber Europas - nicht nur ihrer selbstgewählten Aufklärungspflicht fast ein Jahrhundert lang nicht nachgekommen sind, sondern die Wahrheit sogar absichtlich verschwiegen und verfälscht - und damit der Jahrhundertlüge vom edlen Sozialismus und vom unmoralischen Kapitalismus zum Sieg verholfen haben. Die immer wieder zu hörende Ausrede, auch die politischen und geistigen Eliten des Westens hätten von den wahren Vorgängen in der Sowjetunion und in der übrigen blutroten Hälfte des Globus nichts gewußt oder nur spärlich Kenntnis erlangt, ist eine fromme Legende. Schlimmer noch: Es ist eine makabre Lüge. Bei Helmut Schoeck lesen wir dazu: "Von Eugene Ionescu erschien 1977 ein Buch mit dem Titel 'Gegengift'. Ein solches braucht man, wie er im Vorwort schreibt, 'gegen die Intellektuellen', die seit 30 Jahren sich und ihr Publikum betrügen... Diesen französischen Intellektuellen [vom Schlage Sartres] lag schon vor über 20 Jahren die Dokumentation über den Archipel GULAG vor, aber sie erwiderten: Darüber muß Stillschweigen bewahrt werden, 'weil sich sonst das Bürgertum freut'... Die Londoner Times erklärte ihren Lesern, daß es sich in Frankreich keiner, der als Intellektueller gelten will, leisten könne 'rechts von Robespierre' (dem Chefterroristen der Französischen Revolution) zu stehen. Seit 1945 seien in Frankreich alle großen nicht-linken Schriftsteller, zum Beispiel Raymond Aron, "als Intellektuelle nicht zugelassen, es war unschicklich, ihre Meinung auch nur zu zitieren." (Schoeck). Jean-François Revel, einer der wenigen aufrichtigen - und gerade deshalb am meisten angefeindeten Denker Frankreichs, hat sein halbes Leben damit zugebracht, das Blendwerk der heuchlerischen Falschmelder aufzudecken. In seinem Buch "Die Herrschaft der Lüge" schreibt er: "Was die Überlegenheit des Intellektuellen über die restlichen Exemplare des Homo Sapiens ausmacht, das ist seine Tendenz, nicht nur aus Faulheit die Erkenntnisse zu vernachlässigen, über die er verfügt, sondern sie sogar absichtlich zu vernichten, wenn sie die Thesen, die er verbreiten will, stören...

So glaubt man im allgemeinen, daß die Linksintellektuellen im Westen die wahre Natur der Sowjetunion noch lange nach Beginn unseres Jahrhunderts [des 20. Jahrhunderts] verkannten, da sie ja so erfüllt waren vom legitimen und großzügigen Vertrauen in die Qualitäten des neuen Regimes und dann von der stalinistischen Zensur und Propaganda getäuscht wurden. Diese Erklärung ist falsch... Die höchsten politischen und intellektuellen Verantwortungsträger im Sozialismus der damaligen Zeit [in Frankreich] wußten schon [1918] alles über den sowjetischen Despotismus, da ja fast das gesamte System bereits im ersten Jahr seines Bestehens installiert wurde. Was geschieht 1918 und 1919? Die französischen Sozialisten beginnen, die Wahrheit abzulehnen." Als eines von vielen Beispielen schildert Revel, wie im Januar 1918 eine Gruppe der SFIO (der französischen Sektion der Arbeiter-Internationale) gegen die Beschreibungen des bolschewistischen Terrors in der kommunistischen Zeitung L'Humanité protestierte und damit erreichte, daß solche Reportagen nicht mehr gedruckt wurden. "Auf diese Weise", so Revel, "führt die Linke... die Tradition der Zensur ein, die bis in unsere Tage blühen wird, in verschiedenen Dosierungen je nach der Glaubwürdigkeit, zunächst zugunsten der UdSSR, dann von China, von Kuba, von Vietnam, von Kambodscha, von Angola, von Guinea, von Nikaragua und von zahlreichen Ländern, die in der dritten Welt das Etikett 'sozialistisch' tragen. Ein Jahr später werden die Grausamkeiten, die bei der Liga der Menschenrechte als bewiesen gelten, zum Gegenstand einer zynischen Walzmaschine, die sie versteckt, oder ausgekochter Interpretationen, die sie rechtfertigen. Die beiden Historiker der Französischen Revolution, die am meisten Autorität besitzen, Alphonse Aulard und vor allem Albert Mathiez, verzeihen den Bolschewiken ihre Massenexekutionen mit Hilfe der gleichen Argumente, mit denen sie die Schreckensherrschaft von 1793 und 1794 entschuldigen, ja rühmen."

Mit der Verschlimmerung des bolschewistischen Terrors trat bei den westlichen Intellektuellen keineswegs eine Besinnung ein. Im Jahr 1932 reiste zum Beispiel das britische (sozialistische) Ehepaar Sidney und Beatrice Webb nach Rußland. Es war das Jahr, in dem Stalin den Genozid an den Kulaken - an Millionen von Bauern, meistens Ukrainern - durchführte, weil sie sich der Kollektivierung widersetzten. Weil die anfänglichen Erschießungen zu viel Zeit in Anspruch nahmen, wählte Stalin die Hungersnot als Ausrottungsmittel und ließ alle Straßen und Schienenwege in die Kulakengebiete sperren und den Bauern sämtliche Lebensmittel, die Treibstofftanks, das Saatgut und alle Tiere wegnehmen. Die Zahl der Hungertoten wird auf sechs bis zehn Millionen geschätzt. Die Webbs reisten während des Höhepunktes der Hungersnot - Ende 1932 und Anfang 1933 - durch die Ukraine. Sie müssen grausige Bilder gesehen haben. Gleichwohl verkündeten sie nach ihrer Rückkehr, die Hungersnot sei eine Erfindung der Anti-Kommunisten. Es gebe in der Sowjetunion weder eine geplante noch eine ungeplante Hungersnot.

Derselbe "Geist", der noch immer fast ausschließlich von links weht, schreibt auch heute - am Anfang des 21. Jahrhunderts - das Chaos im nachsowjetischen Rußland nicht dem siebzigjährigen sozialistischen Totalitarismus zu, sondern dem "Versagen der Marktwirtschaft".

Mit Beispielen solcher Art würden sich ganze Bibliotheken füllen lassen. Ja, die Medien- und Publikationslandschaft des gesamten 20. Jahrhunderts ist ein einziges Giga-Beispiel für den Lug und den Trug, der sich um die Weltkatastrophe namens Sozialismus rankt, und für die fahrlässige und absichtliche Blindheit der intellektuellen Gefolgschaft gegenüber den schlimmsten Verbrechen der Menschheitsgeschichte.

Sogar die sechzig Millionen Toten im Gefolge von Maos "großem Sprung nach vorn" sind in den westlichen Medien und von den sich in diesen Medien massenweise tummelnden Intellektuellen 25 Jahre lang vertuscht worden. Aber auch danach wurde das Geschehen nur mit ein paar lapidaren Nebensätzen abgetan. Und als nach dem Rückzug der USA aus Südostasien die Killing Fields in Vietnam und Kambodscha kamen, war dieser größte Holocaust der Weltgeschichte nach Hitler der akademischen Jugend kein Sterbenswörtchen wert; und natürlich schon gar keine Großdemonstration von der Art, wie sie sie zuvor mit ihrem "Ho-Ho-Ho-Chi-Minh"-Geschrei gegen die USA veranstaltet hatten.

Bis zum heutigen Tag haben die sozialistischen Verbrecherregime, die im 20. Jahrhundert den Globus umspannten, weder eine belehrende noch gar eine bekehrende Wirkung auf die politischen und intellektuellen Eliten gezeitigt, auch nicht in Deutschland, wo die Intel-
ligenzler das östliche Gefängnis für die eigenen Landsleute 40 Jahre lang vor der Nase hatten. Obwohl sie heute wissen - und die meisten wußten es schon lange -, daß das SED-Regime 26 Haftanstalten unterhalten hat, in denen politische Gefangene unbezahlte Zwangsarbeit leisten mußten; obwohl sie wissen, daß der deutsche "Arbeiter- und Bauernstaat" insgesamt 350.000 "politisch andersdenkende" Menschen eingekerkert hatte, von denen fast 100.000 die Torturen nicht überlebt haben; obwohl sie wissen, daß die DDR-Hymne nicht "Auferstanden aus Ruinen", sondern "Niedergewirtschaftet zu Ruinen" hätte lauten müssen; obwohl sie wissen, daß die Landsleute im Osten um die Früchte ihrer gesamten Lebensarbeit gebracht wurden und daß die "Friedensarmee" - bis hinunter zu den Betriebskampftruppen - nicht für die Verteidigung, sondern für den Angriff getrimmt wurde; obwohl sie also das alles wußten - oder spätestens heute wissen, hat sich der Sklavenstaat DDR bei den meisten deutschen Intellektuellen lediglich von einem Hoffnungs-Modell in ein Nostalgie-Modell verwandelt. Seit dem Mauerfall tragen sie Trauer - die einen offen, die anderen heimlich.

Schon immer ist ein Erkennungszeichen der linken Intellektuellen - und das heißt: der Mehrheit der Intellektuellen - die monströse Einseitigkeit ihrer Urteile und Aktionen gewesen. Als beispielsweise das Allende-Regime in den Jahren 1970 bis 1973 Chile in eine marxistische "Volksdemokratie" umwandeln wollte, rührte sich kein Lüftchen im deutschen Blätterwald oder auf den europäischen Mattscheiben. Weder als die 150-jährige Demokratie Chiles zerschlagen wurde, noch als Allende seine schriftliche Garantieerklärung zur Wahrung der Verfassung brach; weder als die Banken und großen Unternehmen verstaatlicht wurden noch bei der gewaltsamen Besetzung von Farmen und mittelständischen Betrieben; weder als linksextremistische Banden das Land terrorisierten und Tausende von Opfern hinterließen, noch als der Flüchtlingsstrom der vor den Allende-Häschern brutal Verfolgten auf zweihunderttausend Menschen angeschwollen war.

Weder als die Inflation auf mehr als siebenhundert Prozent hochgeschossen war noch als fünfzehntausend marxistische Extremisten aus aller Herren Länder nach Chile strömten, um mit Hilfe einer illegalen Armee und eingeschmuggelter Waffen den gewaltsamen Umsturz zum "Vollsozialismus" zu vollenden. Doch als dann die chilenische Armee unter der Leitung von General Pinochet eingriff, um dem Spuk im letzten Moment ein Ende zu setzen, da ging ein Sturm der Entrüstung durch die westliche Medienlandschaft. Und in den Jahren danach waren die Verfolgungsaktionen des Militärs gegen jede einzelne Person eine Demonstration in deutschen Städten wert. Nicht anders war es bei den Vorgängen in Südafrika. Und auch aktuell läßt jeder noch so einseitige Bericht über die "Kinderarmut" in den "kapitalistischen Ländern" die moralischen Zornesadern eines jeden intellektuellen Gutmenschen anschwellen, während denselben Leuten die Tatsache, daß unter der brutalen Terrorherrschaft der satanischen sozialistischen Popanze in Nordkorea Hunderttausende von Kindern buchstäblich verrecken, kein Sterbenswörtchen entlockt. Wenn überhaupt, dann redet man von "Dürre" und von "Mißernten", keineswegs aber von der Vernichtungs- und Verelendungswucht des Sozialismus / Kommunismus und von der menschenverachtenden und alle Grenzen sprengenden Machtgier der sozialistischen Führer und Parteibonzen.

Jede noch so freie und wohlhabende Nation oder jede noch so gemäßigte Regierung, die als "bürgerlich-kapitalistisch" gilt, ist in den Augen der kritischen Geister eine Hölle, und jede noch so grausame und menschenvernichtende sozialistische Gewalt- und Terrorherrschaft gilt als Paradies, das nur "noch nicht so ganz ideal funktioniert", weil es die bösen Kapitalisten der Welt angeblich nicht funktionieren lassen - oder weil es sich dabei um einen noch mit Fehlern behafteten "ersten Versuch" handelt. Man kann es nicht glauben, und doch ist es wahr: Als die "rote Sahra", die PDS-Politikerin Sahra Wagenknecht - auf Einladung der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz - auf der 1. Mai-Kundegebung 2000 in Zürich teilnahm und den Versammelten zurief: "Lassen wir uns doch nicht einreden, daß der Kapitalismus unüberwindbar sei, nur weil der erste Versuch gescheitert ist", da hatte der Nationalrat Rechsteiner von der Schweizer Sozialdemokratische Partei (SP) nichts besseres zu tun, als sich mit fast gleichen Worten anzuschließen.

Das Weltelend des Sozialismus im 20. Jahrhundert mit vielen Hundert Millionen Toten, Eingekerkerten, Gefolterten, Verstümmelten und Vertriebenen, mit den verheerendsten Kriegen der Weltgeschichte im Namen des roten und braunen Sozialismus, und mit dem Scheitern aller sozialistischen Systeme in Armut, Knechtschaft, Hungertod, Elend, Zerfall und Bankrott: All das war also nur ein bedauerliches Scheitern des "ersten Versuchs" - auch, da unwidersprochen, für den Herrn Nationalrat des (noch) vorbildlichsten Rechtsstaats und der (noch) am wenigsten verfälschten Marktwirtschaft Europas.

Es war so, ist so, und bleibt so: Entweder die Mehrzahl der Intellektuellen schweigt die sozialistischen Höllen auf Erden tot - oder sie schreibt, redet und denkt die freiheitlichen, rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen (nicht-sozialistischen) Gesellschaftsordnungen tot. Deshalb hat auch in den sechziger bis achtziger Jahren der neomarxistische Pesthauch der "Frankfurter Schule" fast die gesamte bundesrepublikanische Lehr-Intelligenzia (und somit auch ihre Studenten) erfaßt. Und deshalb feiert der Neomarxismus im Gewand der Antiglobalisierung derzeit wieder rauschende Erfolge. Während unsägliche neomarxistische Publikationen wie Vivianne Forresters "Terror der Ökonomie" und das Hardt-Negrische "Empire" die Medien erobern und die Bestsellerlisten erklimmen ("Empire" soll in zehn weitere Sprachen übersetzt werden), fristen jene seriös-wissenschaftlichen Werke ein Schattendasein, die endlich die Leichenberge des Kommunismus aufdecken und den Schwachsinn des Marxismus freilegen - wie das genannte "Schwarzbuch des Kommunismus" oder Konrad Löws "Marx und Marxismus". Sie werden von der intellektuellen Medien-Kaste entweder "übersehen" oder mit Hohn und Spott überschüttet. Ob durch Verschweigen der Wahrheit oder durch massive Propaganda für die Ideologien der Zerstörung und der Revolution: So oder so werden Frieden, Wohlstand und Freiheit von den Intellektuellen unaufhörlich "totgedacht".

 

Roland Baader ist Diplom-Volkswirt, früherer Industriemanager, Unternehmensberater und Autor mehrerer Bücher. Bei diesem Text handelt es sich um einen - leicht veränderten - Auszug aus dem demnächst im Resch-Verlag, Gräfelfing, erscheinenden Buch "Totgedacht. Warum Intellektuelle unsere Welt zerstören".


 
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