© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   34/02 16. August 2002


Die Stunde der Wahrheit

Deutschland befindet sich in der schwersten Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten
Paul Rosen

Als die SPD-Wahlkampfplanung noch jung und frisch war, wollten die Genossen nur zu gerne das Lied vom beginnenden Aufschwung pfeifen und in den Mittelpunkt ihres gerade auf Touren kommenden Wahlkampfes stellen. Doch von Monat zu Monat verdüsterten sich die Zahlen: Die Wachstumsprognosen werden fortlaufend gesenkt, es steigt nur noch die Zahl der Arbeitslosen. Die deutsche Wirtschaft will einfach nicht in Gang und aus der tiefen Talsohle herauskommen. Jetzt laboriert Kanzler Gerhard Schröder mit den Ergebnissen der Hartz-Kommission herum, deren bunter Strauß an Vorschlägen die Rettung bringen soll.

Doch was dem VW-Manager Hartz und seinen Mitstreitern aus Arbeitgeber- und Gewerkschaftslager einfiel, ist nichts weiter als eine Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner, wie Arbeitslose schneller vermittelt werden sollen und wie mit neuen Wertpapieren - etwa dem "Job-Floater" - Geld in den Wirtschaftskreislauf gepumpt werden soll. Während Schröder das Hartz-Papier wie eine Monstranz vor sich herträgt, sieht die Realität ganz anders aus: Es gibt gar nicht genug freie Stellen in Deutschland, auf die die über vier Millionen Arbeitslose vermittelt werden könnten. Da hat CSU-Kanzlerkandidat Edmund Stoiber recht.

Allein Schröder und seiner rot-grünen Koalition die Schuld an der Misere zu geben, wäre falsch. Das System verkrustete bereits zu Helmut Kohls Zeiten. Die Überregulierung des Landes ist keine Erfindung von Rot-Grün, unter Schröder wurde sie nur auf die Spitze getrieben. Altkanzler Helmut Schmidt hat die Probleme auf den Punkt gebracht: "Arbeitslosigkeit hat nichts mit Globalisierung zu tun. Sie ist vollständig hausgemacht."

Es entstand in Deutschland ein beinahe tödlicher Kreislauf: Die Arbeitslosigkeit wurde, als sie noch niedriger war, nicht energisch genug bekämpft, zum Beispiel durch Investitionsanreize und Erleichterungen für Firmenneugründungen oder ausländisches Kapital. In der Folge stiegen die Sozialkosten, was zu höheren Beiträgen und Steuern führte. Denn irgendwelche Reserven hat der Schuldenstaat schon seit langem nicht mehr. Die steigende Staatsquote lähmte die Wirtschaft, die an frühere Wachstumsraten nicht mehr anknüpfen konnte. In der Folge entstand höhere Arbeitslosigkeit.

Die Auswirkungen bekommt Schröder jetzt zu spüren. Gingen die Herbstgutachten der Wirtschaftsforschungsinstitute des letzten Jahres von einem Wachstum von 1,3 Prozent aus, so korrigierten die Institute unisono ihre Prognosen auf unter ein Prozent. Nach Ansicht der EU-Kommission bleibt den Deutschen damit der letzte Platz erhalten.

Es sind nicht nur die steigenden Arbeitslosenzahlen, die Grund zur Sorge machen. Auch das Gesundheitssystem ist marode. Den Versicherten droht eine Zwei-Klassen-Medizin, weil die Budgets die Teilnahme von Kassenpatienten am medizinischen Fortschritt verhindern. Gleichzeitig drohen Beitragserhöhungen. Auch die Rentenbeiträge steigen trotz Ökosteuer, deren Ertrag angeblich die Kostensteigerung der Altersvorsorgebeiträge in Grenzen halten sollte.

Die steigenden Steuern und Sozialbeiträge ziehen nicht nur Kaufkraft ab, sondern erhöhen die Arbeitsplatzkosten. Ausländische Investoren gehen lieber nach Irland statt in die Bundesrepublik, wo die Einhaltung eines aus besseren Zeiten stammenden Flächentarifvertrages wichtiger ist als eine gute Unternehmensbilanz. Die Folge ist ein Pleitenrekord. Gingen letztes Jahr 32.400 Unternehmen konkurs, dürften es in diesem Jahr weit über 40.000 sein.

Ein Grund für den wirtschaftlichen Niedergang liegt in der Einführung des Euro: Die Preise und besonders die Arbeitsplatzkosten sind vergleichbar geworden. Jetzt haben andere Länder einen Vorteil selbst dann, wenn man die höhere deutsche Produktivität mitberechnet. Der deutsche Abstieg hat auch mit einem anderen Punkt zu tun: der Wiedervereinigung. Die staatlichen Kosten dafür sind so exorbitant hoch, daß sie den Staat in eine Finanzkrise mit dem Zwang zu Steuererhöhungen getrieben haben, die wiederum das Wachstum lähmten. Damit keine Mißverständnisse entstehen: Die Einheit war nicht der Grund der heutigen Wirtschaftskrise. Ihre Kosten haben nur die Entwicklung beschleunigt.

Im Inland treibt die Kostenexplosion nur noch die Schwarzarbeiter zu immer größeren Leistungen an. Der Normalverdiener läßt sein Auto schwarz reparieren und die Wohnung tapezieren, ohne daß Rechnungen ausgestellt werden. Folge: Die Finanzämter kriegen immer weniger. Dafür hat aber auch die rot-grüne Steuerreform gesorgt, die den großen Unternehmen heftige Steuergeschenke bescherte. Stoiber berichtete kürzlich, alle in München ansässigen acht im DAX notierten Unternehmen von Allianz bis Siemens hätten in diesem Jahr noch keinen Cent Körperschaftssteuer bezahlt. Es sei merkwürdig, daß sich die SPD mehr um Dividenden statt um die kleinen Leute kümmerte, spottete der CSU-Chef.

Mit den schlechtesten Bilanzen der Nachkriegszeit kann Schröder, der 1998 angetreten war, um nicht alles anders, aber vieles besser zu machen, keine Wahl mehr gewinnen. Daher schüttelte der Kanzler die Hartz-Kommission wie einen Joker aus dem Ärmel. Schröder, der den Wahlkampf ohnehin für eine große Pokerrunde hält, will Stoiber damit auf eine virtuelle Ebene locken. Neue Begriffe werden kreiert wie die "Ich-AG" oder der "Job-Floater". "Das ist Wahlkampf pur und hat nichts mit seriöser Arbeitsmarktpolitik zu tun", schimpft Stoibers Wirtschaftsexperte Lothar Späth.

Die deutschen Probleme lassen sich nicht lösen, indem man, wie Hartz es vorschlägt, aus Arbeitsämtern "Job-Center" macht. Die richtigen Rezepte sind bekannt, haben in den USA und in Großbritannien bereits ihren Praxistest bestanden. Sie bestehen in einer großangelegten Senkung der Einkommensteuern und in einer durchgreifenden Entbürokratisierung. Zudem müssen, auch wenn es unbequem ist und vor den Wahlen sich keine Partei die Wahrheit zu sagen traut, die Sozialleistungen gesenkt werden. Zwar sagen Union und SPD seit langem, daß sich Arbeiten wieder lohnen muß und Arbeitslose nicht mehr Geld erhalten dürfen als Arbeitende. Doch beide Parteien nutzten ihre Regierungszeit nicht, um wenigstens diese Ankündigung auch umzusetzen.

Von den anderen notwendigen Schritten, etwa im Gesundheitssystem oder bei den Rentenansprüchen, wird erst gar nicht gesprochen, obwohl sich jeder an den Fingern abzählen kann, daß die Ansprüche nicht mehr einlösbar sind, weil es an den jungen Leuten fehlt, die später So-zialbeiträge zahlen. So tingeln Schröder und Stoiber durch die Lande und machen einen Gefälligkeitswahlkampf. Die Wahrheit, die sie kennen müßten, sagen sie den Wählern nicht.


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