© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/02 16. August 2002

 
"Kühne Konstruktion"

Heinrich Oberreuter, Direktor des Hannah-Arendt-Instituts, über das NPD-Verbot, die DDR und "political correctness" 
Moritz Schwarz

Herr Professor Oberreuter, das Verbotsverfahren gegen die NPD scheint, nach der jüngsten Weigerung der Verfassungsschutzämter, die Identität ihrer V-Männer vor Gericht preiszugeben, einen stillen Tod zu sterben. Rechnen Sie mit der endgültigen Einstellung des Verfahrens?

Oberreuter: Das läßt sich derzeit beim besten Willen nicht verläßlich vorhersagen. Denn hier stehen verschiedene Interessen gegeneinander: Erstens, das der Antragsteller, die das Verfahren zu Ende führen wollen, dabei aber ihre Informationsquellen schützen möchten. Zweitens, das der NPD, die dem Verfahren unterstellt, daß es auf Informationen beruhe, die nur mit Hilfe von agent provocateurs erlangt werden konnten und daher dessen Rechtsstaatlichkeit in Zweifel ziehen. Drittens, die Öffentlichkeit, die insofern berührt ist, als bei diesem Verfahren ein vergleichsweise hohes Maß an Quellenschutz gewahrt werden soll und damit möglicherweise nicht transparent genug ist, wieso das Verfassungsgericht schließlich zu seiner Entscheidung kommt. Solange aber die Antragsteller den Antrag nicht zurückziehen, wird das Verfassungsgericht eines Tages Recht sprechen müssen - und zwar so oder so.

Dennoch scheint der Staat derzeit über die eigenen Füße gestolpert zu sein?

Oberreuter: Wir bewegen uns eben in einem verfassungsrechtlichen Grenzbereich, denn jedes Parteiverbotsverfahren ist nur auf der Basis der Denkfigur der wehrhaften Demokratie möglich. Das Bundesverfassungsgericht hat schon zu Beginn seiner Rechtsprechung von einer "bewußten verfassungspolitischen Grenzentscheidung" gesprochen. Eine Maßnahme wie das Verbot von Parteien findet man schließlich in den Verfassungssystemen anderer Staaten so gut wie gar nicht. Ihre Existenz verdankt diese Klausel bekanntlich der geschichtlichen Erfahrung der Deutschen im 20. Jahrhundert. Deshalb hatten sich die Väter des Grundgesetzes beschlossen, einen bestimmten zivilisationsstiftenden Verfassungskern als unverrückbar festzuschreiben und ein Instrumentarium - vom Verfassungsschutz bis hin zur Möglichkeit des Parteienverbots - bereitzustellen, um diesen Verfassungskern notfalls zu verteidigen.

Was aber eigentlich dem Prinzip der Volkssouveränität entgegensteht.

Oberreuter: In der Tat darf das Volk nicht machen, was es will: die Verfassung zwingt es zu einer gewissen Zivilisationstreue. Wir befinden uns in der Tat in einer demokratietheoretisch widersprüchlichen Situation. Deshalb ist es entscheidend, daß die Maximen pluralistischer und zugleich wehrhafter Demokratie für das Operieren in dieser Zone gelten. Die Antragsteller des NPD-Verbotes behaupten, diese eingehalten zu haben.

Nachprüfen kann das die Öffentlichkeit aber nicht?

Oberreuter: Schwerlich, das ist gerade Sache des Gerichts. In den USA würde ein solches Vorgehen Mißtrauen hervorrufen. Ein amerikanischer Kollege hielt mir bei einem Vortrag in Indianapolis einmal entgegen, Deutschland sei ein "unfreies Land". Auf meine Nachfrage hin begründete er dies mit dem unter Strafe stellen bestimmter historischer Ansichten - konkret meinte er das Auschwitzproblem. - Da läuft es einem kalt den Rücken runter.

Völlige Freiheit und unbedingte Volkssouveränität stehen also im Widerspruch zum Verfassungskern, was allerdings zu einem besonders verantwortungsvollen Umgang mit dem Verfassungsschutzinstrumentarium verpflichten sollte. Anlaß für das NPD-Verbotsverfahren war das Bombenattentat auf mehrere russischstämmige Juden an einer Düsseldorfer S-Bahn-Haltestelle im Sommer 2000, dessen Verantwortliche man aber bis heute nicht kennt - nur soviel scheint sicher, von rechtsradikalen Tätern geht die Polizei schon lange nicht mehr aus. Die Politiker haben offenbar damals der aufgeheizten "Gegen-Rechts"-Stimmung in den Medien Rechnung getragen. Ist ein solcher Populismus aus politikwissenschaftlicher Sicht nicht höchst bedenklich?

Oberreuter: In der Tat ist es nur dann zu verantworten, zu diesem schwersten Geschütz aus dem Arsenal der wehrhaften Demokratie zu greifen, wenn es aus verfassungspolitischen Gründen verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann. Und ich bin mir bei der Einleitung dieses Verbotsverfahrens - und das ganz unabhängig von Düsseldorf - nicht ganz sicher, ob nicht der ein oder andere Politiker, der damals für die Aufnahme des Verfahrens geworben hat, in Wirklichkeit nur von anderen politischen Problemen ablenken wollte. Andererseits kann ich es auch nicht gutheißen, wenn die Verfassungsschutzorgane ihrem Auftrag nicht nachkommen. In solchen Grundsatzfragen verbietet sich Opportunismus.

Also sind Sie für das NPD-Verbotsverfahren, halten nur die Motive für verfassungsrechtlich bedenklich?

Oberreuter: Wenn die Verfassung tatsächlich von einer Partei bestritten wird und zum Extremismus der Gedanken noch ein Tatbestand der Gefährdung kommt, muß auch gehandelt werden. Allerdings muß dieser Gefährdungstatbestand auch gegeben und nicht nur herbeigeredet sein.

Stellt denn die NPD tatsächlich eine Gefährdung für die Bundesrepublik Deutschland dar?

Oberreuter: Nach den Wahlergebnissen findet die NPD praktisch keine Resonanz im Volk. Der springende Punkt in der Argumentation der Antragsteller war nicht der Extremismus der Gedanken, sondern die Öffnung der NPD für die Skinheadszene, also die Mischung aus Extremismus und Gewalt. Ob dies ein stichhaltiges oder nur ein vorgeschobenes Argument ist, kann ich nicht beurteilen.

Die Antragsteller argumentieren zudem, eine Gefahr gehe vor allem in Zukunft von der NPD aus, da diese dabei sei, durch Kaderschulung künftig eine größere politische Schlagkraft zu erringen. Ist die Annahme einer solchen Staatsgefährdung "in spe" überhaupt zulässig?

Oberreuter: Das ist eine kühne Konstruktion. Allerdings ist es natürlich jedermann unbenommen, vor Gericht die Argumente vorzubringen, die seiner Position zupaß kommen. Ihre Würdigung ist Sache des Gerichtes, die unzulässigen Argumente schließlich nicht gelten zu lassen. Auf Grund unserer historischen Erfahrung ist bei uns der Gedanke der Prävention jedoch zu Recht populär. Aber über Verfassungswidrigkeit kann nicht populistisch entschieden werden. Denken Sie zurück an die siebziger Jahre, als etwa Franz-Josef Strauß sehr undifferenziert über die Verfassungsfeindlichkeit der Grünen gesprochen hat. Etwas differenzierter bitte!

Gab es also mehr geistige Differenziertheit unter Schmidt und Kohl als unter der rot-grünen Regierung heute?

Oberreuter: Die Verhältnisse heute sind ganz andere als damals, aber sicherlich kann man sagen, daß man heutzutage dank der political correctness kaum noch irgendetwas dem mainstream Widersprechendes äußern kann, ohne sofort in die rechte Ecke gestellt zu werden. Prinzipiell bin ich der Meinung , man sollte lieber einmal zuviel repressiv sein, als sich erneut eine Diktatur einzuhandeln, aber wir vergessen zunehmend, daß ein freies Gemeinwesen von freiem Denken und Reden und von der Pluralität der Meinungen lebt, und daß selbstverständlich auch radikale Meinungen hingenommen werden müssen. Wir verkennen, daß die "intellektuelle Gleichschaltung" der political correctness der klassischen ideologischen Gleichschaltung nicht um viel nachsteht. Aber die Realität zeigt nach wie vor reiche Vielfalt.

Im Bewußtsein der Deutschen nimmt die kommunistische Diktatur der DDR einen vergleichsweise kleinen Platz ein. Das mag menschlich verständlich sein, da das NS-Regime mit Großverbrechen wie Weltkrieg und Genozid auf sich aufmerksam gemacht hat. Vom Standpunkt des Politikwissenschaftlers aber, dem es allein um demokratisches Bewußtsein gegenüber weltanschaulich wie auch immer gearteten diktatorischen Systemen geht, muß das doch beunruhigend sein?

Oberreuter: Das ist in der Tat bedauerlich, weil wir uns offenbar lieber an den Äußerlichkeiten eines Systems orientieren, als an dem grundsätzlichen Charakter diktatorischer Systeme. Das führt zu einer fragwürdigen quantitativen Bewertung der Opfer einer Diktatur: Je mehr, desto schlimmer. Dabei geht der eigentliche Unrechtscharakter der Untaten verloren. Denn vom Standpunkt von Recht und Unrecht ist das Vergehen gegen vier Opfer genauso schlimm, wie gegen 40.000 oder vier Millionen oder wie viel auch immer. Ein Unrechtsstaat ist in keinem Fall hinnehmbar! Hinzu kommt, daß wir die psychische Zerstörung, die die DDR bei vielen Menschen angerichtet hat, die sich diesem System nicht unterordnen wollten, vielfach unterschätzen und vernachlässigen. Diese Verharmlosung rührt nicht zuletzt von der Wende in der DDR-Forschung in den sechziger und siebziger Jahren her. Seit damals wurde meist vermittelt, daß dieser Staat letztlich ein moderner Industriestaat sei, wie viele andere auch. In Westdeutschland wurde von da an die Frage nach den Wertedifferenzen zur DDR gern ausgeklammert und für viele 68er war sie schließlich sogar eine demokratische Alternative zur Bundesrepublik, weil durch die Ausschaltung des Kapitalismus in der DDR die Demokratie angeblich zum Siege gekommen sei. Dem entsprach übrigens schließlich auch der große Opportunismus, den viele bundesdeutsche Politiker gegenüber der DDR an den Tag legten. Der diktatorische Charakter der DDR war im Laufe der Zeit in der politischen Kommunikation Westdeutschlands verlorengegangen. Klar, daß die Erinnerung daran mit dem Untergang dieses Staates nicht zurückgekommen, sondern ebenfalls untergegangen ist. Bis heute herrschen da keine realistischen Maßstäbe im Bewußtsein der meisten Deutschen.

Das betrifft nicht nur die DDR, sondern den Kommunismus allgemein. Erstaunlich ist, daß es außer Aldous Huxleys berühmtem Roman "Schöne neue Welt" nur noch zwei bedeutende Antiutopien gibt, nämlich George Orwells "1984" und Jewgeni Samjatins "Wir". Beide beschreiben erstaunlicherweise den Kommunismus als die perfekte, totale Diktatur. Keines der drei Bücher hält sich damit auf, vor einer Art nationalsozialistischer Diktatur zu warnen. Dennoch liest man in deutschen Schulen "1984" bevorzugt in Hinblick auf den Nationalsozialismus. Warum hat man in Deutschland die Botschaft dieser europäischen Intellektuellen bis heute nicht verstanden?

Oberreuter: Der Nationalsozialismus - so schlimm er gewesen ist - war, was die Erreichung seiner inneren Ziele betrifft, dadurch behindert, daß er einen expansiven Krieg geführt hat. Diese Anstrengung hat es ihm nicht ermöglicht, sich in dem Maße "nach innen" zu wenden, wie er das eigentlich wollte. Für eine Orwellsche Gedankenpolizei - eine perfektionierte Gestapo - fehlte dem Nationalsozialismus zu seiner Zeit einfach die Kraft. Wäre er aber nicht durch die militärische Niederlage in die Knie gezwungen worden, hätte er sich wahrscheinlich zum intendierten diktatorischen Perfektionismus weiterentwickelt.

In Deutschland beschäftigen wir uns vergleichsweise stark mit den historischen Diktaturen in unserem Lande. Künftige diktatorische Bedrohungen werden aber wohl kaum im historischen Gewand daherkommen. So wie Kommunismus und Nationalsozialismus in ihrer Zeit neue Formen der Unterdrückung waren, so wird ein eventuelles künftiges Ende der Demokratie uns ebenfalls mit Neuem überraschen. Die historische Aufarbeitung in Ehren, aber auf was müssen wir wirklich vorbereitet sein?

Oberreuter: Das ist nicht so leicht zu sagen, daher ist zunächst wichtig, zu wissen wo man herkommt. Je größer das Bewußtsein für die wirklichen demokratischen Werte ist, desto geringer ist die Gefahr, der nächsten diktatorischen Versuchung auf den Leim zu gehen. Deshalb halte ich das Studium der Geschichte auch für wichtiger, als Sie es eben dargestellt haben, denn die Geschichte bietet eine Fülle an Anschauungsmaterial, das unser "demokratisches Selbst" am besten bildet. Zu diesen Lehren gehört übrigens auch die Erkenntnis, von der sich wandelnden Vielgestaltigkeit der diktatorischen Verführung.

Besteht nicht, wie von Ihnen zuvor angedeutet, die Gefahr, daß gerade im Namen der Abwehr ideologischer Gleichschaltung à la Kommunismus oder Nationalsozialismus eine neue, intellektuelle Gleichschaltung à la Antikommunismus, Antifaschismus oder "political correctness" entsteht?

Oberreuter: Die Lehre, die wir aus der Vergangenheit ziehen müssen, heißt eben Zivilcourage zu zeigen und nicht, sich der zeitgeistkonformen political correctness zu befleißigen. Die größte Gefahr für die Demokratie ist es, ihre Grundlage zu vergessen, nämlich den Pluralismus der Meinungen und Organisationen. Deshalb stellt die political correctness auch eine so große Gefahr dar, ebenso wie das allzu leichtfertige Operieren im verfassungsrechtlichen Grenzbereich. Und nicht jeder, der eine andere Meinung hat, als wir selbst, sollte gleich über den Rand der Verfassung gedrängt werden.

Welche Gefahr bieten die neuen Dimensionen der Moderne, etwa technische Überwachung, Bildmanipulation, Massenmedien, Machtakkumulation auf nichtstaatlicher, das heißt nicht kontrollierbarer Ebene, zum Beispiel durch internationale Konzerne? Und bedeutet die Tendenz zur Globalisierung von Werten nicht das Ende des Pluralismus weltweit?

Oberreuter: Auch Ralf Dahrendorf sieht in der Globalisierung die Gefahr eines neuen Autoritarismus. Aber die Kummulierung aller von Ihnen aufgezählten Erscheinungen halte ich für zu grobflächig: Die internationalen Konzerne sind seit jeher ein Schreckgespenst, und die Einheit der Weltwertegemeinschaft wird auf Grund der kulturellen Differenzen, trotz aller Versuche, nie erzielbar sein. Die Gegenthese zur Gefahr der Globalisierung lautet für mich, auch den liberalen Wertekanon zu globalisieren, der sich im Pluralismus manifestiert. Das sind eben gerade keine einheitlichen Werte. Es ist ein Strukturprinzip, das unterschiedlichen Vorstellungen die Chance zur Realisierung bietet.

 

Prof. Dr. Heinrich Oberreuter ist Direktor des renommierten Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung in Dresden. Außerdem leitet er die Akademie für Politische Bildung in Tutzing, ist ständiger Kommentator des Bayerischen Rundfunks und Mitherausgeber der Zeitschrift für Politik. Zum Thema Demokratie, Rechtsstaat und Verfassungsverständnis veröffentlichte der Passauer Politikwissenschaftler zahlreiche Bücher. Geboren wurde er 1942 in Breslau.

 

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