© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/02 16. August 2002

 
Politik wird nur simuliert
Mecklenburg-Vorpommern: Vor der Landtagswahl am 22. September bieten das Land und die Parteien ein trostloses Bild
Annegret Kühnel

Am 22. September wird außer dem Bundestag auch der Landtag von Mecklenburg-Vorpommern gewählt. Seit 1998 regiert hier eine rot-rote Koalition. Die SPD war mit 34,4 Prozent stärkste Partei geworden, die CDU kam auf 30,2 und die PDS auf 24,4 Prozent. Grüne (2,7) und FDP (1,6) spielten keine Rolle. Die aktuellen Umfragen differieren je nach Auftraggeber. Einige prognostizieren für die SPD deutliche Verluste und sehen die CDU mit rund 40 Prozent klar als stärkste Partei. Für den Fall, daß der FDP der Wiedereinzug gelingt, wäre dann eine schwarzgelbe Koalition wahrscheinlich. Andere sehen SPD und CDU dicht beieinander und die FDP draußen. Das legt, ungeachtet der vier- bis sechsprozentigen Verluste der PDS - von denen alle Umfragen ausgehen -, eine Fortsetzung von Rot-Rot nahe.

Doch an den parteipolitischen Alternativen entzünden sich keine Debatten, der Wahlkampf im Land verläuft leidenschaftslos. Denn die offerierten Alternativen sind gar keine. Zwar ist die PDS nach vier Jahren miserabler Regierungsarbeit eindeutig "entzaubert", doch die anderen Parteien sind es auch. Wichtig sind die Wahlen nur für die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat, wo Mecklenburg-Vorpommern drei Stimmen innehat. Für die gravierenden Probleme des Landes aber hat keine Partei Antworten parat.

Die Wirtschaft in Mecklenburg-Vorpommern wird in diesem Jahr weniger als 0,5 Prozent wachsen, nachdem sie im vergangenen Jahr um 0,8 Prozent geschrumpft war. Das heißt, der Rückstand zu den alten Ländern wird größer statt kleiner. In der Einkommensstatistik steht das Land ganz hinten, in der Arbeitslosigkeit gemeinsam mit Sachsen-Anhalt ganz vorn. Die aktuelle Quote liegt bei 18 Prozent, und das trotz sommerlichen Tourismus-Gewerbes. Besonders im östlichen Teil gibt es Regionen, die sogar 25 Prozent Arbeitslose aufweisen. Ein Rezept, die nach 1989 eingeleitete Deindustrialisierung aufzuhalten, hat keine der unterschiedlichen Regierungskoalitionen seit 1990 gefunden. Erfolgreiche Neuansiedlungen wie in Sachsen oder Thüringen gibt es kaum.

Auch die Pisa-Studie brachte schlechte Kunde: Im Bundesvergleich bildet das Land mit Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Bremen - wo allerdings viele Ausländerkinder zu Buche schlagen - das Schlußlicht. Zwar macht jeder vierte Schüler in Mecklenburg-Vorpommern das Abitur - mehr als in Bayern
-, doch die gestellten Anforderungen sind offenbar niedrig. Außerdem ist der Anteil der Schüler, die die Bildungseinrichtungen ohne jeden Abschluß verlassen, hier am höchsten.

Das ökonomische und soziale Desaster hat sich zu einer demographischen Katastrophe ausgeweitet: Ungeachtet der sprichwörtlichen Bodenständigkeit der Mecklenburger und Pommern kehren viele Bewohner dem Land den Rücken und suchen anderswo Arbeit. Von über 1,9 Millionenen Einwohnern 1990 ist die Zahl auf 1,7 Millionen gesunken, Tendenz weiter fallend. Im Jahr 2000 haben 31.000 Arbeitsemigranten das Land verlassen. Die Entwicklung wird bereits mit der großen überseeischen Auswanderungswelle im 19. Jahrhundert verglichen. Der Zuzug aus dem Westen oder der Spätaussiedler gleicht die Verluste nicht annähernd aus.

Der Bevölkerungsrückgang hat direkte finanzielle Folgen, denn jede abgewanderte Person bedeutet 2000 Euro weniger aus Bundeszuweisungen und dem Länderfinanzausgleich. Geld, das den Kommunen für Investitionen fehlt, wodurch ihre Attraktivität weiter sinkt, was die Abwanderung noch mehr beschleunigt. Die wiederum führt zu einem eklatanten Facharbeitermangel, der das Land als künftigen Investitionsstandort nicht gerade interessant macht. Eine Abwärtsspirale ins Endlose.

Es sind vor allem junge Leute zwischen 18 und 30 Jahren, die weggehen, und zwar handelt es sich um die aktiven, ehrgeizigen, besser Ausgebildeten. Unter ihnen sind wiederum mehr Frauen als Männer vertreten. Die absehbaren Folgen lauten Geburtendefizit, Überalterung und das Zerreißen sozialer Beziehungsgeflechte.

Auch die Schülerzahlen sinken. Gegenwärtig gibt es rund 25.000 Schulabsolventen, bis 2010 wird sich die Zahl halbieren. 2001 wurden lediglich 9.500 Erstklässler eingeschult. Damit sinkt auch der Bedarf an Lehrern. Verstärkt suchen sich frisch ausgebildete Pädagogen Arbeit im Westen. Auch Ärzte wandern wegen der schlechten Bezahlung ab, bevorzugt nach Skandinavien. Die Hälfe aller niedergelassenen Ärzte im Lande ist jenseits der 50 und wird in absehbarer Zeit in Rente gehen, Nachfolger für sie sind nicht in Sicht. Damit dünnen gerade jene Berufsgruppen aus, aus denen sich im kleinstädtisch-ländlichen Raum die kommunale Elite rekrutiert. Darunter leiden die Parteien und Vereine, was wiederum die Verödung des gesellschaftlichen Lebens nach sich zieht.

Ein ausgesprochenes Ballungsgebiet, das als Lokomotive wirken und Abwanderungswillige an sich binden könnte, existiert nicht. Es war ein strukturpolitischer Fehlgriff des Landtags, 1990 Schwerin und nicht das doppelt so große Rostock zur Landeshauptstadt zu bestimmen. Als Regierungs- und Universitätssitz, als Hafenstadt sowie mit den Restbeständen seiner Industrie und einer gewissen Internationalität ausgestattet, hätte Rostock in eine Leuchtturmfunktion hineinwachsen können. Der Bedeutungsverlust dieser größten Stadt des Landes (und damit auch des Landes insgesamt) spiegelt sich im Beschluß der Deutschen Bahn wider, die Interregioverbindung nach Berlin wegen Unrentabilität einzustellen. Zwar ist ein privater Anbieter eingesprungen, doch der Eindruck des Prestigeverlustes bleibt.

Schwerin ist die wohl attraktivste deutsche Landeshauptstadt, kommt über den Rang eines Provinznestes aber nicht hinaus. Im Wettbewerb für einen neuen BMW-Standort unterlag es gegen Leipzig. Die Stadt macht höchstens von sich reden, wenn sie der Mecklenburgischen Staatskapelle, einem der ältesten Klangkörper Deutschlands, an dem Kurt Masur seine Laufbahn begann, die Musikerstellen zusammenstreicht.

Auch die Experten wissen keinen Ausweg. Gewöhnlich empfehlen sie den Ausbau der Infrastruktur - ein Rat, der zumindestens nicht falsch ist. Im Augenblick wird die Autobahn A 20 zwischen Lübeck und Stettin gebaut. Das bringt ein bißchen Beschäftigung ins Land, doch ob auch die erhofften langfristigen Arbeitsplätze heranrollen, steht in den Sternen. Autobahngegner haben neben dem Umweltschutz auch das Argument ins Spiel gebracht, daß der neue Verkehrsweg durchaus dazu verlocken könnte, die noch vorhandene Arbeit schnell auszulagern, ins angrenzende Polen mit seinen niedrigeren Löhnen etwa.

Andere raten, die demographische Krise hinzunehmen, da man ohnehin keine Instrumente dagegen habe, und das Negative positiv zu betrachten. Man solle doch das landschaftlich reizvolle Land zu einem Altenparadies, zu einem "deutschen Florida", machen. Auf junge Leute wirkt so eine Vision eher erschreckend. "Sterben, wo andere Urlaub machen", höhnte die Gewerkschaftsjugend am 1. Mai. Einig sind sich alle, daß die Landespolitik, wer immer sie auch gestaltet, machtlos ist.

Gegen solche nüchternen Befunde setzten die Parteien geschäftige Wolkenschieberei. Das Arbeitsministerium des PDS-Ministers Helmut Holter verweist auf eine "Rückholagentur" namens "MV 4 you", die vom Land mit 250.000 Euro bezuschußt wird. Sie war angetreten, junge, ausgebildete Abwanderer ins Land zurückzulocken, doch das Wichtigste: Arbeitsplätze, kann sie auch nicht bieten. Zurückgeholt wurden bisher nur ein halbes Dutzend Leute. Im übrigen macht das PDS-Ministerium ausschließlich durch Korruptionsvorwürfe, familiäre Mauscheleien und die Beschäftigung alter Stasi-Mitarbeiter von sich reden.

Gewiß, auch in Sachsen und Thüringen ist die Lage nicht rosig, aber dort haben Biedenkopf, Späth und Vogel der Entwicklung wenigstens eine positive Richtung gegeben. Der Schweriner Ministerpräsident Harald Ringstorff wirkt dagegen wie nicht ganz von dieser Welt und setzt damit eine von seinen CDU-Vorgängern Gomolka und Seite begründete Tradition fort. Als größten Erfolg seiner Amtszeit nennt er die Fortschreibung des Solidarpakts. Daß sein Gegenkandidat, der CDU-Fraktionschef Eckard Rehberg, der auch schon seit 1990 in der Landespolitik mitmischt, das Blatt wenden kann, glaubt im Ernst niemand.

Stellt sich die Frage, wozu es die Parteien hier überhaupt braucht. Nun, vor allem brauchen sie sich selber. In dieser autistischen Funktionszuschreibung herrscht blockparteiliche Einigkeit. Ein Beispiel: Im vergangenen Jahr hatten sich CDU und SPD über Zeitungsanzeigen eine läppische Auseinandersetzung geliefert. Die Aktion hat die Staatsanwaltschaft auf den Plan gerufen, die dem Verdacht nachgeht, daß dabei Fraktionsgelder durch die Landesverbände mißbraucht worden sind. Im Mai wies der Landtag die Anträge auf Aufhebung der Immunität mehrerer Abgeordneter ohne vorherige Debatte zurück. Dafür wurde ein fraktionsübergreifender Antrag angenommen, der vom rechtspolitischen Sprecher der - unmittelbar gar nicht betroffenen - PDS eingebracht wurde. Mit der Arroganz der Macht behalten die Parteikader sich weiterhin das Recht vor, "politische Standpunkte öffentlich zu vermitteln". Fragt sich nur, welche und zu welchem Zweck, da sie zu den wirklich relevanten Fragen ohnehin nichts zu sagen haben. Ein CDU-Justizminster kritisierte bei dieser Gelegenheit seinen Nachfolger, weil der die Staatsanwälte nicht rechtzeitig zurückgepfiffen habe. Ein hübsches Verständnis von der Gewaltenteilung!

Im Grunde macht die Existenz eines Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern keinerlei Sinn. Ohne ökonomische und finanzielle Grundlage, bietet es keine Möglichkeiten für eine Landespolitik, die ihren Namen verdient. Das Land bleibt ein Appendix des Bundes. Ein solcher Wurmfortsatz aber braucht weder Staatskanzlei noch Ministerien und Landtag, erst recht keine Landesvertretung in Berlin und keine Parteistiftungen. Diese aufgeblähten Apparate nutzen allein den hier beschäftigten Politiksimulanten: Ministern, Abgeordneten, Beamten und Angestellten, die eine Menge Geld kosten.

Und die immer neuen Beschwörungen einer Trendwende und eines "Aufschwungs Ost" gehen an den Tatsachen vorbei. Ehe in den neuen Ländern eine Besserung auf dem Arbeitsmarkt denkbar ist, müssen nach Expertenrechnung erstmal noch 300.000 Mitarbeiter in der Bauindustrie entlassen werden, die während des durch Steuerabschreibungen und Subventionen ausgelösten - mittlerweile abgeflachten - Baubooms eingestellt wurden. Es wird mindestens noch 20 Jahre dauern, bis die neuen Länder zu den schwächeren Ländern des Westens aufgeschlossen haben. In Mecklenburg-Vorpommern wird das - einem alten Sprichwort gemäß - womöglich hundert Jahre länger dauern.

Vielleicht sollte man doch die Florida-Idee aufgreifen und sogar radikalisieren, das heißt, Mecklenburg-Vorpommern gezielt als eine Art subventionierten Ruheraum kultivieren, in dem Landschaftspflege an die Stelle herkömmlicher ökonomischer Effizienz tritt, ergänzt um einige High-Tech-Standorte und elitäre Bildungseinrichtungen. Eine solche Region wäre ein Komplementärstück zu den zubetonierten Industriegebieten in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. Bevor solche Alternativen ernsthaft offeriert werden können, müssen Philosophen, Gesellschaftstheoretiker, Wirtschaftswissenschaftler, Lebens- und Freizeitsforscher, Politiker und - nicht zuletzt - Normalbürger aber erst noch eine kopernikanische Wende bei der Definition von Ökonomie, Arbeit, Fortschritt, Effizienz, Lebensqualität und
-sinn vollziehen.


 
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