© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    34/02 16. August 2002

 
"Für das Vaterland gefallen"
Estland: Auf internationalen Druck führt das Land einen Holocaustgedenktag ein / Kritik an Denkmal für Waffen-SS-Soldaten
Gustaf Domberg

Die Stadt Pärnu (Pernau) im Süden Estlands war bisher wegen ihrer weiten Sandstrände als Ostseebadeort bekannt. Jetzt allerdings ist sie unerwartet in den Mittelpunkt einer zeitgeschichtlichen Kontroverse - und zugleich unter ziemlichen Druck geraten.

Der Verband der estnischen Kriegsveteranen - also der überlebenden Teilnehmer am Zweiten Weltkrieg - hatte beschlossen, im Park der Stadt ein Denkmal für die gefallenen estnischen Soldaten zu errichten. Auf dem fertiggestellten Denkmal sieht man einen Soldaten mit typischem deutschen Weltkrieg II-Stahlhelm, mit einer Maschinenpistole in der Hand. Die Inschrift lautet: "Allen estnischen Soldaten, die während des zweiten Freiheitskrieges 1940 bis 1945 für das Vaterland gefallen sind."

Das Denkmal und besonders diese Inschrift lösten einen Proteststurm nicht nur jüdischer Organisationen, sondern auch russischer Politiker aus. Die EU, der Estland bald beizutreten hofft, rügte die Tallinner Regierung, weil sie nicht genügend Entschlossenheit zeige, so etwas zu unterbinden. Mit einem Male kam auch der Holocaust zur Sprache: die estnischen Gefallenen, die hier geehrt werden sollten, seien Angehörige der Waffen-SS gewesen, und hätten sich an der Ermordung von Juden beteiligt. Während der deutschen Okkupation Estlands 1941bis 1944 seien Tausende estnische Juden umgekommen.

Von estnischer Seite hörte man als Gegenargument, daß die Zahl der in Estland lebenden Juden vor 1941 relativ klein war. Einen ausgeprägten Antisemitismus habe es in Estland - im Gegensatz zu anderen osteuropäischen Staaten - nicht gegeben. Die Juden genossen in der ersten Republik ebenso wie die anderen Minderheiten alle Rechte aus der sogenannten Kulturautonomie, die vom Völkerbund als durchaus vorbildlich anerkannt wurde.

Für die etwa eine Million Esten stellte der deutsche Einmarsch im Herbst 1941 das kleinere Übel und eine Befreiung von der sowjetischen Schreckensherrschaft dar, die mit Massendeportationen, Verhaftungen und Liquidierungen die Existenz der Nation bedrohte. Als Völkerrechtssubjekt hatte Estland 1940 nach der sowjetischen Okkupation zu bestehen aufgehört. Auch unter den Deutschen gab es keinen estnischen Staat: gemeinsam mit Litauen und Lettland gehörte Estland zum "Reichskommissariat Ostland".

Die Esten wollten ihr kleines Land und Volk verteidigen

Als die deutsche Besatzungsmacht - an sich völkerrechtswidrig - die estnischen Männer zum Wehrdienst einzuberufen begann, folgten fast alle jungen Esten dem Ruf zu den Fahnen, auch wenn sie deutsche Uniformen tragen mußten und in die Waffen-SS eingegliedert wurden. Zehntausende junger Esten verteidigten die Narwa-Front, wo die Sowjets mit aller Macht den Durchbruch erzielen wollten. Als die Wehrmacht die Front nicht mehr halten konnten, versuchten die Esten verzweifelt, ein erneutes Eindringen der russischen (und in diesem Falle bolschewistischen) Bären in ihr Land zu verhindern. Als dies nicht gelang, kam es zu einer beispiellosen Massenflucht; mehr als 60.000 Esten flüchteten über die Ostsee nach Schweden oder Deutschland.

Etwa 100.000 Esten sollen im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite gekämpft haben. Die estnischen Waffen-SS-Angehörigen interessierten sich kaum für die deutschen Kriegsziele und das NS-Regime: Sie wollten ihr kleines Land und Volk verteidigen. Ihre Tragik war, daß sie das nur tun konnten, wenn sie eine deutsche Uniform anzogen.

Die meisten Esten in deutschen Uniformen waren fast unablässig im Fronteinsatz. Sie hätten also, selbst wenn sie gewollt hätten, keine Zeit gehabt, sich an Greueltaten zu beteiligen. Gewiß ist nicht auszuschließen, daß sich einzelne Personen estnischer Nationalität an Unkorrektheiten oder Verbrechen beteiligt haben können - aber für die Taten einzelner lassen sich weder das Volk noch der damals gar nicht existente estnische Staat verantwortlich machen.

Interessant ist jedenfalls, daß kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in der damaligen US-Administration und im Kongreß das Verständnis für die Esten viel größer war als heute. Damals, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, machten die Amerikaner bei Esten, die in die USA einwandern wollten und vorher in der Waffen-SS gewesen waren, ausdrücklich eine Ausnahme: Die baltischen Waffen-SS-Einheiten hätten sich nicht an Repressionen beteiligt und seien normale Kampfeinheiten gewesen. So konnten zahlreiche Überlebende der estnischen Waffen-SS ungehindert in die USA einwandern und erhielten sogar die US-Staatsbürgerschaft.

Doch spätestens seit der neue US-Botschafter Joseph Michael DeThomas in Tallinn (Reval) residiert, weht ein anderer Wind. Der Diplomat forderte in der Tallinner Tageszeitung Eesti Päevaleht von der Baltenrepublik, den Holocaust als Teil ihrer Geschichte anzuerkennen und entsprechend zu handeln (JF 25/02).

Die estnische Regierung befindet sich nun angesichts des US- Drucks und der veränderten Haltung des Westens in einer fast tragischen Situation. Jeder in Estland weiß, daß die Esten in deutscher Uniform in erster Linie für Estland - keineswegs für Deutschland und schon gar nicht für die NS-Ideologie - kämpfen wollten. Jeder weiß auch, daß diese Männer ein sehr hartes Schicksal erlitten: die sowjetischen Instanzen verfolgten nach 1944 unbarmherzig jeden, der auch nur irgendwie mit den Deutschen zusammengearbeitet hatte. Viele der damals jungen Leute verschwanden, sofern ihnen der Ausweg nach Westen nicht geglückt war, auf Jahre oder auch für immer im Gulag.

Deshalb sind die Veteranen von damals für den durchschnittlichen Esten Helden und Märtyrer im Überlebens- und Freiheitskampf der eigenen Nation. Die Überlebenden betonen, sie hätten an keinerlei Verbrechen teilgenommen und "ehrenhaft für ihr Volk und Land gekämpft."

Das Denkmal von Pärnu wird aber offiziell nicht eingeweiht. Überdies hat Estlands Regierung zugestimmt, daß das Land in Zukunft einen besonderen Holocaust-Gedenktag begeht, obwohl Estland den Holocaust weder erfunden hat noch an ihm beteiligt war. Aber diese Tatsache scheint heute mancherorts nicht zu interessieren.


 
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