© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   35/02 23. August 2002


Die Natur schlägt zurück

Das Jahrhunderthochwasser setzt Umweltschutz wieder auf die Tagesordnung
Volker Kempf

Eine Jahrhundertflut schwappte über Dresden hinweg und bescherte der Stadt, so Oberbürgermeister Ingolf Roßberg (FDP), "die schwierigste Zeit seit Februar 1945". Nicht der Kölner Dom stand unter Wasser, wie Umweltschützer vor zehn Jahren prophezeit hatten, sondern die Semperoper. Da standen selbst "Öko-Optimisten" im Regen.

Wo die enormen Wassermassen herkommen, ist im einzelnen schwer nachzuweisen. Fakt ist aber: Durch den Ausstoß von Kohlendioxyd und andere Treibhausgase wie Methan und Lachgas erwärmt sich das Klima. Dadurch verdunstet mehr Wasser, das irgendwo wieder kondensiert und als Regen vom Himmel fällt. Da es in Nord- und Mitteleuropa durch eine Verschiebung des Golfstroms trotz des Treibhauseffekts nicht wärmer wird, liegt es auf der Hand, wo dieser Regen herunterprasselt: bei uns. Da immer mehr Fläche versiegelt wird, gelangt das weiterhin ansteigende Wasser immer weniger in die Böden und um so schneller in die Flüsse. All diese Faktoren verstärken sich gegenseitig. Daher liegt es nahe, die Umweltpolitik wieder auf die Agenda zu setzen. Und damit schwappt das Thema mitten in den Wahlkampf und trifft die Parteien unvorbereitet.

Rot-Grün hat zumindest das Thema besetzt und wurde damit sogar in Regierungsver­antwortung gewählt. Angela Merkel unterdessen verkündet unablässig, die Umwelt sei bei der CDU "höchstrangig angesiedelt", warum auch immer sie dann die Rede von der ökologisch-sozialen Marktwirtschaft im CDU-Grundsatzprogramm auf eine neue soziale Marktwirtschaft verkürzt hat. In anderen Worten: Umweltpolitisch hat Schwarz-Gelb ein großes Glaubwürdigkeitsproblem. Deshalb beschränkt sich Edmund Stoiber auch darauf, seinen Konkurrenten Gerhard Schröder in der Forderung nach einer nationalen Kraftan­strengung zum Wiederaufbau der Katastrophengebiete zu übertrumpfen.

Doch wer ein Themengebiet besetzt, sagt noch nichts darüber aus, wie er es bearbeitet oder ob er es vielleicht nur zu anderen Zwecken mißbraucht. Genau letzteres ist aber der Fall. Daß Union und FDP diese Schwäche nicht ausschlachten, sondern sich in Totalopposition gegen jede ökologiepolitische Anstrengung der Bundesregierung gefallen, macht nur deutlich, wie tief der Stellenwert der Umweltpolitik hierzulande gesunken ist. Besonders deutlich wird das in der Bodenschutzpolitik.

Im Bodenschutzbericht der Bundesregierung vom Juni diesen Jahres heißt es, ihr "Schwerpunkt" läge bei der "Verminderung der Flächeninanspruchnahme". In dem betreffenden Kapitel "Flächeninanspruchnahme vermindern, nachhaltige Siedlungsent­wicklung fördern" heißt es: Gerade weil Deutschland dicht besiedelt ist, müsse der Boden "erhalten" werden. Es wird beklagt, daß die Wohnflächennachfrage in den kommenden 15 Jahren um 12,4 Prozent zunehmen werde. Beim Wohneigentum seien es 21 Prozent Zuwachs; im Mietbereich bleibe die Lage stabil. Des weiteren wird im Bodenschutzbericht erleichtert aufgenommen, daß es in Deutschland längerfristig einen Bevölkerungsrückgang geben wird. Daß die Politik der Bundesregierung aber gerade darauf abzielt, das zu verhindern, indem sie verzweifelt die Geburtenrate zu erhöhen sucht, wie auch der Zuzug von Ausländern einigermaßen großzügig gehandhabt werden soll, bleibt unerwähnt.

Neben Politikern fordern auch angesehene Wissenschaftler wie Herwig Birg an der Bevölkerungsschraube zu drehen, während die großen Umweltverbände um das Thema einen großen Bogen machen. So hat der Naturschutzbund (NABU) zwar eine Kampagne gegen Flächenversiegelung gestartet, fordert aber nur symptomorientiert eine neue Steuer- und Förderpolitik. Die FAZ unterdessen schreibt am 19. August ausgerechnet in einem Leitartikel über Hochwasserursachen, daß im Mietsektor mehr gebaut werden sollte. In der Tat gab es im Deutschland der letzten Jahre sogar eine geringfügig steigende Bevölkerungszahl zu verzeichnen, was mehr Wohnraum erfordert, aber für den Boden nichts Gutes verheißt. Dies wird aber im Bodenschutzbericht nicht als handlungsrelevant ausgemacht. Wie Bodenschutz betrieben werden soll, während Maßnahmen zur Hebung der Bevölkerungszahlen ergriffen werden, bleibt dann auch deren Geheimnis.

Das Geheimnis dieses Widerspruchs wird dann aber gelüftet: Das "Wirtschaftswachstum" und die Flächeninanspruchnahme sollen entkoppelt werden - nein: seien schon entkoppelt. Trotz dieser Entkoppelung wird aber ein steigender Flächenverbrauch für die nächsten 15 Jahre prognostiziert. Und damit ist das ganze Geheimnis eine Seifenblase. Genau besehen heben die Flächenverbrauchszahlen auch nur auf die Abnahme der Zunahme ab. Das wäre so, als würde jemand abnehmen wollen und nimmt zehn Jahre lang zu: im ersten Jahr 11,4 Kilogramm, im zweiten 9,9 und im zehnten 7,0. Wer dann stolz verkündete, abgenommen, nämlich die Menge an zugeführten Kalorien und die Gewichtszunahme entkoppelt zu haben, der würde nicht ganz ernst genommen werden.

Doch genauso rechnet die Bundes­regierung. Genauer: Es wird die Aussage gemacht, wonach die Flächeninanspruchnahme - die nicht mit der Flächenversiegelung gleichzusetzen ist - von 114 Hektar pro Tag in den siebziger Jahren auf 71 Hektar pro Tag in den neunziger Jahren "deutlich gesunken" sei, um dann so zu tun, als sei damit die Expansion der Wirtschaft vom Flächenverbrauch abgekoppelt worden. Jeder Mensch, der noch rechnen kann, wird 71 Hektar Flächenverbrauch, der in den siebziger Jahren täglich hinzukam, als eine Zunahme verbuchen und nicht als Abnahme. In den rot-grünen Regierungsjahren stieg der Flächenverbrauch sogar auf 90 Hektar pro Tag an. Vom "Wachstum der Wirtschaft" zu reden, ist zudem völliger Unsinn, weil Straßen nicht wachsen, sondern das, was wächst, zugeteert und -betoniert wird. Entsiegelungspotential, mit dem man kompen­satorisch wirken könnte, gibt es zudem so gut wie nicht.

Die Bundesregierung nimmt dem vorliegenden Bericht zufolge die Gesamtzusammenhänge in der Bodenschutzpolitik kaum wahr, macht damit aber alles insgesamt noch schlimmer und verkauft das dann auch noch als "nachhaltige Entwicklung". Damit erweist sich Rot-Grün im Bodenschutz als guter Verkaufsstratege, aber auch nur, weil niemand widerspricht. Wo die Umwelt anderen Politikbereichen im Weg steht, da wurde sie noch immer geopfert.

Doch Umweltfaktoren, die ausgeklammert werden, haben sich bisher noch stets gerächt, diesmal vor der eigenen Haustür und nicht nur in armen fernen Ländern.


Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen