© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/02 23. August 2002

 
Was von Preußen blieb
Die Entdeckung der ästhetischen Dimension: Ein Streifzug durch Brandenburgische Kulturlandschaften
Wolfgang Saur

Friedrich Wilhelm I. (1688-1740) ließ sich 1715 vor den Toren Potsdams einen Küchengarten anlegen, den er mit dröhnendem Sarkasmus "mein Marly" nannte - eine ironische Anspielung auf den prächtigen Besitz des französischen Sonnenkönigs. Inmitten von Nutzpflanzungen diente die mittlere Wegachse den derben Belustigungen des Soldatenkönigs als Schießbahn, ein seinen Kindern geradezu symbolischer Ort für ihre ungeliebte Kindheit. Wohl eben deshalb ließ Friedrich der Große unweit davon auf dem "wüsten Berg" 30 Jahre später sein Sanssouci durch Knobelsdorff errichten. Die Anhöhe wurde terrassiert und mit Reben bepflanzt; so entstanden geometrisch strenge Gärten, von dem eleganten Schloßbau bekrönt, dessen erlesene Dekors zum Inbegriff des friderizianischen Rokoko wurden. Fehlte der ganzen Anlage ein Ort religiöser Besinnung, so focht dies den Atheisten wenig an.

Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861), der ab 1840 als "Romantiker auf dem Thron" nach seinem Urahn zum bedeutendsten Stadtentwickler von Berlin und Potsdam wurde, sollte dies nachholen. In ästhetischem und ideellem Kontrast zur Barockanlage wurde just der alte Marlygarten in einen Landschaftsgarten verwandelt, um im Verein mit dem florentinischen Bau der Friedenskirche ein ausgeklügeltes christliches Zeichensystem zu konfigurieren: die "Christuspforte" als Einweihungsweg und Antithese zur "Voltaire-Linde".

Die staunenswerte religiöse Ikonographie dieses Parks verdankt sich dabei dem Genie Peter Lennés (1789-1866), der seit 1816 die Gestaltung der Potsdamer Gartenlandschaft maßgeblich konzipiert und wesentlich dazu beigetragen hat, des großen Kurfürsten Anspruch einzulösen; der hatte 1660 gewünscht: "Das gantze Eyland muss ein Paradies werden."

Architektonischer Parcour durch Preußens Geschichte

Tatsächlich finden sich im "preußischen Arkadien" Paradiesesmotive vielfältig realisiert, besonders jedoch in der Ära des "Kulturkönigtums" nach den Befreiungskriegen. Zunächst schufen Schinkel und Lenné in Glienicke dem Prinzen Carl ein kleines "Italien" als lebendige Intarsie der Phantasie (1825), bevor sie für den Kronprinzen in Charlottenhof mit der Adaptation einer antiken Villa eine ideale Weltordnung en miniature entwarfen (1826). Dies alles dokumentierte im letzten Jahr die Hauptausstellung im Orangeriepalast: "Nichts gedeiht ohne Pflege. Die Potsdamer Parklandschaft und ihre Gärtner". Parallel zur erfolgreichen Bundesgartenschau (April bis Oktober) hat man hier die Kulturgeschichte Potsdams als einzigartige Symbiose von Mensch und Natur rekonstruiert: "die determinierte Umgestaltung einer wirklichen ins Riesenhafte gehenden Landschaft mit Flüssen, Seen, Feldern, Städten, Plätzen, Dörfern, Straßen und Wegen in ein geformtes Kunstwerk". Der Deutsche, so fährt Rudolf Borchardt (1921) fort, wisse kaum, was er an Potsdam besitze. Nun, die UNESCO wußte es zu schätzen und hat den Ort 1990 in die Liste des Welterbes aufgenommen. "Gleichsam eine Morgengabe an das soeben vereinigte Deutschland und ein Auftrag, dieses bisher durch die Teilung zerschnittene und beeinträchtigte Erbe zu heilen, zu pflegen und als eine Gesamtheit zu begreifen", so Michael Seiler, Gartenbaudirektor der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten. Darauf bezogen sich 2000/2001, anläßlich des 10. Jubeljahrs, auch Potsdams Kunst- und Kulturprogramme.

Ausgehend von der Orangerieausstellung würdigte man den Prinzen Carl (1801-1883) als kunstsinnigen "Beschützer des Schönen" in Glienicke und die Kaiserin Friedrich (1840-1901) im neugotischen Schloß Babelsberg, dessen Gartenanlage sich der Kreativität des Fürsten Pückler verdankt. Dadurch rückten vom Touristenstrom kaum beachtete Häuser und Gärten ins Blickfeld, die sonst ein verträumtes Randdasein führen. Diese Aufwertung macht auch die notwendige Sanierung des baufälligen Babelsberg deutlich, nachdem schon die Hohenzollernschlösser der Mark nach und nach wiederhergestellt wurden.

1999 konnte Caputh wieder eröffnet, 2000 der Rückbau von Wusterhausen, 2001 der von Oranienburg vollendet werden, inzwischen (2002) sind auch die Restaurierungsarbeiten in Paretz und Rheinsberg abgeschlossen. Wir erhalten damit einen architektonischen Parcours durch Preußens dynastische Geschichte, in dem sich die Denkmäler den markanten Persönlichkeiten zuordnen lassen: der große Kurfürst (Caputh, Oranienburg), Friedrich I. (Charlottenburg), Friedrich Wilhelm I. (Wusterhausen), Friedrich II. (Sanssouci, Neues Palais), Friedrich Wilhelm II. (Pfaueninsel, Marmorpalais), Friedrich Wilhelm III. und Louise (Paretz), Friedrich Wilhelm IV. (Charlottenhof, Friedenskirche, Orangerie, Lindstedt) und Wilhelm I. (Babelsberg); für Wilhelm II. muß man ins Ausland fahren, nämlich nach Dorn/Holland; doch lebten noch der Kronprinz und seine Familie von 1926 bis 1945 auf Cecilienhof.

Das erfolgreich Geleistete stimuliert auch die Großprojekte der Stiftung für die nächsten Jahre: die Restaurierung des Neuen Palais, den Masterplan für Charlottenburg mit der Einrichtung eines Hohenzollernmuseums (vormals Schloß Monbijou) und die Einrichtung eines stiftungseigenen Archiv- und Dokumentationszentrums.

Mit "Marksteinen" zur brandenburgisch-preußischen Vergangenheit öffnete auch im letzten Sommer das neue Haus der Geschichte in Potsdam seine Türen (JF 35/01). Als gemeinsame Landesausstellung dokumentierte diese museale "Entdeckungsreise" auch eine erfolgreiche Kooperation mit Berlin im Preußenjahr 2001. Daran anknüpfend hat man sich 2002 dem Projekt einer Vergegenwärtigung von Klassik und Romantik zugewandt, "Kulturland Brandenburg" dabei die Romantik übernommen. Aus 80 eingereichten Projekten wurden 37 ausgewählt, vom Land ein Förderetat von 2,16 Millionen Euro bereitgestellt.

Hohenzollernstaat als Vormacht der Aufklärung

Als Dachorganisation geht das "Kulturland", deutschlandweit einmalig, nun ins fünfte Jahr. Die bisher jährlich erneuerte Projektgruppe konstituierte sich im Januar 2002 nunmehr als Verein mit fester institutioneller Struktur, der eine Vernetzung der landesweit wichtigsten Einrichtungen aus Wissenschaft, Kultur und Tourismus ermöglicht und sich zum Ziel "die nachhaltige Förderung der kulturellen Infrastruktur des Landes, die Erschließung des kulturhistorischen Erbes der Regionen sowie die Präsentation künstlerischer Leistungen und einzigartiger Sammlungen" gesetzt hat. Nach "Fontane" (1998), "Oranier" (1999), "Industriekultur" (2000), "Preußen" (2001) und in Erwartung der Kulturjahre "Europa" (2003), "Landschaften und Gärten" (2004) und "Christianisierung und Säkularisierung" (2005), jetzt also die Romantik.

Nachdem die alte Schießbudenfigur des "preußischen Militarismus" abgetan ist, wird der Hohenzollernstaat heute gern als Vormacht der Aufklärung gepriesen, von andern unverdrossen als Tugendbold propagiert. Respektabler Kantianismus, gewiß, doch wenig genießbar. Anders dagegen stellt die Erkundung der musischen Dimension im preußischen Seelenhaushalt, kurz: die Entdeckung seiner ästhetischen Dimension eine neue Identitätsperspektive auf das Erbe dar.

Dafür beispielhaft nun das Jahr der Romantik. Es wurde am 4. Mai feierlich in der Klosterruine Chorin, dem bedeutendsten Zeugnis nordischer Backsteingotik nahe Berlin, im Beisein von Ministerpräsident Stolpe eröffnet. Chorin, in malerischer Waldlandschaft gelegen, darf als authentischer Ort der Romantik gelten, wurde es doch seit 1810 wiederentdeckt, saniert und gärtnerisch gestaltet. Geschichtspietät und denkmalpflegerische Initiative sind romantischen Ursprungs. Indem die Moderne die Individuen ihrer ständischen Substanz und damit auch ihrer historischen Tiefenstruktur beraubt, erzeugt sie gerade jene Hinwendung zur Vergangenheit, die im Fortschritt zu verschwinden droht. Exemplarisch steht dafür die Wiederentdeckung des Mittelalters, "gleichsam als Totalität des Humanen, das jenseits der durch die kapitalistische Arbeitsteilung hervorgerufenen Spezialisierung und Entfremdung wiedergefunden werden muß" (Günzel).

Kritisch zielt der romantische Protest auf die Hypertrophierung des Verstandes, der die Verendlichung des Menschen in einer eindimensionalen Welt festschreiben will. Dadurch wird die Romantik zum Anarchen und Ruhestörer des seiner Vollendung zustrebenden Rationalisierungsprozesses, zum spirituellen Sand im Getriebe der Selbstbezüglichkeiten der Moderne, anstößig bis heute. Romantiker wurden verspottet als sentimentale Trottel, geächtet als reaktionäre Dunkelmänner und angepöbelt gar als ästhetische "Occasionalisten". Bis heute halten sich die Vorurteile des "Irrationalismus" und der "Realitätsflucht".

Ein genauer Befund erweist jedoch die vielgestaltige Bewegung als authentischen Teil der Moderne, als Metakritik der Aufklärung selbst. Über deren Utilitarismus hinausgehend will sie im Menschen die "höheren Organe" und den "unsterblichen Sinn" wecken, ihm das "dritte Auge" wieder auftun. Das geschieht im Zeichen der Krise: Für die Zeitgenossen der Ereignisse von 1789 bis 1830 schienen Umbruch und Erschütterung zum Wesen einer Welt geworden, die dem wahnhaften Glauben an die Autonomie der Vernunft, der Perfektibilität der Historie und der Göttlichkeit der Gesellschaft verfallen war. Strukturell vergleichbar damit erscheinen die globalen Umwälzungen zur Jahrtausendwende den Brandenburgern: dies ist der zentrale Impuls des aktuellen Konzepts.

Romantische Impule wirkten im Realismus fort

Besonders kreativ zeigten sich die Romantiker, Vorboten der Hermeneutik Gadamers, im Gespräch, das im illustren Berliner Salonleben kulturhistorisches Format gewann. Weitere Facetten verkörpern die Musenhöfe der Mark, die zu Literaturzentren avancierten. Präsentierte das Haus der Geschichte/Potsdam "750 Jahre Literatur in Brandenburg" im ganzen ( "Musen und Grazien in der Mark"), stellen sich etwa Wiepersdorf (Arnim/Brentano, seit 21. Mai) oder Nennhausen (Dichterkreis um Motte Fouqué, ab 27. August) als spezifische Schauplätze romantischer Kreise vor.

Als "Ikone" galt den Romantikern das Herrscherpaar Friedrich Wilhelm und Louise, geheimnisvoll mystisch die monarchische Idee verkörpernd (Novalis, "Glaube und Liebe") und anmutig-häuslich als "einfache Familie" auf ihrem Gut Paretz waltend. So wird das 2002 vollständig restaurierte Ensemble einen "königlichen Landsitz um 1800" erlebbar machen (seit 21. Juli). Ebenso zwischen Empfindsamkeit und Romantik schillert die exzentrische Epochenfigur des Fürsten Pückler (1785-1871), des Dandys, Weltreisenden und Gartenkünstlers. In Branitz hat er sich ein Gesamtkunstwerk geschaffen, dessen Park- und Schloßanlagen im Verein mit der Malerei Carl Blechens im Fokus der diesjährigen Aufmerksamkeit stehen. ("Romantische Pfade", seit 21. Juli)

Die Romantik erschöpfte sich nicht in künstlerischen und poetischen Bestrebungen, war vielmehr eine universitäre Bewegung. Dies wird ein Symposion der benachbarten BTU Cottbus ("Zwischen Traum und Wissenschaft", 11.-23. Oktober) reflektieren. Auch die Uni Potsdam steht im Programm nicht zurück. Die französische Besatzung und die Befreiungskriege spielen als zeitgeschichtliche Komponente eine nicht unbedeutende Rolle in der Identitätsbildung dieser Ära und für das Konzept einer deutschen Nationalkultur. Das will die Potsdamer Tagung: "Romantische Subjektivität und vaterländische Geschichte: Zur Kulturgeschichte Brandenburgs in der Zeit der Befreiungskriege" erhellen (10.-13. Oktober).

In den 1830er Jahren, nach dem Tode Hegels (1831) und Goethes (1832), brach sich eine verstärkte Politisierung Bahn, während der romantische Einfluß rapide zurückging, gar ein "Ende der Kunstperiode" ausgerufen wurde (Heine). Daß einschlägige Impulse jedoch fortwirkten, selbst da wo man es nicht vermutet, etwa im hausbackenen Realismus Fontanes, belegen dessen "Wanderungen durch die Mark", die 1862-82 erschienen. Daß seine behutsame Aneignung der Heimat als historischen Tiefenraum die "Romantisierung einer Landschaft" bewirkte, soll die Konferenz des Theodor-Fontane-Archivs in Potsdam zeigen (18. bis 22. September).

Über Rheinsberg schrieb Fontane in den Wanderungen, die Naturschönheiten dieses Ortes seinen "nicht verächtlich" und seine historischen Erinnerungen "ersten Ranges". Das hat die Stiftung preußische Schlösser und Gärten dazu bewegt, seit 1995 das, meist nur als Musenhof des jungen Friedrich bekannte, in der DDR verwahrloste und zweckentfremdete Schloß gründlich zu sanieren und pünktlich zum 200. Todestag des Prinzen Heinrich (1726-1802), dem talentierten Bruder des Königs und Inhaber seit 1744, wieder zu eröffnen. Ihm, einem inspirierten "Europäer" seiner Zeit mit Verbindungen in alle Welt, sind aktuell eine große Retrospektive und ein historisches Colloquium gewidmet (seit 4. August).

Gute Voraussetzungen für Potsdam, womöglich im Jahr 2010 "Kulturhauptstadt Europas" zu werden. Den Titel, erstmals 1985 nach Athen vergeben, erhielten in Deutschland bereits Berlin (1988) und Weimar (1999). Kommt 2010 Deutschland wieder an die Reihe, müssen die Brandenburger antreten gegen Bremen, Dresden, Görlitz, München und das Ruhrgebiet. Ihre Chancen stehen dabei nicht schlecht, gründen diese doch ebenso in einem illustren Erbe wie den aktuellen Bemühungen um dessen kreative Wiederaneignung. Wolfgang Saur

 

Plastiken am Schloß Sanssouci in Potsdam: Die Landeshauptstadt Brandenburgs hat gute Chancen, 2010 zur Kulturhauptstadt Europas zu werden

Obelisk gegenüber dem Schloß Rheinsberg: Zum Gedächtnis an Prinz August Wilhelm von Preußen und 28 preußische Helden des Siebenjährigen Krieges

Informationen im Internet unter www.spsg.de  und www.kulturland-brandenburg.de 


 
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