© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    35/02 23. August 2002

 
Ein Abglanz der verlorenen Ferne
Eine Flamme, gezündet vom Stumpf der dorischen Welt: Die Regisseurin und Fotografin Leni Riefenstahl feiert ihren hundertsten Geburtstag
Doris Neujahr

Dorische Welt", schreibt Gottfried Benn 1934, "dorische Welt war die größte griechische Sittlichkeit, antike Sittlichkeit, also siegende Ordnung und von Göttern stammende Macht. Nichts wissen ihre Sagen von Horten, Schätzen, hohlen Bergen, ihre Begehrlichkeit geht nicht auf Gold, sondern auf heilige Dinge, magische Waffen aus Hephaistos' Hand, das Zepter des Zeus. Sparta, das war auch unentrinnbares Geschick."

Dorische Welt, das waren "erotische Mystik" und "schöne Körper: alle Götterfeste, alle großen Feierlichkeiten führten einen Schönheitswettbewerb herbei." Das Gegenteil der eigenen Zeit, die nichts mehr als "fern, geheim, wunderbar" gelten läßt, wie Karl Jaspers kurz vor dem Ende der Weimarer Republik vermerkt, und weiter: "Das Individuum aufgelöst in Funktion", vegetierend "als soziales Daseinsbewußtsein", sein Körper gepeinigt von "Lebensangst", von "vitaler Unsicherheit" und als höchstes, ausnahmsweises und schales Glück eine "Arbeitsfreude ohne Selbstgefühl".

Gottfried Benn, der nicht nur Dichter ist, welcher das Geheuchel eines feisten Bürgertums seziert, sondern auch Kassenarzt für Berliner Arbeiter, sieht bei der Gelegenheit täglich, was Jaspers' Abstrakta vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise bedeuten: Armut, die jeden Lebensbereich durchdringt und grau in grau färbt, die die Körper auszehrt, die Gemüter böse, die Gesichter stupide oder verschlagen, jedenfalls häßlich macht. Keine Spur vom versprochenen Leben in Schönheit und Würde. Die dorische Welt der Griechen, wie er sie erzählt, ist ein utopischer Gegenentwurf, ein Märchen vielleicht oder eine verzweifelte Hoffnung. Ein paar Jahre später, im Prolog ihres Films "Olympia - Fest der Völker", läßt Leni Riefenstahl das olympische Feuer auf dem Stumpf einer dorischen Säule entzünden.

Die dorischen Säulen, errichtet zwischen dem 7. bis 5. Jahrhundert vor Christus, sind gedrungen, ihre Schäfte stehen fest, ohne verzierte Basissockel, auf den Fundamenten. Sie sind von einer klaren Zweckmäßigkeit, die ins Künstlerische hinüberwächst. Ihr Umfang schwillt von oben nach unten deutlich an, noch mehr, als der reine Zweck eigentlich rechtfertigt. Eben dadurch bleiben Form und Funktion innigst verbunden, denn der übertriebene Durchmesser bezeugt die Last der Tempeldächer, unter der die Säulen zu ächzen scheinen.

Manche Künstler der zwanziger und dreißiger Jahre fühlen sich von dieser Ästhetik seltsam angerührt. Sehr nah, beinahe heutig kommt sie ihnen vor, überdies weckt sie Erinnerungen an die verlorene Ferne. Die aktuelle Formensprache ist ja ebenfalls klar und logisch, verzichtet auf Ornamente und Zierrat, und die moderne Architektur - "De Stijl", der Bauhaus-, der Internationale Stil usw. - bevorzugt kubische Umrisse und betont ihre industriell gefertigten Materialien, Beton, Stahl oder Glas.

Symbole der Macht und Erhabenheit des Menschen

Doch die Funktionalität, mit dem der moderne, neusachliche Stil von seinen Verfechtern gerechtfertigt wird, ist häufig nur ein Vorwand für einen Ästhetizismus, der sich im Konkreten als disfunktional erweist. Hinter der revolutionären Attitüde der Formen steckt die angsterfüllte Romantisierung der Maschinensphäre. Die ist das Signum der Zeit, in der "das Dasein" - noch einmal Jaspers - "seiner geschichtlichen Besonderheit entkleidet" und der Schematisierung unterworfen wird. Statt Kon-tinuität nur Zeitvertreib, statt Grenz-erfahrung im persönlichen Einsatz nur geschäftsmäßige Kalkulation und dahinter die Leere.

Der Umschlag zur dorischen Utopie liegt in der Luft: Denn dort ist die Zweckmäßigkeit erdverbunden, echt und birgt noch ein Mehr: Glaube und Transzendenz. Die dorischen Bauten sind eindeutig ein Echo spiritueller Prozesse. Die Säulen der Tempel stehen vor dem Hintergrund der Berge, aus denen sie herausgehauen wurden. So sind sie Symbole der Macht und Erhabenheit des Menschen, der im Kampf mit der Natur Größe gewinnt, doch die Tatsache, daß die Bauten den Göttern geweiht wurden, erinnert daran, daß der Mensch ohne göttlichen Beistand machtlos ist gegen die Natur.

Leni Riefenstahl, geboren am 22. August 1902, stand selber auf der Sonnenseite der "Goldenen Zwanziger", die heute als das Zeitalter der klassischen Moderne gelten. Sie war Ausdruckstänzerin, Schauspielerin, und 1932 wurde sie mit dem Film "Das Blaue Licht" auch eine erfolgreiche Regisseurin. Sie gehörte zur legendären Berliner Künstlerszene. Auf Fotos ist sie mit Marlene Dietrich, Lilian Harvey, Olga Tschechowa, Willy Fritsch und mit dem Regisseur G. W. Pabst zu sehen, der sie für "Die weiße Hölle vom Piz Palü" (1929) engagierte. Zehn Jahre nach Kriegsende sollte Pabst den Film "Der letzte Akt" drehen, eine beklemmende Darstellung der Vorgänge im Führerbunker 1945.

Ein Gruppenfoto, aufgenommen 1928 auf einem Berliner Ball, zeigt Leni Riefenstahl untergehakt mit der Dietrich und dem Hollywoodstar Anna May Wong. Die eine ist auf den Vamp-Typus, die andere auf exotische Schönheit getrimmt, sie sind sichtlich bemüht, den zugewiesenen Rollen gerecht zu werden. Riefenstahl wirkt natürlich, wie emanzipiert von den Gesetzen der Schönheits- und Imageindustrie. Sie scheint von der Inszenierung ihrer Kolleginnen peinlich berührt. Meistens gleicht sie dem wilden Mädchen Junta, das sie im "Blauen Licht" verkörpert. Junta verweigert sich jeder Schematisierung - weshalb ihre Schönheit so unergründlich bleibt - und behütet ihre kostbaren Bergkristalle vor der ökonomischen Vernutzung. Noch im Spielfilm "Tiefland", der 1940 begonnen wird, spielt Riefenstahl, ganz gegen den Geist der Zeit, eine Zigeunerin. Sie hatte das Dritte Reich nicht nötig, um etwas zu sein oder zu werden, um ihr Ich zu steigern oder überhaupt zu beweisen.

Will man sich in die Zeit um 1933 einfühlen, muß man die klugen, interessanten Bücher und Memoirenwerke, die über das Kulturleben der Weimarer Republik verfaßt wurden und heute wie kanonische Texte zitiert werden, gegen die Absicht ihrer Autoren bürsten. Sie sind geschrieben aus der Sicht privilegierter Snobs, genießerischer Bourgeois oder Lebenskünstler, denen Armut eher Stimulans als Not bedeutet. Brecht, der die bürgerliche Welt aus den Angeln heben will, ist trotz dramatischen Genies, ätzender Sottisen und treffender Analysen doch deren Hofnarr, denn um als "Premierenpublikum Parkett und Ränge zu zieren" und als "ewig schlechtes Gewissen der Gesellschaft" zu fungieren (wie ein Zeitgenosse spöttelt), muß man erstmal das nötige Geld für die Theaterkarte haben.

Schönheit und Eros sind aller Mystik entkleidet

Engagement und Rebellion sind zirkulierende Waren, wie auch Schönheit und Eros, die aller Mystik entkleidet sind. Christopher Isherwood schreibt in seinen 1949 auf deutsch erschienenen Berlin-Erinnerungen (die die Vorlage für Bob Fosses Filmklassiker "Cabaret" bilden) ungeniert, wie er und Stephen Spender sich mittellose blonde Knaben gleich auf mehrere Monate mieten, und Klaus Mann, dem sein Vater, der Literatur-Nobelpreisträger, den Unterhalt finanziert, berichtet mit einem Zynismus, der ihm selber gar nicht bewußt ist, von der großen Attraktivität, die die Jungen "schlichter Herkunft" mit "ihrer glatten, hübschen, noch unschuldigen Stirn" für ihn hatten, "wenn auch nicht gerade aus Gründen vaterländischer Überzeugung und schollengebundener Tugend". Er fällt aus allen Wolken, als einer von denen ihm in SA-Uniform unter die Augen tritt.

Der Gedanke, daß die Welt, der er angehört, sich selbst ihre Grundlage entzogen hat, kommt ihm, als er im Mai 1933 Gottfried Benn aus Südfrankreich zur Rede stellt, weil der sich für den NS-Staat erklärt. Im Angesicht dessen "hysterischer Brutalität", deklamiert er, werde ihn künftig auch kein Vulgärmarxismus mehr davon abhalten, "das Vernünftige zu wollen".

Benn hat solchen Salonbolschewismus seit jeher für eine Angelegenheit dekadenter Bürger gehalten und gibt zurück: "Ich könnte Sie auch fragen, ob Sie auch von der hysterischen Brutalität gesprochen haben, als der Staat, in dem Ihr Marxismus siegte, die zwei Millionen bürgerlicher Existenz erschlug?" Derart präzise ließ sich damals die Wirklichkeit der russischen Alternative benennen, für die der Zeitgenosse Sergej Eisenstein so berauschend schöne Bilder fand.

Einheit aus körperlicher Spannung und Verstand

Riefenstahls "Olympia"-Prolog von 1938, die Kamerafahrt vorbei am dorischen Parthenon von Athen und den anderen antiken Erbschaften, trifft einen Nerv der Zeit und in das Zentrum der Kunstdebatten. Die ersten zwanzig oder dreißig Seiten von Peter Weiss' monumentaler "Ästhetik des Widerstands" (1975) lesen sich wie ein Kommentar zu Riefenstahls Bildsequenzen. Die Blicke der drei Roman-Protagonisten streifen im September 1937 über den Fries des Pergamonaltars auf der Berliner Museumsinsel. Eine Diskussion entspinnt sich darüber, daß dies eine Kunst der Begünstigten sei, die ihrer irdischen Herrschaft göttliche Masken aufgesetzt haben. Weiss' Argumentation folgt der VII. Geschichtsthese Walter Benjamins von 1940, wonach ein Zeugnis überkommener Kultur immer auch eines der Barbarei sei, denn es "dankt sein Dasein nicht nur der Mühe der großen Genien, die es geschaffen haben, sondern auch der namenlosen Fron ihrer Zeitgenossen". Diese Erkenntnis ist kein Monopol der Marxisten. Benn 1934: "Die antike Gesellschaft ruhte auf den Knochen der Sklaven, die schleifte sie ab, oben blühte die Stadt."

Die Romanfiguren verständigen sich darauf, daß die antike Kunst dennoch ein Medium sei, das die Hoffnungen auf allgemeine Befreiung transportiere und daß "der Stein zu vibrieren" beginne, wenn man ihn gegen die Rezep-tionsvorgaben der Herrschenden lese, "bis eine Umkehrung gewonnen wäre und die Erdgeborenen aus Finsternis und Sklaverei sich in ihrem wahren Aussehen zeigten".

Diese Befreiungsvision hat auch Riefenstahl: Der Diskuswerfer von Myron, schon der Periode der Klassik angehörig, doch in dorischer Zeit entstanden und mit Eigentümlichkeiten dieser Epoche versehen, nimmt in einer atemverschlagenden Überblendung die Gestalt des Zehnkämpfers Erwin Huber an, beginnt zu virbrieren, setzt sich in Bewegung und wird ganz gegenwärtig.

"Wir leben", schreibt Benn 1934, "wir leben im Zeitalter der Geschichtsphilosophie, wenn man ihr Fazit zieht, ist sie nichts als eine feminine Fortdeutung von Machtbeständen. Wir leben seit einiger Zeit im Zeitalter der Kulturmorphologie, hochkapitalistische Blüte, Romantik, um Expeditionen zu wilden Völkern zu finanzieren. Das liberale Zeitalter konnte Völker und Menschen nicht ins Auge fassen - 'fassen', das klang ihm schon viel zu violant -, es konnte die Macht nicht sehen."

Und Jaspers, aus anderer Richtung argumentierend, sah um 1930 eine "Welt vollkommener Glaubenslosigkeit" heraufdämmern, besiedelt "von Maschinenmenschen, die sich und ihre Gottheit verloren haben, und einem zerstreuten, bald vollends ruinierten Adel". Eine aktuelle Drohung, nur sind aus martialischen Maschinenmenschen harmlose Konsumenten und aus dem ruinierten Adel nihilistische Zerknirschungsfanatiker geworden.

Den alternativen, den dorischen Menschen dachte Benn sich als physiologische Einheit aus Geist und Körper, den Kultur und Bildung körperlich ergreifen und dessen Physis wiederum der Ausdruck veredelten Geistes ist: "Lesen - das erarbeitete der ganze Organismus: die Rechte hält die geschlossene Rolle, die Linke zieht die Textspalten herüber, eine nach der anderen, langsam, zart, damit die Charta nicht zerfließt und die Fasern nicht zersplittern, der Schultergürtel und die Arme stehen immer in Spannung ..."

Die visionäre Einheit aus körperlicher Spannung und filigranem Verstand hat Leni Riefenstahl in unsterbliche Bilder gebannt. Höhepunkte sind die Auftritte der Turmspringer im "Fest der Schönheit". Zuerst werden ihre Namen noch genannt, dann nimmt die Bildgeschwindigkeit allmählich ab, die Sportler werden zu gleitenden Vögeln, zu Sinnbildern und Botschaftern eines Mysteriums, in dessen Zeichen sich die Einheit von Körper und Geist erst vollziehen kann. Die Olympiaglocke, die sich in Bewegung setzt, verkündet ein Echo des Sacrums, und die aus dem antiken Olympia nach Berlin durch Zeit und Raum getragene Flamme, die in einer Aufnahme von prometheischer Wucht gegen die untergehende Sonne gesetzt wird, gibt einen Abglanz der wiedergewonnenen Ferne.

Für ihren grandiosen Irrtum hat sie teuer genug bezahlt

"Betrachtet man dies alles nicht unter moralischen, sentimentalen, geschichtsphilosophischen Gesichtspunkten, sondern nach anthropologischen Grundsätzen, so sehen wir auf der einen Seite die Macht und neben ihr den anderen Ausbruch der hellenischen Volkheit: die Kunst." Denn ein Volk, meint Benn, beginnt erst durch den spartanischen Staat sich seiner kulturellen Potenzen bewußt zu werden. Der im soldatischen Rhythmus verlaufende Alltag kreiert eine besondere Festlichkeit, aus der die Sensivität für große Kunst erwächst. Da diese Kunst keine naive Kausalität kennt und den Tagesbefehl abweist, vielmehr unterwegs ist zu den ewigen, erhabenen Gesetzen der Ästhetik, führt sie zu einer "progressiven Anthropologie". Zu Beginn vom "Fest der Schönheit" zoomt Riefenstahls Kamera unbefangen auf die nackten Männerkörper in der Sauna. Die erotische Mystik, die die Käuflichkeit verachtet, ist zurückgekehrt.

"Der Staat, die Macht reinigt das Individuum, filtert seine Reizbarkeit, macht es kubisch, schafft ihm Fläche, macht es kunstfähig. Ja, das ist vielleicht der Ausdruck: der Staat macht das Individuum kunstfähig, aber übergehen in die Kunst, das kann die Macht nie." Die dorische Welt, die Benn beschwört, ist in Wahrheit eine Absage an das Dritte Reich, welches die Differenz zwischen Kunst und Macht nicht anerkennen will. Bei Riefenstahl ist diese Unterscheidung weniger eindeutig. In einer glänzenden Studie zu "Olympia" hat Rainer Rother analysiert, daß die Großaufnahmen des Unmenschen, der sich "Führer" nennen ließ, "zum Kulminationspunkt des Prologs und zum Ausgangspunkt der Spiele selbst werden".

Gewiß, es handelt sich um den "Führer" von 1933 bis 1936, nicht um den von 1939, 1941 oder 1945. Noch wenn er "Ende 1938 einem Attentat zum Opfer gefallen wäre, würden nur wenige zögern, ihn einen der größten Staatsmänner der Deutschen, vielleicht den Vollender ihrer Geschichte, zu nennen", schreibt der Hitler-Biograph Joachim Fest. Leni Riefenstahl ging es, statt um den Machtpolitiker, um das Phänomen des charismatischen Massenkristalls und um die dramaturgische Interpunktion, sie zeigt keinen realen, sondern den erträumten "Führer", eine Kunstfigur. Doch die infernalische Destruktion, die die reale Unperson im Krieg entfesselt hat, sorgt dafür, daß sie jedesmal, wenn sie ins Bild kommt, aus dem filmischen Kosmos heraustritt und zum bestimmenden Sinnzentrum wird. In Wahrheit sind Riefenstahls Ingenium und dieser Sendbote des Bösen inkompatibel. Sein Ende fand er als Troglodyt, während doch die dorischen Griechen ihren Ehrgeiz darin setzten, mit der Sonne im Gesicht zu sterben.

An ihrem hundertsten Geburtstag muß endlich Schluß damit sein, aus ihrem grandiosen Irrtum kleinliches Kapital zu schlagen. Bezahlt hat sie dafür teuer genug mit einem faktischen Arbeitsverbot nach dem Krieg. Was der Kunst dadurch verlorengegangen ist, ist unermeßlich.

"Doch 'alles Schöne ist schwer, und wer sich ihm naht, muß nackt und einsam mit seinen Gestalten ringen'", zitiert Benn den unwiderlegbaren Friedrich Nietzsche, und fügt hinzu: "das ist der erste, er muß auch untergehen: das ist der zweite dorische Vers. Es bleiben nur die Gesetze, die aber überdauern die Epochen." 


 
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