© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/02 30. August 2002

 
Im deutschen Interesse
Rot-Grün: Die Bundesregierung verschickt bundesweit Wahlkampfwerbung und verstößt damit gegen ein Verfassungsgerichtsurteil
Peter Freitag

Am Mittwoch und Donnerstag vergangener Woche erhielten etwa 44 Millionen Deutsche "Post" von ihrer Bundesregierung. In einem verschiedenen Tageszeitungen beigelegten Brief mit der Aufschrift "Im deutschen Interesse: Öffnen Sie die Zukunft." warb das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung für das Zuwanderungsgesetz. Dabei wurden nicht nur die aus Sicht der rot-grünen Koalition geschaffenen "ökonomischen wie humanitären" Vorzüge des neuen Gesetzes genannt, sondern umseitig auch Kritikpunkte ("Häufig gestellte Fragen") ausgeräumt.

Sowohl der Zeitpunkt der Veröffentlichung einen Monat vor der Bundestagswahl, als auch die Kosten der Aktion in Höhe von 2,85 Millionen Euro aus dem Etat des Presseamtes, riefen umgehend die Kritik der Opposition und des Steuerzahlerbundes auf den Plan. CDU-Generalsekretär Laurenz Mayer bezeichnete die Aktion als "in höchstem Maße unanständig". Offenbar sei der Regierung "jedes Mittel recht, um an der Macht zu bleiben". Der parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Eckart von Klaeden, wertete die Kampagne als "einen glatten Verstoß gegen das Grundgesetz". Auch der Bund der Steuerzahler (BdSt) kritisierte, diese Form der Öffentlichkeitsarbeit der Regierung habe "Schlagseite in Richtung verbotener Wahlwerbung auf Kosten der Steuerzahler".

Die Kritiker leiten ihre Argumente von einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ab, das in einem ähnlich gelagerten Fall am 2. März 1977 der damaligen SPD/FDP-Bundesregierung Verstöße gegen die Chancengleichheit bei Wahlen (Art. 21 GG) vorgeworfen hatte. Damit folgte das Gericht einem Antrag der Union, die gegen Anzeigen der Regierung im Wahlkampf 1976 geklagt hatte. In dem Urteil hieß es, das "Recht der politischen Parteien auf Chancengleichheit wird verletzt, wenn Staatsorgane als solche ... in den Wahlkampf einwirken." Dies sei auch nicht zulässig "in der Form der Öffentlichkeitsarbeit. Die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung findet dort ihre Grenze, wo die Wahlwerbung beginnt." Die Grenze zur unzulässigen Wahlwerbung sah das Gericht dort überschritten, wo "der informative Gehalt ... hinter die reklamehafte Aufmachung" zurücktrete. Die Regierung habe in der Vorwahlzeit (ab dem Zeitpunkt, zu dem der Bundespräsident den Wahltermin festlegt) nach dem "Gebot äußerster Zurückhaltung" zu handeln und dürfe nicht "ohne akuten Anlaß" mit Haushaltsmitteln Leistungs- oder Arbeitsberichte veröffentlichen. Auch müsse sie dafür sorgen, daß aus ihren Mitteln hergestellte Druckwerke nicht von Parteien als Werbung genutzt würden.

Das Gericht stellte fest, daß aus den Wahlen die Volksvertretung hervorgehe und nicht eine Regierung "gleichsam zur Wiederwahl" antritt. Daher seien im Wahlkampf regierungsamtliche Leistungsbilanzen unzulässig, vor allem wenn direkt oder indirekt gegen die Positionen anderer Parteien geworben werde. Begründet wird das Urteil unter anderem damit, daß sich im Wahlakt nach Art. 20 GG "die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen, nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin" vollziehen muß. Staatsorganen ist es demnach verwehrt, auf die Willensbildung einzuwirken, "um dadurch Herrschaftsmacht ... zu erhalten oder zu verändern." Trotz des im Grundgesetz vorgesehenen hohen Anteils der Parteien an der Willensbildung des Volkes, dürfte der Staat als solcher nicht mit politischen Wettbewerbern identifiziert werden, so die Richter.

Verfassungswidrigkeit wurde zur Verfassungswirklichkeit

Man kann die damaligen Kritikpunkte auch im aktuellen Fall durchaus wiedererkennen. Zwar weist das Presse- und Informationsamt darauf hin, daß der Zeitpunkt der Veröffentlichung erst jetzt gekommen sei, da man die Unterschrift des Bundespräsidenten unter das Zuwanderungsgesetz habe abwarten müssen. Diese erfolgte allerdings bereits am 20. Juni. Auch sind die Argumente des Papiers schon seit Ende März auf den Internet-Seiten der Regierung zu finden. Im übrigen steht dem Zuwanderungsgesetz noch die Prüfung durch das Bundesverfassungsgericht bevor, da die Union sein Zustandekommen angesichts der umstrittenen Bundesratsabstimmung für verfassungswidrig hält. Und selbst die Formulierung in der Werbebroschüre der Regierung trägt verräterische Züge von reklamehafter Aufmachung. So heißt es: "Deutschland braucht das neue Zuwanderungsgesetz", nicht etwa "...hat...". Die Wertung, das Gesetz sei "gut" und "im deutschen Interesse" suggeriert, daß im Falle einer Änderung der Mehrheiten dies dann schlecht und entgegen deutschem Interesse sei. Die "häufig gestellten Fragen" sind verklausulierte, zum Teil von der Opposition vorgebrachte Argumente gegen das Gesetz, die ohne größere Vertiefung ausgeräumt werden. Indirekt gegen die Union ist auch die Vergangenheitsform eingesetzt: "Bisher war ...", "...wurde zusätzlich erschwert...". Daß "mit abwertendem Urteil" auf "kritische Stellungnahmen der Opposition angespielt wird" hatte das Bundesverfassungsgericht bereits 1977 moniert. Was damals laut Bundesverfassungsgericht die Neutralitätspflicht des Staates verletzte, trifft auch im aktuellen Fall zu: "Unverkennbar tritt immer wieder die Absicht der Bundesregierung hervor, die von ihr vertretene Politik in der nächsten Legislaturperiode fortzuführen".

Ein noch stärker "reklamehaftes" statt informatives Stück Öffentlichkeitsarbeit legte die Bundesregierung mit ihrer aktuellen Broschüre "Perspektiven für Deutschland - Unsere Strategie für nachhaltige Entwicklung" vor. Fast jede zweite von insgesamt sieben Doppelseiten besteht nur aus Fotos und einem Motto; hinzu kommt ein Foto des Kanzlers und seines Staatsministers Martin Bury, eine personalisierte Werbepraxis, die den Richtern schon 1977 mißfiel. In der als "nachhaltig" propagierten Bilanz der Energie- und der Agrarpolitikwende tritt abermals deutlich der Wunsch der rot-grünen Regierung zutage, wiedergewählt zu werden.

Für diese Praxis können sich SPD und Grüne auf die Argumente des Verfassungsrichters Joachim Rottmann beziehen, der in einem Minderheitsvotum von der Entscheidung des Senats am 2. März 1977 abgewichen war. Er hatte eine Verletzung der Chancengleichheit durch die Regierungskampagne bestritten und die Offenlegung einer Regierungsbilanz als eine der "Grundlagen der Wahlentscheidung" bezeichnet. Der Eingriff einer Regierung in den Wahlkampf habe sich in der bundesrepublikanischen "Verfassungswirklichkeit" etabliert, die Parteien hätten zudem ein "faktisches Monopol bei der Wahl des Bundeskanzlers", was also eine Identifikation zwischen Regierung und der sie stellenden Parteien impliziert. Im Gegenteil kommt Rottmann sogar zu dem Schluß, daß Anzeigenkampagnen der Regierung sogar der Opposition nützen, da diese dann die Gelegenheit habe, "ihre Gegenposition besser darzustellen, als sie es ohne solche Verirrungen der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung hätte tun können". Und wie zur Bestätigung dieser Position erfolgte bereits am 21. August eine Pressemitteilung aus dem bayerischen Staatsministerium des Innern, in welcher Innenminister Günther Beckstein die Behauptungen der Bundesregierung in einzelnen Punkten widerlegt.

Für die Nutzbarmachung des möglichen Verfassungsverstoßes der Bundesregierung durch die Union spricht auch die Tatsache, daß laut Aussage eines CDU-Pressesprechers auf Anfrage der JF keine rechtlichen Schritte gegen die Anzeigenkampagne eingeleitet werden sollen. Allerdings läuft derzeit eine Klage der FDP gegen die Bundesregierung wegen unzulässiger Verwendung von Steuergeldern zu Wahlkampfzwecken vor dem Bundesverfassungsgericht, so Jörg van Essen, parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion.


 
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