© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/02 30. August 2002

 
Das Sammeln der russischen Erde
Osteuropa: Moskau versucht erfolgreich, verlorenen Einfluß in einstigen Sowjetrepubliken zurückzugewinnen
Carl Gustaf Ströhm

Das "Sammeln der russischen Erde" war einst Aufgabe des Moskauer Großfürstentums, das im 16. Jahrhundert die benachbarten russischen Kleinstaaten unter seine Kontrolle brachte und damit die Voraussetzung für das spätere Russische Reich schuf. Manches deutet darauf hin, daß heute auch die Russische Föderation unter Wladimir Putin beginnen möchte, die (angebliche) russische Erde, die durch den Zerfall der Sowjetunion in alle Winde zerstreut wurde, wieder einzusammeln.

Das zeigt sich neuerdings am Verhältnis zwischen Weißrußland und Moskau - wobei es zu einer seltsamen Verkehrung der Fronten gekommen ist: Der halbstalinistische, autoritär-diktatorisch regierende weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko ist mit Putin aneinandergeraten, weil dieser von der 1999 gegründeten "Union" aus Rußland und Weißrußland nichts hält. Putin möchte offenbar Weißrußland völlig an Rußland anschließen, so daß Lukaschenko überflüssig würde. Der Moskauer Staatschef greift seinen seit 1994 im Amt befindlichen weißrussischen Partner wegen dessen autoritären Regierungsmethoden an. Das neue Russische Reich erscheint also als Kämpfer für Demokratie und Pluralismus im versteinerten Minsk. Vorbedingung ist allerdings, daß Minsk sich völlig an Moskau angliedert. Dieser Expansionskurs läßt sich im Westen trefflich als Demokratisierung Weißrußlands und damit als weitere Annäherung an den Westen verkaufen.

Der zweite "Sammlungsprozeß" findet, zumindest versuchsweise, im Kaukasus statt. Hier gerät die Republik Georgien unter immer stärkeren Moskauer Druck. Unter der Parole des "Kampfes gegen den Terrorismus" haben russische Kampfflugzeuge vor einigen Tagen das georgische Pankisi-Tal im nördlichen Georgien mit Bomben und Raketen angegriffen, wobei es mehrere Tote gab. Die russische Seite behauptet, das Tal - in welchem seit jeher eine tschetschenische Volksgruppe lebt - sei ein Schlupfwinkel für tschetschenische Unabhängigkeitskämpfer (russisch: Terroristen) von jenseits der nahen russischen Grenze. Die georgische Regierung wurde über diesen Luftanschlag nicht einmal verständigt.

Führende Mitarbeiter Putins - unter ihnen Verteidigungsminister Sergej Iwanow, Außenminister Igor Iwanow und Präsidentensprecher Sergej Jastrshembskij, beknien die Amerikaner mit der These, Rußland habe ein "Recht", in Georgien auch militärisch zu intervenieren - ebenso wie Israel im Westjor-danland oder die USA in Afghanistan. Schon ist von einem "Deal" zwischen Putin und US-Präsident Bush die Rede: Gib uns freie Hand in Georgien, sagen die Russen - und wir geben euch freie Hand für einen Angriff gegen den Irak.

Seit Jahren versucht Moskau, Georgien wieder in den Einfluß- und Machtbereich Rußlands zurückzulotsen, wobei das Pankisi-Tal ein Vorwand sein könnte, um weitere russische Truppen nach Georgien zu entsenden. Die bereits bestehenden russischen Stützpunkte sollen auf 15 Jahre bestehen bleiben. In den abtrünnigen georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien, in denen die Zentralregierung von Tiflis (Tbilissi) bis heute nichts zu sagen hat, sind bereits russische Soldaten als "Friedenstruppe" stationiert. Moskau hat die Sezession aktiv unterstützt.

Dabei spielen russische Erdölinteressen ebenso eine Rolle wie ein sehr persönliches Problem: Die Kremlführung haßt und verabscheut den georgischen Präsidenten Edward Schewardnadse. Der 74jährige stammt wie Putin aus dem KGB-Apparat. Als sowjetischer Außenminister (1985 - 90) unter Gorbatschow habe er, so heißt es in Moskau, aktiv an der Zerstörung der Sowjetunion mitgewirkt und sei deshalb ein Verräter, der nun auch noch die Nato in den Kaukasus bringen wolle. Das ist für die Moskauer Führung Grund genug, die Desintegration Georgiens zu betreiben, das sich zu sehr dem Westen und den Amerikanern zugewandt hat.

Eine weitere "Sammlung" der ehemals sowjetischen Erde vollzieht sich im Ostseeraum und gegenüber dem Baltikum. In Finnland hat dieser Tage der Besuch von Dimitri Rogosin, einem Sondergesandten Putins, einige Unruhe ausgelöst. Rogosin habe, wie die größte finnische Tageszeitung Helsingin Sanomat unter Berufung auf das eigene Außenministerium schreibt, die finnische Regierung ziemlich schroff und sogar drohend aufgefordert, in Brüssel dafür zu sorgen, daß die Kaliningrader Bevölkerung nicht den Schengen-Bestimmungen unterworfen wird.

Finnland dürfe sich nicht "hinter dem Rücken der EU verstecken". Sollte Finnland in der Schengen-Frage (Visumpflicht für russische Bürger, die von Kaliningrad über Litauen oder Polen nach Rußland reisen) nicht die russische Position vertreten, drohte Rogosin, dann werde Rußland seinerseits den Finnen "das Leben schwermachen".

Die baltische Problematik, die eng mit dem Problem Kaliningrad/Königsberg verbunden ist und wo die russische Position unnachgiebig hart bleibt, entwickelt sich inzwischen zu einer Art Polit-Krimi. In Litauen hatte die Regierung die wichtige Erdölraffinerie Mazekiai an ein US-Konsortium verkauft. Litauens Präsident Valdas Adamkus hatte den Einstieg der Amerikaner in die Raffinerie als wichtigen Beitrag für die nationale Sicherheit der südlichsten baltischen Republik empfohlen.

Dann aber geschah das Unerwartete: Die Amerikaner verkauften die Raffinerie an die Russen weiter, genau gesagt: An die Firma "Yukon", an der auch der international aktive russische Erdölgigant "Lukoil" beteiligt ist. In Litauen herrscht jetzt große Besorgnis: Ausgerechnet die Amerikaner, auf deren Verständnis und Hilfe man in Sicherheitsfragen vertraute, haben mit dem Mazekiai-Geschäft die wichtigste Litauische Energiequelle in die Hände Rußlands gegeben.

In Estland bahnt sich gleichfalls ein Konflikt mit den USA an. Hier will der US-Konzern NRG-Energy die estnische Regierung auf 2,4 Milliarden estnische Kronen (155 Millionen Euro) in London verklagen, weil Estland sich am Schluß weigerte, seinen Stromkonzern "Eesti Energia" an NRG zu verkaufen. Die Esten erklären, die Amerikaner hätten ihnen immer neue Bedingungen gestellt. Auch hier besteht der Verdacht, die Amerikaner seien nur eingestiegen. um bei nächster Gelegenheit an einen Meistbietenden - und das könnten der Lage nach nur die Russen sein - zu verkaufen. Estland wäre damit, wie Litauen, wieder in energetische Abhängigkeit von Moskau geraten.

Hier erfolgt also das "Sammeln der russischen Erde" auf dem Umweg über die Energiepolitik. Wenige Tage, nachdem die bürgerlich-nationale estnische Regierung von Ministerpräsidenten Mart Laar den Verkauf von "Eesti Energia" an NRG-Energy abgelehnt hatte, trat das Kabinett zurück. "Das mag Zufall sein oder auch nicht", meinte dazu ein Beobachter in der estnischen Hauptstadt. Den Balten bleibt das bittere Gefühl, daß die Machtspiele der Großen wieder einmal auf ihrem Rücken ausgetragen werden.


 
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