© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/02 30. August 2002

 
Herrschaft des Pragmatismus
Die aktuelle Shell-Studie verspricht Einblicke in die Lebenswelt der Jugendlichen in Deutschland / Ihre Aussagen sollten kritisch beleuchtet werden
Georg Alois Oblinger

Anfang der achtziger Jahre hat Elisabeth Noelle-Neumann, die Grande Dame der Meinungsforschung, ihre vieldiskutierte These von der "Schweigespirale" aufgestellt: Jeder Mensch legt Wert auf Anerkennung. Daher wird er kaum wagen, seine Meinung zu äußern, wenn die Mehrheit anders denkt. Schweigen nun aber alle, die die öffentliche Meinung nicht teilen, erhält die Mehrheitsmeinung noch mehr Gewicht und wird schließlich zur dominierenden, allseits akzeptierten Auffassung - selbst wenn die Andersdenkenden zahlenmäßig fast gleichstark sind oder mittlerweile sogar zur schweigenden Mehrheit geworden sind.

Die These von Frau Noelle-Neumann hat heute immer noch Gültigkeit. Gerade junge Menschen wollen anerkannt sein - besonders bei Gleichaltrigen. Sie interessieren sich stark für das, was gerade "in" ist. Die soeben veröffentlichte 14. Shellstudie - zum doppelten Jubiläum: 50 Jahre von Shell geförderte Jugendforschung und 100 Jahre Shell in Deutschland - beginnt daher auch ihren Fragekatalog an 12- bis 25jährige, die in einer repräsentativ zusammengesetzten Stichprobe persönlich befragt wurden, mit der Frage: "Was ist ihrer Meinung nach bei Jugendlichen heute ‚in' und was ist ‚out'?" Sofort wird bei den 2.515 Jugendlichen, die zwischen Mitte März und Mitte April befragt wurden, der Blick auf die Mehrheitsmeinung bei Gleichaltrigen gelenkt und der "Schweigespiralenreflex" aktiviert.

Hätte man die Frage gestellt: "Was ist ihnen wichtig im Leben?", hätte sich der beschriebene Effekt wohl auch nicht vermeiden lassen. Doch durch die Frage nach "in" und "out" erhält man garantiert noch "korrektere" Antworten. "In" ist also bei den Jugendlichen Aussehen (88 Prozent), Karriere (82 Prozent) und Technik (81 Prozent). Den vierten Platz teilen sich kurioserweise Treue und Markenkleidung mit je 78 Prozent.

Abgeschlagen auf dem letzten Platz liegen mit einer Zustimmung von je 25 Prozent "sich in die Politik einmischen" und "Drogen nehmen". Beide Punkte hätten wohl bei anderer Benennung mehr Zustimmung erhalten. Wer sagt wohl gleich, er wolle Drogen nehmen? Drogen legalisieren oder zumindest akzeptieren, das sind Forderungen, die für viele Jugendliche wesentlich sympathischer klingen. Vielleicht hätte auch die Politik mehr Freunde gefunden, wenn man nicht Menschen gesucht hätte, die sich "einmischen", sondern die "gestalten". Eine Frage kann die sicherlich vorhandene resignative Haltung der Jugend noch fördern oder aber die Jugendlichen motivieren - und gerade dies täte not.

Ebenso wie das Schielen nach dem, was gerade angesagt ist, entspricht auch die Neigung, sich politisch in der Mitte einzuordnen ganz der Theorie der Schweigespirale. So sollten Jugendliche auf einer Skala von 0 (=links) bis 10 (=rechts) sich selbst politisch einordnen (siehe Graphik). In Zeiten, in denen jeder sich als "neue Mitte" bezeichnet und keine Kriterien für diese Einordnung allgemeine Anerkennung finden, sagt das Ergebnis hier natürlich weniger über die politische Ausrichtung der Jugend aus als über die Tendenz, im Mainstream mitzuschwimmen, um nur ja nirgendwo anzuecken. Das Phänomen läßt sich weiter verfolgen bei der Frage nach dem Erziehungsstil.

Die Shell-Studie verbindet hier die Frage, ob man selbst eher streng oder nicht streng erzogen wurde, mit der Frage, ob man seine Kinder nun ebenso oder anders erziehen wolle. Doch wer sagt, was streng ist? Welche Kriterien gelten hier? Wahrscheinlich wird wohl der seine eigene Erziehung als streng bezeichnen, der sie als zu streng empfindet und deshalb seine Kinder anders erziehen möchte. Sind die Fragen der Studie derart formuliert, dann ist die Antwort schon ebenfalls darin enthalten.

Antworten abhängig von "sozialer Erwünschtheit"

Interessant ist auch, wie man die Themen Überfremdung, Familienbild, Toleranz und Behinderung untersucht. Alle diese Themen werden nämlich gemeinsam in einer einzigen Frage abgehandelt: "Fänden Sie es gut, wäre es Ihnen egal, oder fänden Sie es nicht so gut, wenn in die Wohnung nebenan folgende Menschen einziehen würden?" Nun folgt die Auflistung: "ein homosexuelles Paar (Schwule, Lesben), eine Aussiedlerfamilie aus Rußland, eine deutsche Familie mit vielen Kindern, eine Wohngemeinschaft mit mehreren Studenten, eine deutsche Familie, die von Sozialhilfe lebt, eine Familie aus Afrika mit dunkler Hautfarbe, eine Familie mit einem behinderten Kind."

Es werden zahlreiche Probleme und Konfliktfelder unserer Gesellschaft angesprochen, aber nicht wirklich behandelt. Eine ausführlichere und differenziertere Behandlung dieser Themen wäre angemessen gewesen. Welche Probleme ganz konkret bei den angesprochenen Gruppen auftreten und wie stark die Befragten diese gewichten - das wäre interessant zu erfahren. Die Shell-Studie aber begnügt sich damit, den sogenannten "Toleranzindex" zu ermitteln. Ergebnis: Insgesamt 48 Prozent der Jugendlichen in den alten und 54 Prozent in den neuen Bundesländern sprechen sich gegen eine oder mehrere der genannten Bevölkerungsgruppen aus. Vorbehalte werden um so häufiger geäußert, je weiter rechts sich der Befragte selbst positioniert hat.

Die größte Ablehnung erfährt übrigens die "russische Aussiedlerfamilie" (25 Prozent), die geringste die "Familie mit behindertem Kind" (4 Prozent). Im Kommentar zur Studie gestehen die Verfasser ein, daß sich durch solche Frageformulierung nicht verhindern läßt, "daß das Antwortverhalten der Jugendlichen von einem in der sozialwissenschaftlichen Forschung mit dem Begriff der ‚sozialen Erwünschtheit' belegten Effekt begleitet sein dürfte." Das Phänomen Schweigespirale greift wieder.

Auch von anderen Methoden der Suggestion wird in der Jugendstudie Gebrauch gemacht: Manchmal vermag auch die Reihenfolge der aufgeführten Antworten eine herrschende Meinung vorzulegen und zu bekräftigen. Dies läßt sich beobachten beim Thema Werte, das mit folgender Frage eingeleitet wird: "Wenn Sie einmal daran denken, was Sie in Ihrem Leben eigentlich anstreben: Wie wichtig sind dann die folgenden Dinge für Sie persönlich?" Und Daran schließt sich eine Auflistung von 24 verschiedenen Werten an (siehe Graphik). Bezeichnenderweise wird "an Gott glauben" als letztes genannt. Wird auch von den Verfassern der Studie Gott nur als mehr oder weniger entbehrliche Zugabe gesehen? Kein Wunder, daß dieser Wert bei den befragten Jugendlichen weit hinten gesehen wird: Platz 19 von 24. Im Trend liegen Freundschaft, Partnerschaft, Familienleben, Eigenverantwortung, viele Kontakte und Kreativität. Es läßt sich beobachten, daß die weibliche Jugend auf das Soziale, die Natur und die Religion mehr Wert legt als Jungen oder junge Männer. Die Wertschätzung für Religion fällt noch schlechter aus, wenn man ausschließlich das Votum der deutschen Jugendlichen berücksichtigt. Denn die befragten ausländischen Jugendlichen messen der Religion einen deutlich höheren Stellenwert zu. Es wird immer fraglicher, welche Religion in Zukunft unser Land prägen wird. Islam und Heidentum scheinen gleichermaßen das Christentum weit hinter sich zu lassen.

Die gestellten Fragen versuchen zwar die politische und die technische Zukunft zu erfassen. Starkes Interesse richtet sich dabei vor allem auf die Medien, insbesondere das Internet. Was aber fehlt, sind Fragen nach Lebensinhalten und Zielen, die über den angestrebten Schulabschluß hinausgehen. Genau hier müßte man ansetzen, wollte man den Jugendlichen Orientierung geben oder auch nur eine defizitäre Orientierung nachweisen oder hinterfragen. Aber den Organisatoren der Studie scheint es selbst an Werten - mehr noch: am Interesse für Werte zu fehlen. Ganz anders geht das Meinungsforschungsinstitut in Allensbach an diese Thematik heran. Schon seit vielen Jahren wird hier ein Schwerpunkt gesetzt in der Glücksforschung: Welcher Mensch fühlt sich glücklich? Wie lassen sich dauerhaftes Glück und Zufriedenheit erreichen? Bei diesen Fragen wird der Unterschied zwischen oberflächlichem Spaß und wahrem Glück sichtbar. Dann erlangen genau die Werte Bedeutung, die viele schon für längst überholt halten: Glaube, Familie, Treue, Nation, Arbeit und Mäßigkeit.

Die Shell-Jugendstudie erwähnt das Wort "glücklich" nur einmal in ihrem Fragekatalog mit 97 Fragen: "Meinen Sie, daß man eine Familie braucht, um wirklich glücklich zu sein?" Die große Zustimmung von 70 Prozent (bei der weiblichen Jugend sogar 75 Prozent) überrascht den nicht, der weiß, daß dieser Wert für ein glückliches Leben konstitutiv ist, und daß man dadurch, daß man den Blick der jungen Menschen auf das spätere Leben lenkt, bei unverbogenen Jugendlichen diese Einsicht auch erreichen kann. Leider kommen Fragen wie diese bei der Shell-Studie deutlich zu kurz. Am fragwürdigsten wird die Studie aber dort, wo sie versucht, die heutigen Jugendlichen in vier Typen einzuteilen. Es gibt den pragmatischen Idealisten, den robusten Materialisten, den selbstbewußten Macher und den zögerlichen Unauffälligen. Davon abgesehen, daß jede Typisierung problematisch ist, da der Einzelne sich nie kategorisch einordnen läßt und stets eine Mischung unterschiedlich starker Anteile aller Typen darstellt, so liegt hier zusätzlich der Verdacht nahe, man wollte ein handfestes Ergebnis, um das heute so vielfältige Erscheinungsbild der Jugend greifen zu können und den verunsicherten Erwachsenen (und auch den Meinungsforschern selbst) feste Verhaltensrichtlinien im Umgang mit der Jugend zu geben. Die Verfasser der Studie scheinen hier selbst sehr pragmatisch gehandelt zu haben.

Mehr Übereinstimmungen zwischen Kindern und Eltern

Dazu passen auch die Portraits der Jugendlichen, die das letzte Drittel des 450 Seiten starken Buches ausmachen. Fünf Jugendliche werden ausführlich porträtiert, weitere sechzehn kurz. Die Auswahl ist bezeichnend: eine Greenpeace-Aktivistin, ein Computer-Freak, ein Nationalist, ein Schwuler, eine Lesbe, ein Juppie, zwei Punks, ein Ausländer, eine engagierte Globalisierungsgegnerin und weitere Jugendliche, die sich leicht in eine bestimmte Schublade einordnen lassen. Die Minderheiten scheinen hierbei stark überrepräsentiert. Trotz einiger Bemühungen gleitet die Studie deutlich ins Klischeehafte ab. Angestrebtes Ziel scheint dabei wohl die Werbung für mehr Toleranz. Gezeigt wird eine Gesellschaft, in der Menschen mit unterschiedlichen politischen und moralischen Auffassungen friedlich nebeneinander leben. Die Multi-Kulti-Gesellschaft - so soll gezeigt werden - hat sich längst etabliert und wird allgemein anerkannt. Wer da anderer Meinung ist, wird wohl schweigen...

Das von den Verfassern der Studie gezogene Fazit lautet: Während sich früher die Jugendlichen oft gegen die Generation ihrer Eltern auflehnten, herrscht heute zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern eine große Übereinstimmung: Fast 90 Prozent der Jugendlichen geben an, daß sie mit ihren Eltern gut klarkommen. Knapp 70 Prozent wollen ihre Kinder ungefähr so erziehen, wie sie selbst erzogen worden sind.

Interessant ist auch ein zweites Ergebnis: Jugendliche orientieren sich heute weniger an Werten, sondern handeln verstärkt pragmatisch. Dem Leser stellt sich die Frage: Erstreckt sich die Übereinstimmung auch auf den Mangel an Werten und den zunehmenden Pragmatismus? Hat der Verlust der Werte schon in der Elterngeneration begonnen und setzt sich nun lediglich fort?


 
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