© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/02 30. August 2002

 
Die Sicht einer Stute
Freilufttheater: "Lauf Katinka", ein Volksschauspiel zur Kosakentragödie
Carl Gustaf Ströhm

Geschichte vergeht nicht - und wenn man meint, das einst Geschehene sei endgültig vergessen, taucht es unerwartet wieder aus dem Dunkel auf und beschäftigt die nachwachsenen Generationen. Das zeigte sich im heurigen Sommer im Kärtner Gailtal, dem südlichsten Alpental Österreichs.

57 Jahre nachdem sich hier am Ende des Zweiten Weltkrieges eine der großen Tragödien (und ein furchtbares Verbrechen) vollzogen hatte, erinnerten sich die Einheimischen an das damalige Geschehen: an den Zug zehntausender russischer Kosaken, die an der Seite der Deutschen gegen die Sowjets gekämpft hatten, über den Plöckenpaß von Norditalien ins österreichische Kötschach-Mauthen und von dort weiter nach Lienz in Osttirol, wo sie sich der britischen Armee ergeben wollten.

Die Kosaken hatten 1942 die deutschen Armeen, die das Gebiet zwischen Don und Kuban - die Heimat dieses Reiter- und Grenzervolkes - besetzten, als Befreier begrüßt und waren der Wehrmacht beim Rückzug nach Westen gefolgt - aus Furcht vor weiteren sowjetischen Repressalien. Die Kosaken wurden in die Wehrmacht eingegliedert. Ihr Befehlshaber wurde der deutsche General von Pannwitz. Mit den Kosaken zogen auch ihre Familien: Frauen, Kinder und alte Leute, nach Westen. Aber die Hoffnung auf die Briten und den Westen wurde grausam enttäuscht: statt Asyl und eine neue Zukunft außerhalb der Reichweite ihrer Todfeinde, der sowjetischen Kommunisten, lieferte die britische Armee sie an die Bolschewisten aus. Hunderte von Kosaken begingen Selbstmord, Frauen sprangen mit ihren kleinen Kindern in die reißende Drau: Sie wollten lieber sterben, als in bolschewistische Hände zu fallen.

Hier beginnt die Handlung eines ungewöhnlichen Theaterstücks, das in den vergangenen Sommertagen auf einer Freilichtbühne von österreichischen Schauspielern aufgeführt wurde: die Kosakentragödie "Lauf Katinka!" des Innsbrucker Autors Ekkehard Schönwiese. Katinka ist ein Kosakenpferd, das einem hohen Kosakenoffizier gehörte. Während die Briten die Kosaken auslieferten, behielten sie deren Pferde für sich - als "Kriegsbeute Seiner Majestät". Am gleichen Tag, als der Kosakenoffizier in Moskau durch den Strang hingerichtet wurde, trug seine edle Stute beim Pferderennen der 46. und 47. britischen Division für die Farben des 8. Argyll-Bataillons den Sieg davon.

Das Schauspiel zeigt die damaligen Ereignisse aus der Perspektive der Stute Katinka. Das Stück ist dichterisch überhöht, in den Grundzügen aber dokumentarisch. Es treten historische Personen auf: so der Kosaken-Ataman Domanow, der gleichfalls in Moskau hingerichtet wurde, und der britische Major Davies, der im Auftrag des britischen Oberkommandos als Verbindungsoffizier fungierte (und der später wegen des Geschehens, das er nicht ändern konnte, in tiefe Schwermut versank).

Bemerkenswert ist das von der "Theaterwerkstatt Dölsach" herausgegebene Programmheft. Hier liest man, mit der Beschlagnahme der Pferde habe der "Verrat" der Briten an den Kosaken begonnen. Major Davies erhielt den Befehl, die Kosakenoffiziere zu einer Konferenz mit britischen Offizieren einzuladen. Wörtlich: "Dieser Trick war der Beginn der Deportation der Kosaken ..."

Beachtung verdient auch ein Grußwort des Bürgermeisters der kleinen Gemeinde Dellach, auf deren Freilichtbühne das Stück - übrigens stets ausverkauft - aufgeführt wurde. Es gebe noch einige unbewältigte Geschichtsabschnitte, meinte Bürgermeister Christoph Zerza - und deren Schatten reichten bis in die Gegenwart. Nach den "Zwangsemigrationen" seien einzelne "Ethnien" noch nicht am Ende ihres Leidensweges angelegt. "Weil die Vergangenheit übergangen wurde, wird das Zusammenwachsen der europäischen Staaten erschwert."

Es ist auf den ersten Blick erstaunlich, wie ein Dorfbürgermeister die Zusammenhänge deutlicher durchschaut als manche Politiker oder Intellektuellen. Aber das ergibt sich vielleicht aus der Nähe zum Geschehen: die dramatischen Ereignisse spielten sich buchstäblich in Sichtweite der kleinen Gemeinde ab. Bis auf einige ältere Bewohner, die die Kosakentragödie als Halbwüchsige vom Straßenrand aus mit angesehen haben, gibt es keine lebenden Zeugen mehr. Aber die Nachgeborenen haben von ihren Eltern und Großeltern davon erfahren, sie bildeten jetzt, neben deutschen und italienischen Feriengästen, die große Mehrheit der Theaterbesucher.

"Seit der Antike besteht Theater aus Trauern und Klagen zum Zweck der Versöhnung mit schicksalhaften Ereignissen", ist weiter im Programmheft zu lesen. Diesem Ziel sind Autor und Ensemble sehr nahegekommen. Hier wurde abseits von üblichen Regie-Gags und Effekthaschereien wirklich Theater gespielt, ohne erhobenen Zeigefinger. Ewas vom Geist antiker Tragödien wehte an diesen Sommerabenden über dem Gailtal. Auch wer vorher noch nie etwas von der "Tragödie an der Drau" gehört hatte, ging tief nachdenklich und berührt vondannen.

Die Kosaken haben fast alle mit dem Leben bezahlt. Ihre Offiziere und Atamane wurden in Moskau gehenkt. Die meisten Soldaten und Zivilisten endeten im Gulag. Ausgeliefert und hingerichtet wurden auch jene Kosakenoffiziere, die niemals sowjetische Staatsbürger waren: wie etwa der greise General und Ataman der Donkosaken, General Krasnow, dessen Buch "Vom Zarenadler zur Roten Fahne" einst im Deutschland zwischen den Weltkriegen ein Bestseller war. Hingerichtet wurde auch der deutsche General von Pannwitz, der seine Liebe zu den Kosaken mit dem Galgen bezahlen mußte. Nur die Stute Katinka überlebte in einem vornehmen britischen Gestüt.


 
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