© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    36/02 30. August 2002

 
Der russische Bär hat schwache Glieder
Michael Thumann nähert sich dem postsowjetischen Rußland, das als euro-asiatische Großmacht keineswegs homogener geworden ist
Manfred Backerra

W er sich für Rußland interessiert, fragt sich oft "Warum ist Rußland so?", das heißt, so anders als es nach unseren Maßstäben zweckmäßig wäre. Michael Thumann, fünf Jahre lang Moskauer Korrespondent für Die Zeit, findet in seinem an gut belegten Fakten äußerst reichen, dabei flüssig zu lesenden Buch viele Antworten, die sich entsprechend dem Untertitel aus dem Ringen um Einheit und Größe ergeben. Durch das imperiale Ausgreifen über den originär russischen Siedlungsraum hinaus wuchs Moskau seit dem 16. Jahrhundert zum bis noch heute flächenmäßig größten Kolonialreich der Geschichte. Mit der Macht wuchs aber auch aus Sicht der Herrschenden die Bedrohung der Einheit des Reiches aus über einhundert Ethnien und der Zwang, sie mit allen Mitteln zu erhalten oder wiederzugewinnen.

Die Russifizierung nichtrussischer Völker in der Spätphase des Zarenreichs hat der Bolschewismus einerseits auf die Spitze getrieben, andererseits aber den Deckmantel der Förderung der Nationalitäten darüber ausgebreitet, die manchen sogar eine eigene Schriftsprache bescherte. Beides hat ihren Nationalismus gefördert, was nach dem Zusammenbruch nicht nur zum Verlust vieler jetzt als Staaten selbständiger Gebiete im Süden und Westen der Sowjetunion geführt hat, sondern auch zu mancher Quasi-Eigenstaatlichkeit der 89 Föderationssubjekte in Form von Republiken, Regionen, Gebieten, den Städten föderalen Ranges Moskau und St. Petersburg und vielen Bezirken. Obschon der Anteil der Russen heute mit fast 81 Prozent im Vergleich zum Zarenreich (44 Prozent) und zur Sowjetunion (knapp 51 Prozent) überwältigend ist, sieht Moskau große Gefahren für die Einheit. Sie will man wie zur Zarenzeit mit verstärkter Zentralisierung bannen.

Diese Sicht ist nicht nur in der nationalen Eigenwilligkeit der Tataren und Baschkiren sowie der Unbändigkeit der Tschetschenen begründet. Da es sich in den oft unwirtlichen Randgebieten mit wichtigen Bodenschätzen, wie Jakutien und Burjatien, nicht mehr rechnet, Siedlungen mit dem für Russen erforderlichen zivilisatorischen Standard aufrechtzuerhalten, zieht sich der russische Bevölkerungsanteil mehr und mehr in die Städte westlich des Urals zurück. Ostwärts davon leben noch gerade 27 Millionen, in Fernost noch sieben Millionen. Fernost und Amurgebiet, 9.000 Kilometer von Moskau entfernt, können sich der legal und illegal einsickernden, wirtschaftlich aktiven Chinesen kaum erwehren. Es herrscht "Maloljudije", Menschenmangel wie zur Zeit der Kolonisierung, aber im Gegensatz zu damals mit negativem Trend. Der durchaus unterstützte Rückstrom der vielen "naschi", der "unsrigen" (Russen) aus den selbständig gewordenen Republiken Zentralasiens und des Kaukasus geht ins zivilisierte Rußland, kann den Trend also nicht umkehren und erschwert erst recht eine Restauration des früheren Imperiums.

Jelzin bestärkte zunächst die Selbständigkeitsbestrebungen von Republiken, nahm dadurch Dampf aus dem Kessel und stärkte seine Position gegenüber Gorbatschow. Dann sicherte er seine Oberhoheit durch individuelle Verträge mit den Föderationssubjekten, opferte aber dafür die Rechtsgleichheit in der Föderation. Putin hat nun das Problem, die Rechtsgleichheit und den Durchgriff der Zentrale wiederherzustellen. Er muß jedoch wieder die Lokalfürsten für ihre Entmachtung (auch durch sieben Quasi-Generalgouverneure nach dem kurzlebigen Muster Katharinas der Großen) mit Zugeständnissen bedenken. Immer wieder wird die russische Führung von den Sünden ihrer Vorgänger eingeholt. Tschetschenien wurde ein Desaster, das Putins zweiter Anlauf der nationalen Ehre halber (Armee-Oberbefehlshaber in Tschetschenien: "Wir kämpfen für die Wiederherstellung der zertrampelten Ehre unseres Vaterlandes.") mit sehr hoher Zustimmung der Intelligenz und der neuen Reichen korrigieren sollte. Das brutale Vorgehen schuf jedoch erst den islamistischen Einfluß, den es bis dato gar nicht gab.

Apropos "national". Was ist das in der bewußt rußländisch (rossijskaja) und nicht russisch (russkaja) genannten Föderation? Die Russen fühlen sich seit sowjetischer Zeit benachteiligt, weil sie im Gegensatz zu den anderen Ethnien keine eigenen Föderationsrepubliken erhielten, sondern nur Gebietseinheiten niederen Ranges. Sie förderten somit die regionale Entwicklung der anderen Völkerschaften, haben sich selbst dabei aber nicht an der Spitze dieser Konstruktion halten können. So ist es verständlich, daß sie in erster Linie das Russische als das Bestimmende sehen und fordern. Entsprechend sah auch das unbefriedigende Ergebnis für die von Jelzin per Preisausschreiben gesuchte "gesamtnationale/ rußländische/russische Idee" aus.

In den zwar bevölkerungsmäßig kleinen, aber wegen ihrer territorialen Größe, Rohstoffe oder spezialisierten Industrie wichtigen Föderationssubjekten anderer Ethnien sieht man das natürlich anders. Hier stellt sich russische Vereinheitlichung oft als Angriff auf den eigenen Lebensstil dar, oder sie verwandelt wie schon zur Zarenzeit (beispielsweise muslimische) "Tradition in Kriminalität". Auch wenn gutmeinend die Angabe der Nationalität im Paß abgeschafft werden soll, schafft das Empörung. Diese Angabe ist vom Belieben der Person abhängig, jeder könnte sich als Russe ausgeben. Daß dies nicht geschieht bezeugt die Kraft der Ethnien gegenüber den generationenlangen russischen Assimilierungsversuchen. Dies führt beispielsweise in Tatarstan auch zur Einführung des lateinischen Alphabets für das Tatarische und damit zu einem kulturellen Kleinkrieg mit der Moskauer Zentrale. Was ist eigentlich das Problem, fragt man sich. Im Zarenreich durften sie arabisch und in der Sowjetunion mußten sie bis nach Kriegsende sogar lateinisch schreiben.

Man gewinnt den Eindruck, daß die russische Führung viele Probleme nicht hätte, wenn sie verständnisvoller mit der nicht nur ethnischen Vielfalt ihres Riesenlandes umginge und ein nicht nur dem Namen nach föderales System schaffte, zumal die Gebietsfürsten sich nach dem Zerfall der Sowjetunion fast zehn Jahre lang nicht nur korrupt, sondern auch fähig gezeigt haben, staatliches und wirtschaftliches Leben aufrechtzuerhalten. Wenn Moskau sich nur darauf beschränkte, das für die Einheit des Landes unbedingt Notwendige durchzusetzen, hätte es genug zu tun: Von 16.000 Gesetzen der Föderationssubjekte in der Einjahresfrist 1995/96 verstieß die Hälfte gegen die Verfassung oder Gesetze der Föderation!

Doch solch eine weise Beschränkung ist schwer, denn gemäß Putin wurde von Anfang an "Rußland als superzentralisierter Staat geschaffen. Das ist in Rußlands genetischem Code verankert, in den Traditionen, in der Mentalität der Menschen." So wird er, der wirklich reformieren will, weiter versuchen, mit einer starken "Machtvertikalen" und seiner "Diktatur des Gesetzes" bis hin zur örtlichen Polizei zu herrschen, und die Provinzfürsten werden, wie seit Jahrhunderten üblich und auch von Putin notgedrungen zu tolerieren, flexibel ihre eigenen Wege gehen, was durchaus auch für das Land nützlich sein kann, sofern es nicht nur eigensüchtige Renitenz ist.

Rußlands Zukunft? Weder russischer Nationalstaat noch multiethnischer Bürgerstaat, weder imperialistisch noch wirklich im westlichen Sinne zivilisiert, weder europäisch noch asiatisch, weder ganz diktatorisch noch wirklich demokratisch, weder perfekt zentralistisch noch wirklich föderal, mit Reformen und Rückwärtsgang, irgendwie marktwirtschaftlich, doch staatsgläubig, Freiheit des Einzelnen und Primat des Kollektivs, Orthodoxie als Stütze des Staates und Staat als Garant der Religionsfreiheit, Suche nach Ruhe in harmonischer Einheit, doch auch Verehrung der "mythischen Größe". Diese Spannungspaare sieht Thumann expressis verbis oder implizit, denn "die russische Elite hat sich nicht entschieden, welchen Staat sie will" und "die russischen Führer scheuen eine klare, unumkehrbare Entscheidung". "Rußlands Zukunft hängt auf lange Sicht von Entwicklungen ab, welche die Moskauer Regierung nur schwer beeinflussen kann: die Migration von Millionen, der Aufstieg Chinas, die Renaissance des Islam und bisher immer noch der Ölpreis."

Auch wenn die Russen, denen der Autor hier offenbar folgt, das anders sehen: Nicht Iwan IV. hat mit der Eroberung Kasans und Astrachans die Goldene Horde zersplittert; sie hatte sich schon fast hundert Jahre vorher aufgelöst; beides waren längst selbständige Khanate, das mongolische Weltreich schon Vergangenheit. "Der Blick vieler Deutscher" war entgegen der Meinung des Autors nicht "getrübt von Vorurteilen", denn Bezeichnungen wie: "Völkerkerker", "Steppengeier" sowie die Aussage, daß Rußland seine Stärke dadurch erwarb, "daß es in den Fertigkeiten des Sklaventums zum Virtuosen wurde" (Karl Marx) bringen exakt auf den Punkt, was feststellbar war. Das Marx-Urteil hatte sogar schon vorher der Reichshistoriker Karamsin (um 1800) gefällt, der das Verhalten der Russen als von der "schlauen Niedertracht der Sklaverei" geprägt sah. Es dreht sich also nicht um "Vor"-Urteile, sondern höchstens um zu einseitige Urteile.

Das empfehlenswerte Buch schreibt ein sprach- und sachkundiger Autor, der bei aller Sympathie für sein Gastland und dessen Menschen Rußland in seiner Eigenart mit nüchternem Sinn betrachtet. Seine plastische Beschreibung läßt zu, daß der Leser sich selbst ein Urteil bilden kann. Nicht zuletzt wird er dabei auch erkennen, daß weltbeglückende deutsche Wertmaßstäbe für ein realistisches politisches Urteil über die Möglichkeiten, mit Rußland auszukommen, wenig geeignet sind. Rußland sei eben "nicht mit einer beliebigen Elle zu messen", wie der in mit den deutschen Verhältnissen vertraute Tjutschew schon vor 150 Jahren erkannte. Da sich das Buch trotz seines Tiefganges zum Verschlingen eignet, ist zu hoffen, daß es auch Politiker und ihre Berater zur Kenntnis nehmen, um zukünftig nicht noch einmal Europas politische Grenzen uninstruierterweise an den Ural (Charles de Gaulle) oder sogar nach Wladiwostok (Richard v. Weizsäcker) zu verlegen.

 

Michael Thumann: Das Lied von der russischen Erde - Moskaus Ringen um Einheit und Größe. DVA, Stuttgart/ München 2002, geb., 280 Seiten, 19,90 Euro


 
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