© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   37/02 06. September 2002


Mit der Faust auf den Tisch

Hamburgs Innensenator Schill provozierte mit einer Brandrede im Bundestag
Alexander Griesbach

Große Empörung herrschte in der vergangenen Woche nach der Bundestagsdebatte zu den Folgen der Flutkatastrophe. Anlaß war eine Rede (siehe vollständige Dokumentation auf Seite 6), die der Hamburger Innensenator Ronald Schill überraschend zum Thema "Maßnahmen zur Bewältigung der Hochwasserkatastrophe" gehalten hat. Es ist selten, daß Landesminister ihr Rederecht in dieser Weise nutzen, wie dies Schill, Chef der "Partei Rechtsstaatlicher Offensive" getan hat.

Große Erregung herrscht bis heute über den Wahlkampf-Coup des "Rechtspopulisten" Schill. Selbst CDU-Vize Volker Rühe wollte der PDS in ihrer polemischen Kritik in nichts nachstehen. Rühe, der in seiner Zeit als Bundesverteidigungsminister ob seiner fragwürdigen Führungsmethoden gerne als "Rambo" bezeichnet wurde, polterte, Schill habe die "Flutopfer verhöhnt". Er sei als Senator "eigentlich nicht mehr tragbar". Hamburgs Erster Bürgermeister Ole von Beust (CDU) lamentierte darüber, daß Schill für "eine Rede diesen Inhalts nicht das Mandat des Senats" gehabt habe.

Was war geschehen? Schill hat sich erdreistet, eine Rede vor dem Deutschen Bundestag zum Anlaß zu nehmen, mit den Konsequenzen der Symbolpolitik der Berliner politischen Klasse abzurechnen. Eine derartige Abrechnung war im Protokoll dieser denkwürdigen Bundestagssitzung freilich nicht vorgesehen. Schill sollte sich einreihen in die große Konsensveranstaltung, zu der die Politik in Deutschland inzwischen, darüber sollte auch der laufende Wahlkampf nicht hinwegtäuschen, herabgesunken ist. Entschiedenheit in der Sache und die daraus resultierende Folge, nämlich Streit, widerstrebt den Konsenssüchtigen im Berliner Reichstag. Was immer zum Gegenstand eines Streites taugt, von der Zuwanderungsfrage bis hin zur Osterweiterung der EU, wird einmütig für nicht "wahlkampftauglich" erklärt. Die Schicksalsfragen der Nation spielen im politischen Kurs der Etablierten bestenfalls eine marginale Rolle.

Sechs Jahre nach der Wiedervereinigung zog der ehemalige sächsische Justizminister Steffen Heitmann eine trübe Bilanz, die heute mehr denn je Gültigkeit hat. Heitmann konstatierte damals, daß die Individualisierung und Ökonomisierung der Gesellschaft fortgeschritten sei, daß die Kriminalität und die Höhe der Arbeitslosenzahl steige, daß die Schrumpfung und Überalterung der deutschen Bevölkerung voranschreite. Er mahnte nachdrücklich die Sanierung des deutschen Staatshaushaltes an. Geschehen ist unterdessen so gut wie nichts. Es wird zwar viel von Reformen und Reformbereitschaft geredet. Reformerischen Eifer zeigten die in Berlin vertretenen Parteien freilich nur im Hinblick auf den Ausbau der staatlichen Parteienfinanzierung. Kein anderer Haushaltstitel, so stellte der Publizist Konrad Adam soeben völlig zu Recht fest, werde "so oft, so schnell und gründlich revidiert" - zugunsten der im Berliner Reichstag vertretenen Parteien, versteht sich. Kein Wunder, daß sich das Gefühl, keine Wahl mehr zu haben, wie Mehltau über das Land gelegt hat. Eine "Stimmung verbissener Apathie" habe sich - so Adam - in Deutschland ausgebreitet. Er kommt schließlich zu dem Ergebnis: "Kein einziges Reformvorhaben wird weiterkommen, solange man nicht im Zentrum dieser Obstruktionsmacht, bei den Parteien" ansetze.

Auch Meinhard Miegel, Leiter des Bonner Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft, unterstrich gemünzt auf die Lage in Deutschland: Desinformiert und politisch fehlgeleitet sei die Bevölkerung in eine Falle gelaufen, der nur schwer und unter großen Opfern zu entkommen sei. Damit dies gelinge, müsse diese "unverzüglich mit der sich rapide verändernden Wirklichkeit konfrontiert werden - je schonungsloser, desto besser".

Vor diesem Hintergrund kommt der Rede von Ronald Schill, ungeachtet ihrer Intentionen bezüglich des laufenden Wahlkampfes, so etwas wie eine historische Dimension zu, weil er den Mut für die von Miegel angemahnte "Schonungslosigkeit" aufbrachte. Denn in der Tat muß man sich mit Schill fragen, was "aus Deutschland geworden ist", wenn die für die Hilfe nach der Flutkatastrophe benötigten sieben Milliarden Euro nicht anders aufgebracht werden können als durch faktische Steuererhöhungen. Völlig zu Recht fragt Schill: "Wie konnte es dazu kommen, obwohl doch die Menschen unseres Landes anerkanntermaßen zu den Tüchtigsten Europas gehören?"

Ist es nicht legitim, wenn Schill die verschwenderische Art und Weise anklagt, mit der deutsche Politiker in den vergangenen Jahrzehnten mit den Steuergeldern umgegangen sind? Klagt Schill nicht zutreffend diejenigen Politiker an, die sich darin gefallen haben, "in den letzten Jahrzehnten mit dem Kelch der Barmherzigkeit, gefüllt mit deutschen Steuergeldern", durch die ganze Welt gezogen zu sein und bei Katastrophen die betroffenen Menschen nach Deutschland geholt zu haben? Stimmt es nicht, daß jeder, der dagegen opponiert, "als ausländerfeindlich bzw. als menschenunfreundlich" diffamiert wird?

Schill sprach weiter davon - auch dies ist ein Aspekt der "Apathie" in Deutschland -, daß die Deutschen an den wichtigsten Entscheidungen nicht beteiligt würden, "daß sie faktisch entmündigt werden, wenn es um die Fragen geht, ob Deutschland ein Einwanderungsland werden soll oder ob es eine EU-Osterweiterung geben soll". Der Bürger werde nicht gefragt. Eine Alternative gebe es angeblich nicht. Deswegen müsse es, so Schill, in wichtigen Fragen, wie in anderen europäischen Nationen üblich, "endlich so etwas wie Volksabstimmungen geben". Es sei in diesem Zusammenhang in Erinnerung gerufen, was der renommierte Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim in seinem Buch "Das System. Die Machenschaften der Macht" feststellte: "Jeder Deutsche hat die Freiheit, Gesetzen zu gehorchen, denen er niemals zugestimmt hat; er darf die Erhabenheit des Grundgesetzes bewundern, dessen Geltung er niemals legitimiert hat; er ist frei, Politikern zu huldigen, die kein Bürger je gewählt hat, und sie üppig zu versorgen - mit seinen Steuergeldern, über deren Verwendung er niemals befragt wurde."

"Die Parlamente", das wußte bereits der Staatsrechtler Carl Schmitt, "sind zu Zusammenkünften sachlich gebundener Beauftragter von Partei- und Interessenorganisationen geworden, die mit fortschreitender Politisierung des gesellschaftlichen Pluralismus und der entsprechenden Auflösung der politischen Einheit mehr und mehr den Charakter von Diplomatenkonferenzen annehmen."

Diese "Diplomatenkonferenz" hat Schill völlig undiplomatisch gestört, wofür ihm aller Respekt gebührt. Nicht viele bringen in diesem Land noch den Mut auf, sich gegen die etablierte classe politique samt ihrer Medienmacht zu stellen. Solange dem so ist, werden die Berliner Parteien sich auch weiterhin den "Staat zur Beute" machen - auf Kosten der Zukunft unseres Landes.


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