© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    37/02 06. September 2002

 
Schwierige Nachbarschaft in böhmischen Dörfern
Der neueste Band der Pustet-Reihe über die Geschichte der Länder und Völker Ost- und Südosteuropas widmet sich Tschechien
Ekkehard Schultz

Die Reihe "Ost- und Südosteuropa - Geschichte der Länder und Völker" des Regensburger Pustet-Verlages hat sich zur Aufgabe gemacht, dem historisch interessierten Laien einen raschen Einblick in die Historie der Reformstaaten Mittel- und Osteuropas zu ermöglichen. Durch sachkundige und sehr gut mit der Materie vertraute Autoren ist es in den seit 1998 bereits erschienenen Bänden gelungen, Maßstäbe auf diesem Gebiet zu setzen.

Nunmehr werden die vorliegenden Darstellungen durch den Band "Tschechien" ergänzt. Obwohl in den letzten Jahren eine Vielzahl neuer Titel zur Geschichte unseres südöstlichen Nachbarn auf dem deutschsprachigen Markt publiziert wurde, wirkt das Buch des bayerischen Journalisten Markus Mauritz keineswegs wie eine bloße Zusammenfassung und Wiederholung von Altbekanntem. Schon der Anspruch ist anders: Mauritz' "Tschechien" ist kein wissenschaftliches Fachbuch mit einer Massenansammlung von Quellennachweisen, sondern eine zeitgenössische Informationsstudie zur Lektüre für jeden Interessenkreis. Dennoch müßte Mauritz auch einen solchen Vergleich nicht scheuen, bringt er doch auf begrenztem Raum eine solche Fülle von gut aufbereiteten Informationen und Details, die themenverwandten Publikationen in keiner Weise nachstehen. Zudem verfügt Mauritz über einen hervorragenden Stil, der die Lektüre zu einem Vergnügen macht. Dazu trägt auch die erfrischende Herangehensweise des Autors bei, der als Sozialwissenschaftler vielfach den Mut aufbringt, sich jenseits der ausgetretenen historischen Pfade zu begeben.

Es ist zum Verständnis von tschechischer Geschichte unabdingbar, sich darüber klar zu sein, daß diese zum überwiegenden Teil zugleich auch deutsche sowie eine Geschichte deutsch-tschechischer Beziehungen mit allen ihren Problematiken ist. Selbst bei der sich chronologisch auf die Zeit zwischen der bürgerlichen Revolution von 1848/49 und dem Nato-Beitritt Tschechiens im März 1999 konzentrierenden Darstellung von Mauritz trifft diese Feststellung für mindestens zwei Drittel dieses Zeitabschnittes zu. Die erste tschechoslowakische Republik wurde im Oktober 1918 auf den Trümmern des Habsburgerreiches errichtet, einem Territorium, in dem zu diesem Zeitpunkt weit mehr als drei Millionen Deutsche lebten. Mit der verheerenden - weil dadurch zum nationalen Mythos verklärten - Feststellung Tomas Masaryks zur Staatsgründung, daß alle deutschen Einwohner Böhmens und Mährens "Kolonisten" seien, versuchte sich die neue Republik in den alleinigen Besitz sämtlicher historischer Traditionen Böhmens, Mährens und des verbliebenen österreichischen Rest-Schlesiens zu bringen - eine über tausendjährigen Geschichte. Eine erfolgreiche Integration der ihrer Tradition beraubten Deutschen in das neugegründete Staatswesen war auf dieser Basis nahezu utopisch. Diese trugen daher - zumal ihnen auch wesentliche Autonomierechte kategorisch verweigert wurden - in begrenztem Maße zur Zerschlagung des ungeliebten Staates bei und wurden mit dieser Begründung nach der Wiedererrichtung des tschechoslowakischen Staates 1945 aus ihrer jahrhundertealten Heimat vertrieben, beraubt und zum Teil ermordet. Doch auch mit dieser auf "Endgültigkeit" zielenden Maßnahme war natürlich weder die Vorgeschichte der Region auszulöschen, noch zu verhindern, daß mittlerweile die wirtschaftliche Verknüpfung der Region durch die deutschen und österreichischen Investitionen der vergangenen Jahre fast wieder an die traditionellen Verzahnungen bis 1918 erinnert.

Zu den besten Kapiteln des Buches zählt eine präzise Darstellung der Situation der Tschechen am Ende der Habsburgermonarchie sowie die jüngere Zeitgeschichte seit den fünfziger Jahren. Hier kann der Autor in wenigen Sätzen eine Fülle von Informationen zur nationalen, sozialen und wirtschaftlichen Frage präsentieren, die beeindruckend ist. Mehr Probleme hat Mauritz dagegen an einigen Stellen bei der Konkretisierung der historischen Zusammenhänge. Hier ist er gelegentlich etwas in engen soziologischen Termini befangen: So wirkt es zumindest erklärungsbedürftig, warum Mauritz bei der Beschreibung der Art und Weise des Vorgehens der deutschen Besatzungsmacht in den Kriegsjahren ausschließlich den Begriff des "Terrors" gebraucht, jedoch das brutale Wirken von tschechischer Soldateska und Banden nach 1945 lediglich mit dem Wort "Strafexpeditionen" belegt.

Gegenüber der Darstellung der Phase zwischen bürgerlicher Revolution 1848/49 und dem Untergang des Habsburgerreiches im Ersten Weltkrieg sowie den Ereignissen um den "Prager Frühling" von 1968 ist der für das heutige historische Bewußtsein der Tschechen mindestens ebenso wichtige Abschnitt zwischen 1918 und 1938 bedauerlicherweise deutlich unterrepräsentiert. Durch diese Verknappung wird auf den Zusammenhang zwischen den politischen, sozialen und vor allem nationalen Versäumnissen der Ersten Republik und der sudetendeutschen Entwicklung zwischen 1933 und 1938 leider zu wenig verwiesen. Auch die Ursachen für den raschen Aufschwung der Sudetendeutschen Partei Konrad Henleins bleiben so in der Schilderung von Mauritz recht nebulös, oder werden mit Begründungen wie "ein damals in den Kreisen der Bourgeoisie weit verbreitetes Unbehagen an der Demokratie" dem Leser nicht gerade einleuchtend erklärt. An diesen Stellen wäre für eine eventuelle zweite Auflage eine Überarbeitung sinnvoll. Insgesamt ist der Band von Mauritz jedoch uneingeschränkt jedem zu empfehlen, der sich im Zuge eines Besuches oder des allgemeinen Interesses mit der Geschichte des Staates Tschechien - und damit auch des böhmisch-mährischen Raumes überhaupt - befassen möchte.

Markus Mauritz: Tschechien. Südosteuropa-Gesellschaft, Verlag Friedrich Pustet, Regensburg/ München 2002, 250 Seiten, 24,90 Euro


 
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