© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/02 13. September 2002

 
Die Aura der Wörter
Rainer Kunze legt Denkschrift zur Schreibreform vor
Thomas Paulwitz

Das Wort besitzt eine Aura, die aus seinem Schriftbild, seinem Klang und den Assoziationen besteht, die es in uns hervorruft, und je wichtiger und gebräuchlicher ein Wort ist, desto intensiver und prägender ist diese Aura. Wer sie zerstört, der zerstört etwas in uns, er tastet den Fundus unseres Unbewußten an." Der Lyriker Reiner Kunze hat jetzt eine Denkschrift vorgelegt, in der er eindeutig Stellung zu den sprachschädigenden Folgen der Rechtschreibreform nimmt. "Die Aura der Wörter" heißt das gedankenreiche Büchlein, das der Stuttgarter Radius-Verlag verlegt.

Zu Anfang seines Büchleins widmet sich Kunze, nach seiner DDR-Ausbürgerung Träger zahlreicher Literaturpreise, der reformierten Getrennt- und Zusammenschreibung. Sie führe dazu, daß bestimmte eindeutige Aussagen nicht mehr getroffen werden könnten. Dies nennt Kunze eine "teilweise sprachliche Enteignung". Die Entwicklungsrichtung der Sprache werde dadurch umgekehrt, daß Wörter, die mittlerweile zusammengeschrieben werden, künstlich wieder getrennt werden: "Wer das Niveau der geschriebenen Sprache senkt, senkt das Niveau der Schreibenden, Lesenden und Sprechenden."

Kunze räumt des weiteren mit der Propaganda der Kultusminister auf, die Rechtschreibreform diene dem Schreibwohl der Schulkinder. Er weist nach, daß es den Urhebern der Reform nicht darum ging, die Rechtschreibung zum Zwecke der besseren Verständigung zu ändern, sondern darum, die "Gesellschaft" umzukrempeln; "die Orthographie war ihnen nur Mittel zum Zweck". Er belegt dies mit Äußerungen unter anderem von Jens Jessen ("Die Zeit") und Karl Blüml (österreichisches Mitglied der Rechtschreibkommission). Ein Kultusminister sagte im Deutschen Bundestag: "Nicht um die Neuregelung der Rechtschreibung geht es in Wahrheit. Es geht um die Frage, ob diese Gesellschaft veränderungsfähig und veränderungswillig ist."

Der "Marsch durch die Institutionen" habe jedoch nicht im "Klassenkampf" die Gesellschaft verändert, sondern den Obrigkeitsstaat befördert und aufgrund der Ausrichtung am niedrigsten Niveau die Schriftsprache um hundert Jahre zurückgeworfen, so Kunze. "Dieses kulturrevolutionäre Verständnis von sozialer Gerechtigkeit ist Teil jener Ideologie, deren Gesellschaftssysteme an sich selbst zugrunde gehen."

Nach wie vor sind lediglich zehn Prozent der Deutschen von der Rechtschreibreform überzeugt, wie Allensbach in diesem Jahr ermittelte. Es verwundert also, daß keine politische Partei sich so recht um die Rechtschreibreform kümmern will. Kunze meint dazu: "Die Sprache ist die Kaiserin, die tatsächlich keine Parteien kennt. Was Wunder, wenn fast keine Partei Partei für sie ergreift."

Reiner Kunze verwahrt sich gegen die Ansicht eines Kultusministers, dieser Eingriff in die Sprache sei die nebensächlichste Sache der Welt, und gegen dessen Empfehlung an einen Schriftsteller, keine Notiz davon zu nehmen. Vielmehr sei es gerade die Aufgabe der Schriftsteller, auf ihr Werkzeug, die Sprache, zu achten: "Ein Dichter, der hinnähme, daß der Bau dieser Sprache beschädigt und sie um einen nicht unbedeutenden Teil ihrer Differenzierungen gebracht wird, müßte als Dichter zurücktreten. Und als Deutscher."

Kunze nimmt die Sprachbeschädigung nicht hin und besteht darauf, daß in Schulbüchern seine Texte in der bewährten Rechtschreibung erscheinen; auch um den Preis, daß bayerische Schulbücher deswegen jetzt ohne Kunze auskommen müssen: "Meine zweite Ausbürgerung aus deutschen Schullesebüchern hat also bereits begonnen - diesmal durch die Kultusministerinnen und Kultusminister der Bundesrepublik Deutschland." Kunze spielt damit auf seine DDR-Vergangenheit an.

Gerade diejenigen, die mit der mitteldeutschen Diktatur schmerzliche Erfahrungen gemacht haben, sind gegenüber Regierungseingriffen in die Sprache besonders aufmerksam. So unterstützen mit dem Dichter Reiner Kunze, dem Schauspieler Manfred Krug und dem Schriftsteller Günter Kunert drei prominente ehemalige DDR-Dissidenten die Resolution zur Wiederherstellung der Einheitlichkeit der deutschen Rechtschreibung. 

Reiner Kunze: Die Aura der Wörter. Denkschrift, Radius Verlag, Stuttgart 2002, 60 Seiten, geb., 16 Euro.

Thomas Paulwitz ist Schriftleiter der Deutschen Sprachwelt (Postfach 1449, 91004 Erlangen. Fax: 091 31 / 48 06 62, E-Post: schriftleitung@deutsche-sprachwelt.de  .


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen