© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    38/02 13. September 2002

 
Netzwerke funktionieren wie Viren
von Alain de Benoist

Mit dem Beginn der Globalisierung hatte sich die Moderne erledigt. Der Fall der Berliner Mauer, um nur einen Eckstein zu setzen, bedeutete nicht nur das Ende der Nachkriegszeit oder das Ende des 20. Jahrhunderts. Er markierte zugleich den Eintritt in die Postmoderne.

In der postmodernen Welt sind alle politischen Überbleibsel der Moderne obsolet geworden. Das politische Leben besteht nicht länger aus dem Wettbewerb zwischen Parteien. Das "leninistische Modell", nach dem Parteien an die Macht strebten, um ihre Programme durchzusetzen, hat seine Gültigkeit eingebüßt, weil Regierungen einen immer geringeren Handlungsspielraum haben. Die Postmoderne dezentralisiert und delegitimiert den Nationalstaat. Sie dezentralisiert ihn, weil er einerseits zu groß ist, um auf die Alltagssorgen der Menschen einzugehen, und andererseits zu klein, um weltweiten Bedrohungen zu begegnen. Sie delegitimiert ihn, weil jene integrierenden Institutionen, die ihn bislang stabilisiert hatten (Schule, Armee, Gewerkschaften, Parteien usw.), sich allesamt in der Krise befinden und deshalb keine gesellschaftlichen Zusammenhänge mehr schaffen können. Das Soziale findet fernab von Verwaltungsbehörden und aufgeblähten Institutionen statt. Die Globalisierung verursacht eine Trennung zwischen Zeichen und Sinn, die sich als Bedeutungsverlust politischer Symbole ausdrückt. Die Krise der repräsentativen Demokratie, die stetig abnehmende Wahlbeteiligung, die Zugkraft populistischer Bewegungen sind weitere kennzeichnende Symptome dieser Entwicklung.

Was wir hier erleben, ist gleichzeitig das Ende der Nationalstaaten zugunsten von kleineren und größeren politischen Einheiten - Gemeinden und Kontinenten -, das Ende der Massenorganisationen zugunsten von Netzwerken, das Ende des Modells Explosion/Revolution zugunsten des Modells Implosion/Streuung, das Ende des territorialen Denkens zugunsten transnationaler Systeme, das Ende des Individualismus zugunsten der Intersubjektivität, das Ende der Vereinzelung zugunsten der Gruppe.

Vor allem ist die globalisierte Welt eine Welt der Vernetzungen. Netzwerke gruppieren Individuen nach ihren Eigenschaften, ihren Ansichten oder ihren Interessen, ohne Rücksicht auf ihre mehr oder weniger große geographische Nähe. Von anderen Organisationen unterscheiden sie sich dadurch, daß sie weder Zentrum noch Peripherie haben: In einem Netz ist jeder Punkt gleich zentral und marginal. Inzwischen gibt es die unterschiedlichsten Netzwerke: in Industrie und Finanzwesen wie in den Bereichen der Information, des Verbrechens, des Terrorismus. Ihre Funktionstüchtigkeit liegt darin, daß sie nicht ortsgebunden sind. Multinationalen Konzernen, großen Industriegesellschaften, Drogenkartellen, Mafias und terroristischen Organisationen ist gemeinsam, daß sie sich den günstigsten Standort aussuchen und ihren Firmensitz verlegen, sobald sie anderswo bessere Bedingungen vorfinden.

Die Logik, die in der vernetzten Welt gilt, ist das Prinzip des Virus. An dieser Stelle gäbe es einiges über den paradigmatischen Charakter des viralen Modells zu sagen. Nicht zufällig stellen Virusinfektionen (Aids, Rinderwahn usw.) heutzutage die größte gesundheitliche Bedrohung dar. Diese Krankheiten breiten sich nach demselben Muster aus wie Computerviren, die an vielen Orten gleichzeitig zuschlagen können. In einer vernetzten Welt sind Viren die Unruhestifter par excellence.

Diese Ausführungen genügen, um zu begreifen, daß es sinnlos ist, nach einem Alleinschuldigen an der Globalisierung zu fahnden. Die Globalisierung hat weder einen Mittelpunkt noch einen Drahtzieher oder gar einen zentralen Kommandoposten, weil sie vor allem eine Vervielfältigung von Netzwerken bedeutet. Daß die USA momentan ihr hauptsächlicher Träger sind, liegt an ihrer Position als einzige Weltmacht. Tatsächlich spielen sie aber selber nur eine untergeordnete Rolle. Genauso wie das Kapital oder die Technik gehorcht die Globalisierung nur ihren eigenen Gesetzen, die bestimmen, daß sie horizontal und nicht vertikal, "kybernetisch" und nicht ferngesteuert verläuft. Die einzige Ursache für die Durchschlagkraft der Globalisierung liegt in ihrer Existenz.

Wie geht man nun mit ihr um? Insofern als sie kulturelle und weltanschauliche Unterschiede erodiert, scheint es geboten, ihr mit einer Behauptung eigener Identität zu begegnen. Damit aber dieser Begriff der Identität mehr sein kann als ein Slogan, eine fetischistische Beschwörungsformel, muß man sich sehr genau seiner Schwierigkeiten bewußt sein. Die Frage "Wer bin ich?" ist für eine Gruppe nicht leichter zu beantworten als für ein Individuum. In vieler Hinsicht ist Identität so sehr ein Problem wie eine Lösung. Dessen wird man spätestens dann gewahr, wenn man versucht, der Identität einen Inhalt zu geben. Wer sagt "Ich bin Franzose" oder "Ich bin Deutscher", hat damit noch nicht definiert, was es bedeutet, Franzose oder Deutscher zu sein. Zudem leben wir in einer Epoche, in der die Quellen, aus denen sich Identität speist, zahlreicher sind als je zuvor. Einer dieser Identitäten (kulturell, religiös, beruflich, sexuell usw.) Priorität zu geben, ist immer ein Akt der Willkür.

Um uns einige Grundsätze ins Gedächtnis zu rufen: Identität ist keine statische Idee, sondern eine dynamische Wirklichkeit. Keineswegs beschränkt sie sich auf eine mehr oder weniger idealisierte Vergangenheit, sondern sie ist eine geschichtliche Erzählung - eine Erzählung über das Selbst -, die sich in der Gegenwart von Moment zu Moment fortschreibt. Sie ist nicht Essenz, sondern Substanz. Sie ist nicht das, was sich nie verändert, sondern das, was ermöglicht, sich selbst treu zu bleiben, indem es sich ständig verändert. Schließlich erfordert sie eine Beziehung zum anderen: Ein Selbst läßt sich nur in Dialog oder Konfrontation konstruieren.

Heute haben Identitäten ihren "natürlichen" Charakter eingebüßt. Auf Heterogenität ist Autonomie gefolgt: Uns steht kein unantastbares Fundament mehr zur Verfügung. Während heterogene Gesellschaften sich mit Hilfe von Grundsätzen und Traditionen regieren lassen, die allen Mitgliedern selbstverständlich sind, unterziehen wir sämtliche Grundlagen einer kritischen Prüfung. Dadurch droht sich der Unterschied zwischen angeborenen und angenommenen Identitäten zu verwischen. Auch für angeborene Identitäten muß man sich heute erst entscheiden, bevor sie aussagekräftig werden. Identität meint inzwischen etwas anderes als die bloße Mitgliedschaft in einer Gruppe. Man kann unterschiedlichen Gruppen angehören, und diese Zugehörigkeiten können sich sogar widersprechen. Es ist zum Beispiel denkbar, daß ich mich in einem anderen Wertesystem wiedererkenne als andere Menschen meines Umfeldes und daß dieses Wertesystem mich in Opposition zu ihnen bringt. Darüber hinaus ist Identität nicht mehr an ein Territorium gebunden. Die Globalisierung bedeutet zwar nicht das Ende der Identitäten an sich, wohl aber das Ende territorialer Identitäten.

Wichtiger als der Anspruch auf Bewahrung von Identität scheint mir das Bemühen um Diversität. Dieses Prinzip steht im unmittelbaren Widerspruch zur Ideologie desselben. In seinem Namen läßt sich die gleichmacherische, einebnende Macht der Globalisierung bekämpfen und die Vielfältigkeit der Menschheit wiederherstellen, die ihren Reichtum ausmacht. Nur so läßt sich sicherstellen, daß wir auch weiterhin nicht in einem Universum, sondern in einem Pluriversum leben.

Zwei wichtige Bemerkungen sind hier angebracht. Zum einen ist der globale Charakter, der zweifelsohne die Stärke der Globalisierung ausmacht, in gewisser Weise auch ihre Schwachstelle. In einer globalisierten Welt löst das leiseste Geräusch sofort ein gewaltiges Echo aus. Es gibt nichts, was die Schockwellen aufhalten könnte, wie sich anläßlich der schweren Finanzkrisen gezeigt hat, die irgendwo auf der Welt ausbrachen und sehr schnell überall zu spüren waren. Die Vernetzung, ein weiteres Charakteristikum der Globalisierung, stellt ebenfalls - und das ist meine zweite Bemerkung - eine Chance dar, ihre Wirkung abzuschwächen. Netzwerke sind eine Waffe. Ihre Existenz ermöglicht Dissidenten und Rebellen auf der ganzen Welt, miteinander in Kontakt zu treten und ihre Aktionen zu koordinieren. Die Globalisierungsgegner sind ihrerseits global organisiert, wie man in Seattle, Genua, Porto Alegre beobachten konnte.

Daß die Nationalstaaten immer handlungsunfähiger werden, wurde schon gesagt. Einerseits sind sie zu groß, um Alltagsprobleme zu lösen, und andererseits zu klein, um globale Phänomene in den Griff zu kriegen. Die weltweite Macht von Banken und Konzernen, die Übertragung von Informationen über Satelliten, der internationale Handel mit neuen Technologien, die Entstehung ökologischer Bedrohungen, der transnationale Verkehr von Waren und Personen: Diese wenigen Beispiele genügen, um die Notwendigkeit einer Neubesinnung vor Augen zu führen. Völker und Nationen müssen sich künftig auf der Ebene der Kontinente und großen Zivilisationszusammenhänge organisieren. Nur so können sie hoffen, die Kontrolle zurückzugewinnen, die die Einzelstaaten offensichtlich verloren haben.

Dieselbe Entwicklung läßt aber auch die Bedeutung des Lokalen wiedererstarken. Einer globalen Macht eine andere globale Macht entgegenzusetzen, ist absolut sinnlos. Eine wirksame Strategie der Störung besteht im Gegenteil darin, dem Globalen das Lokale, dem sehr Großen das sehr Kleine zu erwidern. In der Postmoderne haben sich die Kräfteverhältnisse geändert. Während der vergangenen fünfzig Jahre bemühte jede Großmacht sich darum, dieselben - und wenn möglich bessere - Mittel zur Verfügung zu haben wie der Gegner. Darauf basierte die Abschreckung des Kalten Krieges. Heutzutage zeichnen sich Konflikte hauptsächlich durch die Asymmetrie der Beteiligten aus, wie der 11. September auf spektakuläre Weise verdeutlicht hat. In der Postmoderne ist es zwecklos, die Globalisierung frontal angreifen zu wollen.

Viel erfolgversprechender ist es, autonome Gemeinschaften zu schaffen, die auf lokaler Ebene auf der Grundlage gemeinsamer Ziele und Werte arbeiten. Der Untergang der Nationalstaaten befreit die Energien an der Basis. Er begünstigt lokale Handlungsmöglichkeiten und läßt die politische Dimension des Sozialen wieder in Erscheinung treten. Eine konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips auf allen Ebenen wäre eine der effektivsten Maßnahmen gegen die akuten Übel der Globalisierung. Das würde heißen, nur noch solche Probleme nach oben weiterzuleiten, für deren Lösung auf unteren Ebenen keine konkreten Kompetenzen vorhanden sind.

Ist die Globalisierung noch umkehrbar? Langfristig läßt sich das nicht vorhersagen: Es liegt in der Natur der Geschichte, daß sie nach vorne immer offen ist. Aber im Moment, und sehr wahrscheinlich auf Jahrzehnte hinaus, bestimmt die Globalisierung die Welt, in der wir uns zurechtfinden müssen.

Gewisse Denkfehler gilt es dabei zu vermeiden. Ein solcher Fehler ist die Einbildung, man könne der Globalisierung entkommen, indem man sich von der Außenwelt abschottet und an rein ethnozentristisch gedachten Identitäten festzuhalten versucht. Diese "Bunkermentalität" führt zu nichts, und zwar genau deswegen nicht, weil wir in einer Welt leben, in der alles sich auf alles auswirkt. Wer sich - im Glauben, es betreffe ihn nicht - nicht für das interessiert, was anderswo passiert, verstellt sich den Blick darauf, daß uns gerade das betrifft, was anderswo passiert.

Der zweite Fehler besteht darin, in die Defensive zu gehen und sich darauf zu beschränken, den Lauf der Geschichte aufhalten zu wollen. Seit über einem Jahrhundert haben rechte Bewegungen sich auf Gefechte spezialisiert, die von vornherein verloren sind. Es bringt überhaupt nichts, über die Gegenwart zu jammern und der Vergangenheit hinterherzutrauern. Verteidigen kann sich nur, wer die Beschaffenheit der Schlachtfelder von heute - und erst recht derer von morgen - kennt. Wer von dem träumt, was hätte sein können, oder sich nach dem sehnt, was einmal war, ist wehrlos. Worauf es ankommt, ist sich keine Illusionen über den historischen Moment zu machen, in dem wir leben. Worauf es ankommt, ist zu sehen, was unabwendbar ist, um Klarheit zu gewinnen, was sich machen läßt.

Dem möchte ich abschließend hinzufügen, daß es gewissermaßen auch darauf ankommt, sich eine andere Globalisierung vorzustellen: eine Globalisierung, die nicht auf Homogenität abzielt und nicht darauf, die Werte des Marktes weltweit zu verbreiten. Statt den ganzen Planeten mit der Logik des Kapitals zu überziehen, verhilft sie der Diversität zur Entfaltung. Man muß die Globalisierung anders denken, um große Kontinentalräume mit eigenen Zentren bestehen zu lassen und das Nebeneinander vieler Mächte beizubehalten, um lokale Autonomie, partizipative (und nicht mehr nur repräsentative) Demokratie und das Subsidiaritätsprinzip zu fördern. Nur so können wir unseren Nachkommen eine Welt hinterlassen, die nicht weniger reich an Unterschieden ist als jene, die wir selber geerbt haben.

 

Alain de Benoist ist der führende Theoretiker der französischen Neuen Rechten ("Nouvelle Droite") und Herausgeber der in Paris erscheinenden Kulturzeitschrift "Nouvelle Ecole".


 
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