© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   39/02 20. September 2002


Die Schlacht um Berlin

Bundestagswahl: Noch ist das Rennen offen, aber für die Union wird es eng
Paul Rosen

Ein erster Abgesang kam schon einige Tage vor dem 22. September aus den Reihen der CDU: "Wenn bei der Wahl vernunftgesteuert entschieden wird, haben wir alle Chancen", sagte CDU-Vize Christian Wulff. Doch dann kam der Hammer: "Wenn unverantwortlich Emotionen geschürt werden, dann ist es tatsächlich möglich, daß die Regierung sich im Amt hält." Emotionen hat Kanzler Gerhard Schröder genug geschürt. Mit einer beispiellosen Anti-Kriegs-Kampagne schaffte es der SPD-Chef, die Stimmung zu drehen und aus dem Umfragen-Tief zu kommen. Auch wenn der Wahlausgang nach wie vor als offen betrachtet werden sollte: Schröder steht zumindest kurz davor, daß rot-grüne Projekt vier Jahre lang fortsetzen zu können.

Dabei hatte alles so gut für den Unions-Kandidaten Edmund Stoiber angefangen. Mit einer erfolgreichen Kampagne trieb eine für alle Beobachter ungewohnt entschlossene und geschlossene Union Sozialdemokraten und Grüne vor sich her. Schröder dachte bereits darüber nach, ob New York ein schöner Wohnsitz sein könnte. Die Wirtschaftsbilanzen gaben Stoiber und der CDU/CSU Auftrieb. Vier Millionen Arbeitslose und keine sinkende Tendenz waren ein schwerwiegendes Argument im Wahlkampf. Und hatte nicht Schröder 1998 vollmundig verkündet, wenn es nicht gelinge, die Arbeitslosigkeit auf 3,5 Millionen zu senken, habe die rot-grüne Koalition verspielt?

Hinzu kamen der letzte Platz Deutschlands beim Wirtschaftswachstum in der EU und mit 40.000 Unternehmenszusammenbrüchen pro Jahr ein Pleitenrekord. Aus Brüssel drohten und drohen dem "Sparkommissar" Hans Eichel blaue Briefe. Auch die Pisa-Studie über die mittelmäßige Schulbildung in Deutschland löste blankes Entsetzen aus und sah die SPD-Länder hinter den unionsregierten Bundesländern. Stoiber zog durch die Lande und beklagte, mit dem Rohstoff Geist stehe es besonders schlecht in der Bundesrepublik, zumindest dort, wo die SPD an der Regierung sei. Schröder begann sich innerlich mit dem Machtverlust abzufinden.

Denn auch personell setzte Stoiber der rot-grüne Regierungsmannschaft mächtig zu. Seine Wahl für den Ministerposten eines künftigen Superressorts Wirtschaft/Arbeit fiel auf den ehemaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten und heutigen Jenoptik-Chef Lothar Späth. Die Berufung des "Cleverle" schien sich als Glücksfall zu erweisen. In Baden-Württemberg war Späth immer noch beliebt. Und auch in den neuen Bundesländern galt der erfolgreiche Sanierer Späth als "einer von uns". Schröder hatte dem nichts entgegenzusetzen. Arbeitsminister Walter Riester wirkt wie eine Kopie von Norbert Blüm ("Die Renten sind sicher"). Bei Wirtschaftsminister Werner Müller gab es nur Fehlanzeige zu vermelden. Während die Wirtschaft niederging, fand der parteilose Minister praktisch nicht statt.

Einen ersten Vorgeschmack, daß man die Sozialdemokraten nicht unterschätzen sollte, lieferte Schröder mit dem Projekt "Hartz-Kommission". Die Vorschläge des VW-Arbeitsdirektors gipfelten darin, die Zahl der Arbeitslosen durch verschiedene Maßnahmen, besonders durch eine bessere Vermittlung, innerhalb von zwei Jahren zu halbieren. Schröder zeigte damit wieder einmal, daß er ein Meister der virtuellen Themen ist. Statt über seine Bilanzen zu sprechen und über Vorschläge, wie man aus dem wirtschaftlichen Dilemma jetzt herauskommt, entfesselte der Kanzler eine Debatte über die Lage im Jahre 2004. Die Union fiel darauf rein. Stoiber lehnte zwar mit seinem inneren Instinkt die Hartz-Vorschläge als ungeeignet ab, doch Späth begann zu jubeln. Erstmals wurde ein Riß im Unionslager sichtbar. Kein gutes Zeichen für das harmoniesüchtige Volk.

Die Elbeflut ließ die Vorschläge der Hartz-Kommission versinken. Die Öffentlichkeit interessierte sich nur noch für die aktuellen Wasserstandsmeldungen. Schröder sah und nutzte die Chance. Als Kanzler in Gummistiefeln weckte er sofort Erinnerungen an den Macher Helmut Schmidt, dessen Popularität mit der Bekämpfung der Hamburger Flut Anfang der sechziger Jahre begann. Schröder brachte tatsächlich relativ schnell Hilfsmaßnahmen in Gang, setzte sogar die Steuerreform für ein Jahr aus. Kaum jemand interessierte sich dafür, daß die rot-grüne Regierung zum wiederholten Male damit zum Mittel der Steuererhöhung griff. Die Union befand sich auf einmal in einem schwierigen Abstimmungsprozeß. So mußte Stoiber sich drehen und wenden. Er werde nichts ablehnen, aber nach der Wahl alles sofort rückgängig machen und den Bundesbankgewinn zur Finanzierung heranziehen. Der Glaubwürdigkeitserfolg dürfte sich in engen Grenzen gehalten haben.

Aber die Irak-Debatte brachte Schröder schließlich das erhoffte Oberwasser. Der Kanzler, der deutsche Truppen schon bis nach Afghanistan geschickt hatte, legte sich auf eine fast pazifistische Haltung fest. Es werde keine deutsche Beteiligung an einem Krieg gegen den Irak geben, und über Krieg und Frieden werde immer noch in Berlin entschieden, formulierte Schröder seinen "deutschen Weg". Vergeblich focht Stoiber dagegen an: Die Positionen Europas und der Uno würden geschwächt, wenn Berlin sich von vornherein gegen jede militärische Option stemme. Zudem gefährde der Kanzler das deutsch-amerikanische Verhältnis. Innenpolitisch sagte Stoiber wohl die Wahrheit, als er Schröder das folgende Motiv unterstellte: "Wenn Du in Schwierigkeiten bist, rede vom Krieg."

Doch Schröder war es längst gelungen, die Deutschen von der Realität in eine virtuelle Welt zu locken und dort den Wahlkampf zu betreiben. Die Debatte verfehlt ihre Wirkung nicht. Die Deutschen wollen keinen Krieg, und auch die Demoskopen haben inzwischen das wenig überraschende Ergebnis ermittelt, daß ein Militärschlag gegen den Irak von einer Mehrheit abgelehnt wird. Schröders "Friedenspolitik" hat einen für ihn angenehmen Nebeneffekt: Der Kanzler ist tief in das Lager der PDS eingebrochen. Wenn die PDS aus dem neuen Bundestag herausfallen sollte, wäre es für Rot-Grün leichter, allein wieder eine Regierung zu bilden. Reicht es wider Erwarten nicht, steht aber auch Guido Westerwelle für ein sozialliberales Bündnis bereit.

In den letzten Tagen vor der Wahl versuchte die Union noch zaghaft, das Thema Zuwanderung wieder herauszuholen und damit Schröder zum Verlassen seiner virtuellen Welt zu zwingen. Doch der Versuch war halbherzig, selbst Bayerns Innenminister Günther Beckstein sprach von einem "1b-Thema". Ein hochrangiger CSU-Mann soll in einem Hintergrundgespräch in Berlin gesagt haben, das Blatt sei nicht mehr zu wenden. So kann sich Stoiber langsam damit anfreunden, am Sonntag in Berlin schwedische Verhältnisse vorzufinden, wenn nicht noch ein kleines Wundert passiert.


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