© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/02 20. September 2002

 
Der Verteidiger
Gerhard Schröder: Der Kanzler ist ein idealtypisches Produkt des sozialdemokratischen Jahrhunderts
Doris Neujahr

Zyniker behaupten, der Himmel habe die Sachsen mit der Sintflut geschlagen, nur um Gerhard Schröders Kanzlerschaft zu retten. Jedenfalls gab sie dem Amtsinhaber Gelegenheit, vor dramatischer Naturkulisse seine Qualitäten zu präsentieren. Das durchfurchte Gesicht verriet Mitleid und Fürsorge, die ruhig gestikulierende Hand versprach Besonnenheit im Chaos, das erhobene Kinn verkündete Energie und Entschlossenheit. Alle konnten sehen: Die Zeiten sind hart, doch mit Schröder packen wir's!

Schröder ist in seinem Element, wenn er Politik als persönliches Schauspiel darbieten kann, weswegen er als "Medienphänomen" und "amerikanischster Politiker Deutschlands" beschrieben wird. So treffend diese Bezeichnungen sind, verfehlen sie doch Wichtigeres, denn die Selbstverständlichkeit, mit der er die Kanzlerschaft ausübt, ist vor allem als Zeichen gesellschaftlicher und sozialer Veränderungen im Nachkriegsdeutschland zu begreifen. Schröder, Jahrgang 1944, stammt aus einfachsten Verhältnissen, aus der Unterschicht. Sein im Zweiten Weltkrieg gefallener Vater war Hilfsarbeiter, die Mutter brachte die Familie als Putzfrau über die Runden. Seine Verwandtschaft bildet bis heute keinen - im herkömmlichen Sinne - repräsentablen Hintergrund, doch Schröder denkt gar nicht daran, sie zu verstecken. Soviel demonstratives Selbstbewußtsein wäre undenkbar ohne den Wertewandel der letzten Jahrzehnte. In der Weimarer Republik wurde Reichspräsident Friedrich Ebert von ehrlosen Reaktionären wegen seiner Herkunft aus dem ehrbaren Handwerkerstand verhöhnt, und noch Adenauer beleidigte Willy Brandt ob seiner unehelichen Herkunft.

In guten Stunden schimmert in Schröders offensiven Selbstbekenntnissen eine Authentizität und menschliche Substanz durch, die sich nicht künstlich erschaffen läßt. Im Wahlkampf 1998 wirkte er am stärksten, wenn er an die Adresse von Union und FDP donnerte, es sei "einfach unanständig", den Kriegswitwen die Anpassung ihrer kargen Rente zu verweigern. Natürlich sprach aus ihm eiskaltes Kalkül, doch es konnte nur aufgehen, weil seine Zuhörer spürten, daß Schröder wußte, wovon er sprach.

Die SPD war sein unverzichtbares Sprungbrett

Ein Junge aus den einfachsten Verhältnissen also, der es bis ganz nach oben gebracht hat. Sein legendäres Rütteln am Zaun des Bonner Kanzleramts steht zeichenhaft für seinen unbändigen Willen zum gesellschaftlichen Aufstieg. Seine Triumphe waren ohne Kampf nicht zu haben. So war für den Hochtalentierten aus finanziellen Gründen zunächst nur ein Hauptschulabschluß möglich. Neben der Arbeit als Einzelhandelskaufmann holte er in der Abendschule die mittlere Reife nach, als 22jähriger legte er das Abitur ab und studierte danach Jura. 1963 wurde er Mitglied der SPD und absolvierte bei den Jungsozialisten ein hartes politisches Überlebenstraining. Er entwickelte sich zu einem Machttechniker, dessen Hemdsärmeligkeit sich zur schier unmenschlichen Härte und Konsequenz steigern kann. Seinen Konkurrenten Rudolf Scharping, dem er 1993 bei der Urwahl zum Parteivorsitz unterlegen war, demütigte, zermürbte und demontierte er so lange in aller Öffentlichkeit, bis dieser als entnervtes Wrack mit Gräfin Pilati und Medienberater Hunzinger baden ging.

Journalisten heben gern das angeblich Untypische, Unkonventionelle an Schröders Laufbahn hervor. In Wahrheit ist sein Aufstieg ziemlich normal verlaufen: Von 1978 bis 1980 war er Juso-Vorsitzender, dann Bundes- und anschließend Landtagsabgeordneter, Oppositionsführer im niedersächsischen Landtag, Ministerpräsident, Kanzler, Parteivorsitzender. Seinen Drang, das Ego über die Partei zu stellen, lebte er stets im Rahmen der wohldosierten Provokation aus, nie riskierte er einen wirklichen Bruch. Als Juso-Vorsitzender ging er mit marxistischen "Stamokap"-Positionen hausieren, und ab 1978 verteidigte er den verurteilten RAF-Aktivisten Horst Mahler. Das reichte aus, um den Kanzler Helmut Schmidt zu verärgern, war aber auch geeignet, aufmüpfige Jungwähler bei der SPD zu halten und wurde deshalb toleriert. Danach mäßigte er sich und befolgte ein Rezept, das unter umgekehrten Vorzeichen schon von Heiner Geißler erprobt wurde: Zur Kriminalitätsbekämpfung, Ausländer- oder Wirtschaftspolitik äußerte er Binsenwahrheiten, die zum Standardrepertoire des politischen Gegners gehörten. So erwarb er sich den Ruf des Selbst- und Querdenkers.

Schröder ist eine Quadratur des Kreises gelungen: Er hat eine steile Parteipolitikerkarriere hingelegt und ist trotzdem nie in den Verdacht geraten, ein Parteisoldat zu sein. Die SPD war sein unverzichtbares Sprungbrett, doch Außenstehenden erschien sie als ein Klotz an seinem Bein. Was bei anderen ein mühsam erbuckelter Karriereschritt war, galt bei ihm als neue Stufe der Selbstverwirklichung.

Schröder verfügt zweifelsfrei über Charisma, über jene schwer greifbare Eigenschaft, deren Geltung laut Max Weber auf der Anerkennung einer qualifizierten Person durch die Beherrschten beruht. "Das ewig Neue, Außerwerktägliche, Niedagewesene und die emotionale Hingenommenheit dadurch sind die Quellen persönlicher Hingebung." Die Genossen ordnen sich ihm unter, weil seine Rhetorik, Ausstrahlung, Instinktsicherheit, sein Talent, Mehrheiten auch jenseits der eigenen Partei zu gewinnen, auch für sie von Vorteil sind. Die Solidarität nach der Flutkatastrophe kommentierte er mit den Worten: "Aus der deutschen Einheit wurde die Einheit der Deutschen." Auf diesen schlichten Satz muß man erst einmal kommen, und dann muß man ihn noch in einer Weise aussprechen, daß er weder kitschig noch anbiedernd klingt. Schröder kann es!

Schöne Bilder sind wichtiger als politische Substanz

Doch häufig ist seine Medienwirksamkeit inhaltsleer und stehen seine Inszenierungen sich gegenseitig im Wege. Im Wahlkampf hat er heftige Kritik an der Irak-Politik der USA geübt. Nur steckt keine politische Strategie dahinter, denn eben hatte er noch den Schulterschluß mit Tony Blair gepflegt, dem treuesten Schoßhund des US-Präsidenten, was wiederum Deutschlands wichtigsten und amerikakritischen Verbündeten Frankreich düpierte. Auch innenpolitisch geht die Anglomanie ins Leere, denn die auf der Insel praktizierte Sozial- und Gesundheitspolitik wagen selbst Freidemokraten für Deutschland nicht zu empfehlen. Die Wahrheit ist: Schröder hat keinen Plan verfolgt, er wollte einfach nur ein paar Strahlen des Talmi-Glanzes von "New Labour" erhaschen. Schöne Bilder sind ihm wichtiger als politische Substanz.

Wenn die Kameras ausgeschaltet sind, wird - wie bei der Holzmann-Pleite - der angerichtete Schaden offensichtlich. Es ist nur mit gläubiger Hingabe zu erklären, daß Schröder in den Ruf des "Machers" geraten ist. Anders als der inzwischen zum Vorbild avancierte Helmut Schmidt hat er nie eine tiefere Kenntnis ökonomischer Zusammenhänge nachgewiesen. Seine Wirtschaftspolitik als niedersächsischer Ministerpräsident - er selber nannte sie pseudo-modernistisch: Industriepolitik - bestand vor allem darin, gegen Umweltschutzauflagen Pipelines, Raffinerien, Werftanlagen und Teststrecken für Autos in die Landschaft zu pflanzen.

Schröder agiert überzeugungs- und theoriefrei, was ihm fälschlicherweise als Ideologiefreiheit zugute gehalten wird. Auch in seiner "Stamokap"-Phase hat er, wie er nachträglich einräumte, von den marxistischen Schriften nie mehr als den Klappentext gelesen. Schröders Welt ist die der PR-Begriffe: "Modernisierung", "Dynamik", "Flexibilität" und natürlich "Neue Mitte". Der Rest ist Gewurstel, was heute freundlich "Pragmatismus" genannt wird. Gewiß kann Politik niemals eine lupenreine Umsetzung von Theorien sein, weil die wichtigste Regel des politischen Alltags die Permanenz des Unplanbaren ist. Doch es gibt Konstanten, zu denen man sich einen grundsätzlichen Standpunkt erarbeiten muß, wenn das politische Handeln mehr sein soll als improvisierter Pfusch.

So bewegen die großen Konzerne und Banken, von keinem demokratischen Gremium kontrolliert, weit größere Summen als der Bundesfinanzminister. Eine einzige Standortentscheidung kann eine mühsam ausgehandelte Steuerreform zunichte machen. Einen ordnungs- und gesellschaftspolitischen Ansatz dazu hat Schröder nie gesucht, er setzt auf persönliche Kontakte, das heißt: auf sich selbst. In den letzten Jahren sah man ihn Arm in Arm mit der deutschen Industrie-, vor allem der Autoelite, die ihren privilegierten Zugang zum Kanzler natürlich nutzte. Während die Kommunen über wegbrechende Steuereinnahmen und der Mittelstand über die Strangulierung durch den Staat klagen, wurden die Großkonzerne entlastet. Jetzt haben wir die paradoxe Situation, daß die bürgerliche Opposition sich zum Fürsprecher der "kleinen Leute" und des Mittelstands aufschwingt und der SPD-Kanzler als "Genosse der Bosse" Schlagzeilen macht. Diese Situation ist nicht mehr aus ökonomischen Sachzwängen oder aus wirtschaftspolitischen Überlegungen erklärbar, sondern aus Schröders Persönlichkeit.

Es hat Aufmerksamkeit, dann Irritationen und schließlich Spott hervorgerufen, als Schröder in den neunziger Jahren den kultivierten Genußmenschen gab, über gutes Essen und Weine parlierte und, eitel wie ein Pfau, als Brioni-Model posierte. In Wahrheit wirkte er stillos und aufdringlich, und unvergeßlich bleibt sein angestrengtes Lächeln, als Rudolph Mooshammer ihm vor laufender Kamera erklärte, wie unpassend seine gemusterten weinroten Schuhe sich zum dunklen Anzug und zur aufdringlichen Krawatte verhielten. Gewiß, die Masse der Wähler nimmt ihm solche Fehlgriffe so wenig übel, wie sie Kohl den Saumagen-Provinzialismus verargt hat, vielmehr solidarisiert sie sich instinktiv mit ihm. Aber in den Stilverletzungen offenbart sich eben auch die Unsicherheit des Parvenüs, die angesichts des Amtes, das er innehat, eine beträchtliche politische und gesellschaftliche Relevanz besitzt.

Diese irritierenden Auftritte Schröders spiegeln zum einen die aktuelle Schwierigkeit wider, im Staatstheater eine glaubwürdige Symbolsprache zu finden, die der Würde des Amtes, dem veränderten Charakter der Zeit und den handelnden Personen - die meistenteils den Aufsteigerschichten entstammen - angemessen ist. Schröder und die anderen Juso-Aktivisten - von den Grünen ganz zu schweigen - hatten lange davon gelebt, sich gegen die Normen und Regeln bundespolitischer Repräsentation zu profilieren. Man muß ihm zugute halten, daß er frühzeitig erkannte, daß mit einer ständigen Regelvernichtung à la 1968 kein Staat zu machen ist.

Hinter seiner krachledern-forcierten Souveränität ist zweitens der Versuch zu vermuten, einen heimlichen, persönlichen Minderwertigkeitskomplex auszugleichen. Schröder setzt seinen Ehrgeiz darin, vom deutschen Industrieadel akzeptiert zu werden. Er erkennt ganz richtig, daß über der obersten Etage der Politik eine noch höhere Gesellschaftsetage existiert, auf der es exklusiver zugeht als im durchdemokratisierten deutschen Politikbetrieb. Was im Paris des Marcel Proust der Faubourg Saint-Germain war, das sind im heutigen Deutschland die Klubs der Wirtschaftselite, wo ungeschriebene Gesetze gelten, verwandtschaftliche und gesellschaftliche Verbindungen nach wie vor zählen und Codes, die für Außenstehende kaum zu entziffern sind, für eine knallharte Auslese sorgen. Für Schröder ist der Aufstieg erst vollendet, wenn er auch dort angekommen und angenommen ist.

Immer in Bewegung und unter Beweiszwang

In die politische Enttäuschung, daß die Industrieverbände ihm sein Bemühen nicht danken, mischt sich persönliche Verletztheit. Sein Flirt mit dem Springer-Konzern ging gründlich daneben. Wenn Mathias Döpfner, der elegante Schnösel und quasi im Maßanzug aufgewachsene Springer-Vorstandschef, ihm via Bild-Kolumne die kalte Schulter zeigt, darf man das auch als einen Kampf der Kulturen lesen, nicht im Sinne von Huntington, aber von Pierre Bourdieu. In Schröders Wort von der "kulturellen Differenz", das er vordergründig auf Stoiber gemünzt hat, klingt diese Einsicht schmerzhaft an.

Sein Parvenü-Komplex macht seine Politik so unstet, unaufrichtig, beliebig. Anders gesagt: Schröder fehlt es an der inneren Ruhe, die entweder aus Milieuverwurzelung oder aus gediegener Bildung kommt. Die Knochenarbeit an seiner Karriere hat ihm keine Zeit dazu gelassen, mehr als nur Patchwork-Kenntnisse zu erwerben. Er ist immer in Bewegung und unter Beweiszwang, lechzt nach Bestätigung und weiterem Aufstieg, seine egomanische Taktiererei überwiegt die politische Strategie.

Er war einer der ersten Politiker, der seine Amtsstube - damals noch in Hannover - mit moderner Kunst ausschmückte. Man darf bezweifeln, daß er viel davon versteht, doch sie bildete einen guten Hintergrund. Ähnlich auf den äußeren Effekt hin angelegt, wirkte seine Berufung eines Staatsministers für Kultur. Sie erfolgte ohne konzeptionellen Vorlauf für die hochkomplizierte Materie. Er dachte offenbar weniger an die Mühen der kulturellen Ebene, an die zu sichernde Arbeit von Bibliotheken, Programmkinos, der Kinder- und Jugendtheater, durch die die Schüler einen Zugang zur Hochkultur erhalten, sondern an den Glamour der damals noch florierenden Musical-Theater und der Event-Kultur. Sieht man vom Beschluß über den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses ab, ist das von Kohl übernommene Projekt des Holocaust-Mahnmals das einzige kulturelle Vorhaben von Bedeutung, das unter seiner Regierung beschlossen wurde.

An Schröder zeigen sich die Möglichkeiten und noch schärfer die Grenzen eines Medienkanzlers. Vor allem aber ist er das idealtypische Produkt und der Endpunkt des sozialdemokratischen Jahrhunderts. Dessen Anspruchslosigkeit und Eindimensionalität lassen keine Verheißungen mehr zu.


 
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