© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/02 20. September 2002

 
Der Herausforderer
Edmund Stoiber: Der Kanzlerkandidat ist die vorletzte Schwundstufe des Konservatismus
Doris Neujahr

Edmund Stoiber erschien im zweiten Fernsehduell mit Gerhard Schröder sicherer, als man ihm das zugetraut hatte, doch in Erinnerung bleibt eine andere, frühere Szene: Der frischgebackene Kanzlerkandidat der Union redet die Moderatorin der Christiansen-Talkshow als "Frau Merkel" an. Die Fehlleistung verriet neben der Anspannung, die ihn der unionsinterne Kampf um die Kandidatur gekostet hatte, einen für viele überraschenden, subalternen Zug des als autoritär geltenden bayerischen Ministerpräsidenten. Den medienerfahrenen Stoiber konnte diesmal der Nimbus des erfolgeichen Landesfürsten nicht schützen. Er sollte offensiv darstellen, warum seine Politik im Freistaat ein Modell für ganz Deutschland und also mehr ist als der Egoismus des Erfolgreichen in einem innerdeutschen Nullsummenspiel. Den Vergleich von Bayern München mit Hannover 96 (oder dem FC Saarbrücken), der ihm bei seinen Passauer Aschermittwochsreden stets Jubelt einträgt, konnte er hier jedenfalls nicht anbringen. Sofort hätte man ihm entgegengehalten, daß die Münchner Mannschaft nicht wegen ihrer bayerischen Eigengewächse so erfolgreich ist, sondern weil der steinreiche Klub jeden talentierten Spieler, der in einer Konkurrenzmannschaft aufläuft, umgehend einkauft. So weckt man Neid und Groll, doch keine Sympathien. Stoiber saß sichtbar die Verunsicherung darüber im Nacken, daß es auf der bundespolitischen Bühne zugiger und riskanter zugeht als im erfolgreichen Landestheater. CSU-Landesgruppenchef Michael Glos nannte anschließend seinen Auftritt "authentisch". Glos ist kein Anhänger Stoibers, sein Urteil war also hübsch zweideutig gemeint. Worauf mag er abgezielt haben?

Gerade hatte Angela Merkel nach monatelangem Mobbing durch Parteifreunde, die ständig und entgegen den Parteitagsbeschlüssen eine schnelle Entscheidung über die Kandidatur - sprich: für Stoiber - angemahnt hatten, ihren Verzicht bekanntgegeben. Stoiber war die ganze Zeit im Hintergrund geblieben und hatte sich auf Anfragen desinteressiert geäußert. Natürlich war die Entscheidung für ihn die politischere und deshalb bessere, nach dem Ausscheiden Schäubles war Stoiber überhaupt die beste Alternative, über die die Union verfügte. Dennoch wirkte die Art und Weise, in der sie zustande kam, abstoßend. Sie entsprach genau der machtpolitischen Taktik Stoibers, die noch jeden seiner Karrieresprünge vorbereitet hat.

Im Unterschied zu Schröder, der - darin dem legendären Franz Josef Strauß ähnlich - Konkurrenten in offener Feldschlacht angreift und mit bravouröser Brachialgewalt niederzuringen versucht, ist Stoibers Laufbahn von der Fähigkeit zur feingesponnenen Intrige gekennzeichnet. Max Streibl, sein Vorgänger im Amt des Ministerpräsidenten, kam 1993 durch Enthüllungen über Zuwendungen aus der Industrie zu Fall. Für die Kampagne und seinen Sturz machte er anschließend Stoiber verantwortlich. Danach wurden Informationen über die Ehekrise Theo Waigels, seines härtesten Konkurrenten um die Streibl-Nachfolge, an die Presse lanciert, indes Stoiber mit Frau und zwei Töchtern in Bild sein ungetrübtes Familienglück präsentierte. Sage also keiner, Stoiber verstehe sich nicht darauf, auf der Klaviatur der Mediengesellschaft zu spielen! Schließlich mußte auch Innenminister Peter Gauweiler seinen Hut nehmen, nachdem Vorwürfe laut wurden, er habe dienstliche und berufliche Interessen unzulässig vermischt. Ein Gericht stellte später das Gegenteil fest, doch da war Stoiber den populären Nebenbuhler längst los.

Für Fehler macht er andere verantwortlich

Stoiber eilt ein nahezu makelloser Ruf als kompetenter Manager der "Bayern AG" voraus. Verschwiegen wird, daß andere dafür mit Ruf und Karriere bezahlen mußten. Während der BSE-Seuche, die besonders in Bayern grassierte, zwang Stoiber seine Gesundheitsministerin Barbara Stamm wegen angeblich fehlerhafter Krisenbewältigung zum Rücktritt, womit er den Fragen nach der verfehlten Landwirtschaftspolitik unter seiner Regentschaft die Spitze nahm. Ein Jahr zuvor, im Sommer 1999 waren die Verluste der staatsnahen Landeswohnungs- und Städtebaugesellschaft Bayern GmbH (LWS) in Höhe von mehreren hundert Millionen DM bekannt geworden, die die LWS bei dem Versuch erlitten hatte, in den neuen Ländern das große Geld zu machen. Es war Stoiber gewesen, der diese Strategie als Innenminister gegen die vehementen Bedenken seiner Kabinettskollegen forciert hatte. Es gelang ihm, seine - auch schriftlich fixierten - Fehleinschätzungen zu vertuschen und für das Fiasko den Justizminister Alfred Sauter verantwortlich zu machen, der von 1993 bis 1998 Aufsichtsratsvorsitzender der LWS war.

Tatsächlich hatte Sauter sich für seinen Chef in die Bresche geschlagen. Er hatte den Offenbarungseid bis nach den Landtagswahlen 1998 hinausgeschoben und damit die absolute CSU-Mehrheit gesichert. "Stoiber weiß selbst am genauesten, wie er an der Geschichte beteiligt war", sagte er danach verbittert und warf dem Ministerpräsidenten im Landtag einen "Mangel an Anstand, Stil und Menschlichkeit" vor. Er weigerte sich, die Rolle des Sündenbocks zu übernehmen, worauf Stoiber ihn per Handy entließ. Die CSU, dem Opportunismus des Machterhalts folgend, stellte sich auf Stoibers Seite. Dessen Erfolgsrezept ist klar: Erfolge nimmt er für sich selbst in Anspruch, doch für alles, was seinen Ruf, seine Kompetenz und seinen Aufstieg in Frage stellen könnte, sind immer die anderen verantwortlich.

Stoiber hat einen Weichspüler-Wahlkampf betrieben, der viele Anhänger enttäuscht hat. Für dieses Konzept ist zum einen die - völlig richtige - Einschätzung seines Presseberaters Michael Spreng verantwortlich, daß ein bayerisch-derber und klassisch-konservativer Wahlkampf nördlich der Mainlinie kontraproduktiv wäre. Mag die deutsche Gesellschaft auch veränderungsunwillig und strukturkonservativ sein, ein gewisses Laissez-faire und die Abneigung eines kulturkämpferischen, ins Prinzipielle gehenden Eiferertums ist ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Es ging zweitens darum, Stoibers bissige und intrigante Eigenschaften und seine Fehlschläge vergessen zu machen. Drittens mußte er fürchten, mit zuviel selbstgewisser Agriffslust eine entsprechende Gegenreaktion von Rotgrün - eventuell munitioniert von Stoiber-Geschädigten aus der Union - hervorzurufen. Stoiber, der sich für innerparteiliche Konkurrenten so oft als "blondes Fallbeil" erwiesen hatte, wurde zum freundlichen, geradlinigen Politiker gestylt. Echt, erfolgreich, kantig eben.

Ein Leben außerhalb der Politik traut man ihm kaum zu

Geboren 1941, ist er, ähnlich wie Schröder, ein Kind "kleiner Leute". Anders als der Amtsinhaber hatte er das Glück, in bescheidenen, aber stabilen Verhältnissen aufzuwachsen. Sein Vater war Kaufmann in Oberaudorf im Kreis Rosenheim, sein Elternhaus war streng katholisch. Stoiber hat Rechtswissenschaften und Politologie in München studiert. Zum Erscheinungsbild dieses großgewachsenen, hageren, stets ein wenig zappelig und unfertig wirkenden Mannes paßt der Ruf des "Einser-Jurist", der ihm aber zu Unrecht anhaftet. Sein Biograph Peter Köpf hat recherchiert, daß er die Universität nur mit einem Notendurchschnitt von 3,0 abgeschlossen hat. Das Thema seiner Dissertation lautet wenig überraschend: "Der Hausfriedensbruch im Lichte aktueller Pobleme". Seit 1971 arbeitet er in der Bayerischen Staatsregierung.

Politisch ist er der Ziehsohn von Franz Josef Strauß, obwohl - nein: gerade weil - sein Naturell das genaue Gegenteil darstellt. Einen anderen hätte Strauß neben sich wohl kaum geduldet. Der zwei Jahre älterere, weit charismatischere Waigel ging in den Bundestag nach Bonn, fort aus dem Dunstkreis des Übervaters, während Stoiber eifersüchtig in dessen Nähe hocken blieb. Er wurde belohnt: Von 1978 bis 1983 war er CSU-Generalsekretär, von 1982 bis 1988 Leiter der Staatskanzlei.

Amtsinhaber Schröder verkörpert den polternden sozialdemokratischen Aufsteiger, sein konservativer Herausforderer entspricht dem beflissenen Referententypus, der als letztes Erbe des politischen Konservatismus über die deutsche Politik gekommen ist. Stoiber ist eher Verwalter als Gestalter, ein Aktenautist, der fleißig und stets bestens vorbereitet ist, dem man ein Leben außerhalb der Politik aber kaum zutraut. Seine politischen Bekenntnisse wirken daher oft wie die Kompensationsversuche eines defizitären Charakters. Auf Wahlkampfveranstaltungen hinterläßt er zwar einen besseren Eindruck, als die Medien das vermitteln, aber es gelingt ihm nicht, von den Detailfragen der Wirtschafts- und Steuerpolitik zu einer großen Linie zu gelangen.

Stoiber profitiert vom bayerischen Sonderfall, der jetzt zugleich sein größtes Handicap ist. Er steht für den erstaunlichen Aufstieg einer Agrarprovinz zum modernen Musterland, das seine Erfolge in der Bildungs- und Innenpolitik auch einem konservativen Beharrungsvermögen verdankt. In der Wirtschaftspolitik steht er Schröder viel näher, als es auf den ersten Blick scheint. Beide sind entschiedene Staatsinterventionisten und stoßen dabei an ihre Grenzen. Nur ist es dem Bayern bisher gelungen, Fragen nach den Milliarden, die das Land in den maroden Kirch-Konzern gesteckt hat, unter der Decke zu halten.

Daß Stoiber profilierter wirkt als andere Landesfürsten der Union, hängt mit dem Charakter der CSU als Regionalpartei zusammen. Teilweise wird sie als bayerische Staatspartei wahrgenommen. Der kaum weniger erfolgreiche CDU-Landesverband in Baden-Württemberg hat nie einen vergleichbaren Ruf und Einfluß erlangt. Das ermöglichte es Stoiber, Landesinteressen effizient zu vertreten. Dabei geht er keineswegs zimperlich vor. Die gebeutelte LWS zum Beispiel wurde mit der Deutschen Kreditbank (DKB), einer hundertprozentigen Tochter der Bayerischen Landesbank, verschmolzen. Da die DKB ihren Sitz in Berlin hat und die Verluste steuerrechtlich demnach in der Hauptstadt verrechnet werden, belastet die LWS-Pleite nun auch den Berliner Steuerzahler.

Auf einer Internetseite des - nur offiziell überparteilichen - Bayerischen Rundfunks wird im Tonfall heiter-angestrengter Objektivtät über Stoibers Schulzeit folgendes verkündet. "Ein Streber war er nie, sagen seine Mitschüler, und außerdem wäre das ja auch eine völlig unbayerische Eigenschaft, das Streberische." Und dann wird auf eine weitere Website verwiesen, über die man sich eine brandneue Stoiber-Biographie - sprich: Hagiographie - bestellen kann, die auch noch von einer CSU-Politikerin verfaßt wurde. Byzantinismus herrscht auch in anderen Landessendern, doch nirgends so offen wie in München. Vor solchen Zuständen aber fürchtet man sich im Norden.

Seine gesellschaftspolitische Vision drückt er mit der Formel "Laptop und Lederhose" aus. Das klingt griffig, doch bereits der zweite Zugriff geht ins Leere. Die Expansion der Privatsender hat in Bayern Arbeitsplätze geschaffen, doch die Kinderprogramme, die sie produzieren, sind geeignet, aus dem Nachwuchs kulturfreie, konsumsüchtige Zombies zu machen. Wo also bleibt der Gesellschaftsentwurf, der zwischen Ökonomie und den anderen Sphären der Gesellschaft den Zusammenhang und die Balance herstellt? Als Fraktionschef Friedrich Merz im Bundestag auf Vorhalt der SPD empört bestritt, daß in seiner Fraktion Konservative säßen und damit unverzichtbare Positionen preisgab, blieb Stoiber stumm. Seine Argumentation gegenüber Rot-Grün ist fast auschließlich ökonomisch. So stellt sich die Frage, ob seine Zerfahrenheit vor der Kamera tatsächlich auf "Kantigkeit" und "Echtheit" schließen läßt, oder nicht eher auf Unsicherheit, Ratlosigkeit, auf einen beschränkten Horizont.

Beschränkt und instinktlos war sein Verzicht auf einen Ökologie-Experten im "Kompetenz-Team", und zwar nicht erst seit der Flutkatastrophe. Denn die Bewahrung der Schöpfung ist das Herzstück einer christlich inspirierten, politischen Ethik, und die Umweltpolitik bietet eine unschätzbare Gelegenheit, Flagge zu zeigen.

Nach Stoiber kommt nur noch Frau Merkel

Mit der Veröffentlichung von Waigels Ehekrise war Stoiber innerhalb der heimischen Marken erfolgreich. Eine ähnliche Strategie gegen Schröder, der zur Zeit mit der vierten Ehefrau glücklich ist, würde ihm bundesweit als Mißgunst ausgelegt werden und einem politischen Selbstmord gleichkommen. Hier tut sie sich tatsächlich auf, die "kulturelle Differenz" zwischen CSU-Bayern und dem Rest der Republik. Was sie an ihrer Mutter Karin bewundere, wurde die Stoiber-Tochter Constanze in einem Interview gefragt. Daß sie schon zum Frühstück tiptop zurechtgemacht erscheine, lautete die ernstgemeinte Antwort der ausgebildeten Juristin. Mehr muß man nicht wissen über Stoibers Familien- und Frauenbild. Es ist dasselbe, das die zehn Jahre ältere Hannelore Kohl vorlebte, bis sie nach den Enthüllungen über das Doppelleben ihres Mannes einen beispiellosen Zusammenbruch des Immunsystems erlitt.

Im Gegensatz zu Franz Josef Strauß ist Stoiber außenpolitisch ein unbeschriebenes Blatt. Die regional verwurzelte Weltläufigkeit seines Vorgängers ist bei ihm zum verkniffenen Provinzialismus geschrumpft. Beim Besuch im Weißen Haus überreichte er Präsident Bush in Anspielung an das Wappentier der Republikaner einen Elefanten aus weißem Porzellan. Der Bayernkurier präsentierte stolz einen farbigen Schnappschuß auf der Titelseite. Keinem der Münchner Weltpolitiker war eingefallen, daß ein weißer Elefant das Synonym für ein überflüssiges, für ein Nonsensgeschenk ist. Wer hat da noch Lust, nach der Meinung Stoibers zum Irak zu fragen?

Edmund Stoiber ist die vorletzte Schwundstufe des politischen Konservatismus in Deutschland. Nach ihm kommt nur noch Frau Merkel.


 
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