© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/02 20. September 2002

 
BLICK NACH OSTEN
Nachts herrscht weiter die Anarchie
Carl Gustaf Ströhm

Ist der mazedonische Becher halbvoll oder halbleer? Diese Frage läßt sich auch nach der Parlamentswahl vom letzten Wochenende in Skopje nicht eindeutig beantworten. Auch hier gibt es, wie so oft auf dem Balkan, mehrere "Wahrheiten" - und auch hier besteht die Tendenz, daß jeder sich die ihm am bequemste aussucht.

Da ist einmal der Westen, der in dem seit 1991 unabhängigen Land mit über tausend Wahlbeobachtern präsent war, und der dort 300 OSZE-Beobachter sowie 750 Nato-Soldaten unterhält. Die USA wollen das Wahlergebnis zum Anlaß nehmen, die Nato-Mission und die Anwesenheit einer - allerdings kleinen - Zahl von US-Soldaten zu beenden. Die Bush-Administration, so heißt es, würde am liebsten die Mazedonien-Mission als erfolgreich und das Land für "pazifiziert" erklären. Dann könnte Washington sich auf den Nahen Osten konzentrieren - und allenfalls noch ein halbes Auge auf den Kosovo und Bosnien werfen.

Das Wahlergebnis scheint solchen Überlegungen auf den ersten Blick recht zu geben: die mazedonisch-nationale Partei VMRO-DPMNE von Premier Ljubco Georgijevski erlitt bei der slawisch-mazedonischen Wählerschaft eine Niederlage. An ihrer Stelle wurde das sozialdemokratische Bündnis SDSM von Branko Crvenkovskij stärkste Partei. Wahrscheinlich müssen die Wahlsieger aber eine Koalition mit einer Partei der albanischen Minderheit eingehen - die in Westmazedonien aber eine Mehrheit ist. Auch bei den Albanern hat sich einiges verändert: An die Stelle der Demokratischen Partei der Albaner (DPA), die von den Wählern abgestraft wurde, tritt die Demokratische Union für Integration (DUI) des Ex-UÇK-Führers Ali Ahmeti, der sich vor noch gar nicht langer Zeit am bewaffneten Aufstand der Albaner gegen die mazedonische Staatsgewalt beteiligte.

Jetzt hat Ahmeti den Kampfanzug mit dem Maßanzug vertauscht und betont, alle ethnischen Gruppen in Mazedonien benötigten Frieden. Allerdings sehen viele Mazedonier mit Sorge, daß die Albaner (über ein Viertel der Bevölkerung) über eine "ethnische Zeitbombe" verfügen: die meist islamischen Albaner vermehren sich -die slawische Geburtenrate sinkt.

Zwar hat der Westen die albanischen Aufständischen und die mazedonische Regierung, deren bewaffnete Verbände sich noch vor einem Jahr blutige Gefechte lieferten, an den Verhandlungstisch gezwungen. In Ohrid wurde ein Friedensabkommen unterzeichnet, das den Albanern in Mazedonien größere Rechte einräumt. Doch bis in die letzten Tage vor der Wahl kam es zu Schießereien - nicht nur zwischen mazedonischen Sicherheitskräften und angeblichen "Splittergruppen" der Albaner, wie etwa der "Armee der Republik Ilirida", die sich von der aufgelösten UÇK losgesagt haben soll. Auch innerhalb der beiden Volksgruppen gibt es heftige Rivalitäten. OSZE-Beobachter trauen sich bis heute nicht, in Gebirgsdörfern zu übernachten, weil, wie einer von ihnen sagte, "nachts die Anarchie herrsche".

Gewiß kann man Mazedonien nicht mit Afghanistan vergleichen. Dennoch sollte es dem Westen zu denken geben, daß es zwischen den Schluchten des Balkans und des Hindukusch Territorien gibt, die zwar formell vom Westen "kontrolliert" werden, die aber in Wirklichkeit außerhalb der Kontrolle bleiben. Da beginnt wenige Meter jenseits der Botschaften und Hauptquartiere des Westens eine andere, unbekannte Welt. Sollten die Amerikaner in Mazedonien den Rückwärtsgang einlegen, könnte das die Stunde dieser zweiten Wirklichkeit sein, denn die Probleme des Landes bleiben ungelöst.


 
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