© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    39/02 20. September 2002

 
Die Geburt der Kultur aus dem Geist der Sprache
Friedrich Nietzsche und der Prozeß der Zivilisation
Jürgen Neumann

Wer Verächtliches über Philologen sucht, wird bekanntlich bei Friedrich Nietzsche, der fast zehn Jahre Klassische Philologie an der Baseler Universität lehrte, gut bedient. Diese Abneigung gegen seinen Brotberuf hat jedoch nicht verhindern können, daß ausgerechnet Nietzsches Werk im Verlauf des letzten Jahrhunderts mit einer philologischen Perfektion "historisch-kritisch" eingesargt worden ist, wie das wohl keinem anderen deutschen Denker widerfahren ist. Das gilt in besonderem Maß für den "jungen Nietzsche", man vermißt eigentlich nur noch eine reich kommentierte Edition seiner Spickzettel aus den Internatsjahren in Schulpforta.

Angesichts solcher Ausführungen der dem "Zarathustra"-Schöpfer wenig behagenden "antiquarischen" Geschichtsschreibung ist es immer wieder erstaunlich, wenn Nietzsche-Forscher den Anspruch erheben, noch Neues mitteilen zu können. Noch mehr muß erstaunen, daß gerade das Jugendwerk "Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (1872) zu neuen Deutungen herausfordert, für das seit 1992 der akribische Kommentar von Barbara von Reibnitz vorliegt. Trotzdem meint der in Cambridge lehrende Altphilologe Christian J. Emden, uns auf diesem Terrain neue Einsichten vermitteln zu können (Zeitschrift für deutsche Philologie, Heft 2/02).

Zu diesem Zweck leuchtet Emden, wie dies vor ihm von Reibnitz, Hubert Cancik und James I. Porter getan haben, die philologischen Hintergründe von Nietzsches Tragödientheorie aus. Dabei bestätigt sich, daß die Verbindung von Anschauungen über attische Tragödie mit "ästhetischen Gemeinplätzen" Schopenhauers und Wagners ebenso ephemer ist wie die zumeist mit dem abgegriffenen Dualismus "apollinisch-dionysisch" verknüpfte geschichtsphilosophisch-kulturkritische Metaphysik. Absolut vorrangig hingegen, so Emden, sei Nietzsches Rezeption und produktive Aneignung der Forschungsprozesse in seiner eigenen Disziplin, der Klassischen Philologie und der Altertumskunde im weiteren Sinne. Im Mittelpunkt seiner Reflektionen stünde der Zusammenhang von Sprache und Kultur. Die "Rückbeziehung philologischer Interpretation auf Sprache" führte ihn zur Annahme einer "spezifischen Sprachkultur". Von da aus sei es, unter Einbeziehung der Forschungen Wilhelm von Humboldts, nur noch ein kleiner Schritt zur Erkenntnis gewesen, daß der Konnex von sprachlichen Entwicklungsformen und kulturellen Prozessen zu jeweils unterschiedlichen Weltbildern und mitunter unvereinbaren kulturellen Identitäten, dem "Geist" der Völker führe. Vom spezifischen Sprachbewußtsein habe Nietzsche anthropologische Rückschlüsse auf die Entstehung literarischer Formen bei den Griechen, in einem ursprünglich von "Oralität bestimmten kulturellen Umfeld" gezogen. Nachahmende, von Musik, Tanz und Rhythmus bestimmte "mimetische" Ritualhandlungen, religiöse und kultische Festakte, hätten soziale Identität und kulturelle Erinnerung gestiftet. In dieser Rekonstruktion Emdens erscheint Nietzsche dann weniger als Kulturkritiker des 19., sondern als Vorläufer der Kulturtheoretiker des 20. Jahrhunderts, die dem "zivilisatorischen Prozeß" der Auflösung archaisch-mythischer Weltbilder auf der Spur sind.


 
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