© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    40/02 27. September 2002

 
Blaues Ländchen
Leba, das östlichste pommersche Seebad, lockt mit seinem unendlichen Sandstrand und mächtigen Wanderdünen
Thorsten Hinz

Auf historischen Karten stellt Pommern sich als ein 500 Kilometer langer und 50 bis 60 Kilometer schmaler Landsaum entlang der Ostsee dar. Sein westlichster Punkt ist die Halbinsel Darß (auf halbem Wege zwischen Rostock und Stralsund), der östlichste das Westufer des Zarnowitzer Sees rund 50 Kilometer Luftlinie vor Danzig. Die ehemalige westliche Landesgrenze zu Mecklenburg wird durch die Recknitz markiert, im Osten bildete außer dem See das Flüßchen Piasnitz die Grenzlinie.

Um dorthin zu gelangen, fährt man am besten nach Leba, das östlichste pommersche Seebad und "Krone des Blauen Ländchens", wie dieses hinterste Hinterpommern zu deutscher Zeit hieß. Bis vor zwei Jahren war das bequem mit dem Interregio "Mare Balticum" möglich. Die Fahrt dauerte von Berlin aus neun Stunden, einschließlich eines längeren Zwischenstops in der Kreisstadt Lauenburg (Lebork). Heute muß man bereits in Stettin in die weniger komfortable polnische Staatsbahn wechseln.

In Leba leiht man sich am besten ein Fahrrad aus, die Dauer der Tour hängt von der eigenen Kondition ab. Bis zur alten Provinzgrenze nach Wespreußen, die seit dem Versailler Vertrag die Reichsgrenze zum polnischen Korridor bildete, sind es noch rund 40 Kilometer. Die Abtrennung Westpreußens 1919 bedeutete eine schwere Erschütterung für die Region, denn Wirtschaft und Infrastruktur waren nach Osten, nach Danzig, ausgerichtet. Die wirtschaftliche Not heizte die Situation an. In Zeitdokumenten ist von der "erneuten Grenzwacht" Ostpommerns die Rede, und der Lauenburger Kreistag definierte 1925 in einer Entschließung das "Blaue Ländchen" ganz unpoetisch als "Vorposten des Deutschtums".

Doch nicht nationale Nostalgie macht die Radtour zum Erlebnis. Man durchquert eine weiträumige, leicht hügelige Landschaft mit verschlafenen Dörfern, von denen einige über gleich drei Storchennester verfügen. In den Vorgärten wuchern wild die Blumen und Gräser, auf parzellierten, teilweise unbestellten Feldern glühen Ginster, Mohn und Kornblumen. Die endlosen Alleen bilden nach oben hin ein geschlossenes, kirchenähnliches Dach, man fühlt sich wie in einer grüngoldenen, mythischen Kindheitslandschaft. Durch geöffnete Türen und Fenster blickt man in die alten Bauernhäuser mit ihren prähistorischen Möbeln, die 1945 zurückgelassen wurden und für die man heute beim Antiquitätenhändler Unsummen zahlt.

Viele der einzeln stehenden Häuser und Scheunen sind verlassen und dem Verfall preisgegeben. Das muß kein Indiz der Verwahrlosung sein. Die Zeit selber wälzt sich über die kleinbäuerliche, in ökonomischer Hinsicht anachronistische Lebensform. Die polnische Wirtschaft steht erst mitten in der Zeitenwende.

Das letzte Dorf in Ostpommern heißt Wierschutzin, wo bis heute einige hundert Deutsche leben. Als ihre Vertreibung beginnen sollte, war gerade Typhus ausgebrochen, so daß sie nicht reisefähig waren. Durchweg katholisch, optierten viele für Polen und durften bleiben. Einige vermieten jetzt Urlaubsquartiere an deutsche Besucher. Hinter Wierschutzin beginnt nochmals eine Allee aus Kastanien, Eschen und Ahornbäumen, die zum Zarnowitzer See führt. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs verlief die Grenze Pommerns in der Mitte des Sees, doch ein deutscher Gutsbesitzer, der weiterhin das gesamte Gewässer bewirtschaften wollte, sorgte dafür, daß sein Dorf für Polen stimmte. Damit verschob die Grenze sich ans westliche Ufer, wo sie an einer Stelle eine kleine Ausbuchtung machte. Doch das ist heute nur noch Geschichte. Die Piasnitz fließt als unspektakuläres Rinnsal aus dem See. Sie wird über ein kleines Wehr geführt und setzt dann ihren Weg nach Norden zur Ostsee fort. Richtung Osten locken die bläulichen Hügelketten der Kaschubischen Schweiz.

Skeptische Großstädter stellen sich sofort die Frage, ob es tatsächlich die eigenen Sinne sind, die ihnen den bläulichen Farbeindruck vermitteln, oder ob sie der Suggestion des Titels "Blaues Ländchen" erliegen. Doch kein Zweifel ist möglich. Das Zusammenspiel von blauem Himmel und weißem Strand, von Meer und weißgelben Wanderdünen, von sich landeinwärts türmenden Wolkenbergen und ausgedehnten Wäldern, legt tatsächlich einen bläulichen Schimmer über die Lebaer Landschaft.

Ihr Herzstück und Höhepunkt sind die mächtigen Wanderdünen, die sich auf der 17 Kilometer langen Nehrung zwischen Ostsee und Lebasee über 22 Hektar ausdehnen. Es ist das Pech - oder Glück - der Lebaer Dünen, daß sie bis heute im Schatten der legendären Sandberge auf der Kurischen Nehrung stehen. Der "Brücke"-Maler Max Pechstein kam 1921 nur notgedrungen hierher, nachdem der nördliche Teil der Kurischen Nehrung mit dem Künstlerort Nidden litauisch geworden war. Sein neues Sommerdomizil Leba war damals ein Fischerort von nicht ganz 3.000 Einwohnern. Er heiratete hier die Gastwirtstochter Martha Möller, 1926 wurde sein zweiter Sohn Max geboren.

Die Abgeschiedenheit der Gegend war ihm gerade recht, als er sich während der NS-Zeit in die innere Emigration zurückzog. Leba war erneut sein Fluchtziel, als er 1944 das brennende Berlin verließ. Nachdem die Ostfront Pommern überrollt hatte, schlug er sich mit Fischfang für die Rote Armee und Malerarbeiten für die neuen polnischen Bewohner durch, ehe er im September 1945 endgültig nach Berlin zurückkehrte.

Zu Max Pechsteins Zeiten lag Leba noch außerhalb der Welt. Ein wirklich populäres Seebad ist es erst seit den sechziger Jahren geworden, als die Polen es zum großen Ferienort ausbauten. Die touristische Infrastruktur wird vollständig modernisiert. Zwar verstellen einige graue Wohnblöcke als traurige Denkmäler des Sozialismus die Landschaft, aber sie prägen nicht das Gesicht des Ortes. Lebas alte Bausubstanz hat den Krieg glimpflich überstanden, und die jetzt errichteten Gebäude im Ort passen sich den bescheidenen Backsteinhäusern entlang der Hauptstraße weitgehend an. Viele Wohnhäuser haben frische Farbe erhalten, die zahlreichen Betriebsferienheime sind meistenteils saniert, eine Reihe Pensionen, Restaurants und kleiner Bars wurden neu eröffnet.

Leba und seinen jetzt 4.000 Einwohnern geht es besser als dem Umland. In den großzügigen neuen Eigenheimen an den Ortsrändern wurden die Fremdenzimmer gleich mitgeplant. Über ihre Architektur läßt sich streiten. Antikisierende Säulenvorbauten, verspielte Ecktürmchen und schwere, schmiedeeiserne Balkongitter bestätigen nur, daß der wirtschaftliche Aufschwung der Verfeinerung des Geschmacks stets um Längen vorauseilt. Ein Restaurant im Ortskern ist eingerichtet wie nach den Vorgaben des Quelle-Katalogs. Schwere Vorhänge, Schabracken und Bordüren sorgen selbst bei grellem Sonnenschein für Halbdunkel, es dominieren die Farben Braun, Rosé und Violett. Die stolzen Besitzer glauben ein Schmuckstück geschaffen zu haben, in Wahrheit wirkt es wie ein kleiner Puff.

Doch auch das 1913 erbaute, vor wenigen Jahren sanierte Kurhaus am Strand mit seinem an eine Ritterburg gemahnenden Turm, ist, rein ästhetisch gesehen, ein Monstrum. Aus historischer Perspektive aber hat der kitschige Bau, wo Marianne Hoppe und Gustaf Gründgens den "Effi Briest"-Film "Der Schritt vom Wege" (1939) drehten, Patina angesetzt, die ihn mit einem verklärenden Licht umgibt. Anders ist es jedenfalls nicht zu erklären, daß ein aktueller Reiseführer das einstige "Schloß am Meer" als "architektonische Perle" bezeichnet.

Lebas geographische Lage könnte günstiger kaum sein: Im Norden die Ostsee, im Westen der Leba-, im Osten der Sarbsker See, außerdem mündet hier der gleichnamige Fluß ins Meer. Bei Sassin (Sasino) erreicht man über einen Sandpfad durch den Wald den Leuchtturm von Stilo, der 900 Meter von der Küste auf einer bewaldeten Düne von 40 Meter Höhe steht. 1905 wurde er aus Stahlbauteilen errichtet. Man darf ihn besteigen, das freundliche Leuchtturmwärterpaar überläßt uns sogar das Fernglas. Auf dieser Höhe wurde 1945, einige Kilometer seewärts, die "Wilhelm Gustloff" torpediert.

Der neue Lebaer Yachthafen zeigt an, auf welches Publikum man hier in Zukunft setzt. Noch sitzen in den Restaurants vornehmlich Ausländer. Am besten ißt man im Kurhaus, das heute Hotel "Neptun" heißt. Von der Terasse und aus dem Speisesaal hat man einen herrlichen Blick auf das Meer, bei gutem Wetter und entsprechender Tageszeit sogar auf einen klassischen, pastellfarbenen Sonnenuntergang. Die polnischen Urlauber versorgen sich überwiegend an den kleinen Ständen und in den Selbstbedienungsrestaurants entlang am Hafen. Ihre Freizeitkluft sind flatternde bunte Trainingsanzüge, die irgendwie westlich aussehen und zugleich billig sind.

Das heutige Leba nimmt die deutsche Vergangenheit an. Im Vorraum der im 17. Jahrhundert erbauten Kirche, die 1945 katholisch wurde, ist eine Schrifttafel in deutscher Sprache angebracht, auf der die wichtigsten Daten der Kirchengeschichte verzeichnet sind. Daneben hängt ein Ausriß aus einer deutschen Vertriebenenzeitung mit einem rührseligen Heimatgedicht.

Im Slowinski-Nationalpark, der seit 1966 den Strand, die Sanddünen und die Uferstreifen der Seen westlich von Leba weiträumig umschließt, informiert eine Freiluftausstellung darüber, daß an dieser Stelle seit 1943 an "Wunderwaffen" namens "Rheintochter" und "Rheinbote" gebastelt wurde. Den Informationstafeln ist zu entnehmen, daß Anfang 1945 die letzten Raketentests stattfanden. Vermutlich handelte es sich um Versuche für die geplante Serie der "A 9", eine weiterentwickelte, mit Flügeln versehene "A 4" ("V 2"), die zunächst eine Reichweite von 500 Kilometern und später, mit einer zweiten Raketenstufe bestückt, sogar von 5.000 Kilometern haben und die USA erreichen sollte.

In einem erhalten gebliebenen Bunker ist eine Ausstellung mit historischen und aktuellen Fotos zu sehen. 1945 wohnten in Leba neben 1.400 Deutschen schon 1.200 Polen und 26 kaschubische Familien. Es gab neben dem polnischen noch einen deutschen Bürgermeister, eine deutsche, polnische und russische Bäckerei existierten nebeneinander. Auf die Zukunft des Ortes aber verweisen Bezeichnungen wie "Drink Bar Malibu" oder "Diskothek Miami Nights", die bereits aus dem Zeichenvorrat eines Medien- und Tourismusbetriebs stammen, der von nationalgeschichtlichen Hypotheken nichts wissen will.

Die größten Pfunde, mit denen Leba wuchern kann, sind der schier unendliche, feinsandige, dreißig Meter breite Strand und die 17 Millionen Tonnen Feinsand, die seit Jahrhunderten zu mächtigen Wanderdünen aufgeweht wurden. Die bekannteste unter ihnen, die Lontzke-Düne, erstreckt sich über eine Länge von 500 Metern, ihr Kamm erreicht eine Höhe von 42 Metern. Jährlich wandert sie bis zu zehn Meter gen Osten. In ihrem Schoß übten Rommels Soldaten vor sechzig Jahren den Wüsteneinsatz. Heute pilgern, sobald das Wetter schön ist, endlose Touristenströme und Kinderkarawanen hierher. Sie entsteigen einer kleinen Elektrobahn, die zwischen Leba und dem Eingang des Nationalparks verkehrt ...

Bei ihrem Anblick wird man von Mitleid und Sorge um das "Blaue Ländchen" - und um sich selber - erfüllt. Natürlich ist der Tourismus seine große, vielleicht einzige Chance, am europäischen Wohlstand teilzuhaben. Andererseits ist sein Vorrat an Ruhe, Schönheit und unverbautem Raum nur solange unerschöpflich, wie die Zeit hier gemächlich bleibt.


 
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