© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/02 04. Oktober 2002

 
Der Stabilitätspakt schwächelt
Europäische Währungsunion: EU duldet Haushaltsdefizite bis 2006 / Entscheidung folgt der Realität oder schafft eine neue
Bernd-Thomas Ramb

Der Vorschlag der EU-Kommission, den Mitgliedsstaaten mehr Zeit für das Ziel einzuräumen, Staatshaushalte ohne Zusatzverschuldung vorzulegen, ist auf unterschiedliches Echo gestoßen. Während die Schuldenstaaten Frankreich, Italien, Portugal und - wenn auch noch nicht offen - Deutschland von dieser Idee begeistert sind, haben die Länder mit ausgeglichenen oder sogar Überschüsse ausweisenden Staatshaushalten Bedenken und Proteste angemeldet. Ursprünglich hatten die EU-Staaten vereinbart, spätestens bis zum Jahre 2004 ausnahmslos ausgeglichene Haushalte vorzulegen.

In Anbetracht der anhaltend depressiven Konjunkturlage soll dies nun auf das Jahr 2006 verschoben werden. Die EU-Kommission folgt mit dieser Verzögerung der Vermutung, daß die defizitären Länder ohnedies das Zieljahr 2004 nicht einhalten können - auch wenn manche, wie Deutschland, nach wie vor in ihrer mittelfristigen Finanzplanung daran festzuhalten vorgeben. Mit einer vorweggenommenen "freiwilligen" Terminverschiebung könnte sich die Europäische Union das blamable Eingeständnis ersparen, die großen Mitgliedsstaaten würden sich nicht an getroffene Vereinbarungen halten.

Nach dem Stand der statistischen Rückmeldungen verzeichnen vier der 15 EU-Staaten ein Haushaltsdefizit. Deutschland, das seine aktuelle Meldung zurückhielt, bis die Bundestagswahl vorüber war, wie auch die EU-Kommission mit ihrer Ankündigung scheinbar erst die deutsche Defizitmeldung abwartete, bleibt mit 2,9 Prozent knapp unter dem Grenzwert von 3 Prozent, der einen "Blauen Brief" aus Brüssel und im Ernstfall gemäß dem Stabilitätspakt eine Bußgeldzahlung nach sich ziehen würde. Frankreich hat ein Haushaltsdefizit von 2,3 bis 2,6 Prozent gemeldet und läuft somit ebenfalls Gefahr, eine Abmahnung aus Brüssel zu kassieren.

Der Mahnbrief wird auf jeden Fall an Portugal abgeschickt, das mit einem Haushaltsdefizit von 4,1 Prozent deutlich über der Grenzmarke liegt. Ob es allerdings tatsächlich zu einer finanziellen Bestrafung kommt, bleibt fraglich. Ein Automatismus besteht nach dem Stabilitätspakt nicht und wenn die anderen Staaten mehrheitlich der Auffassung sind, die künftigen Anstrengungen der Portugiesen lassen Besserung erwarten, könnte Gnade vor Recht walten. Portugal hat bereits signalisiert, daß in diesem Jahr das Haushaltsdefizit auf 2,8 Prozent gesenkt werden könnte. Die 4,1 Prozent beziehen sich also auf das vergangene Jahr und betreffen gewissermaßen Altschulden.

Ein aktueller Zahlenvergleich ist deshalb mit besonderer Aufmerksamkeit zu lesen. Momentan haben nur noch Frankreich, Italien und Deutschland Prognosewerte für das laufende Haushaltsjahr abgeliefert. Alle anderen bekannten Werte beziehen sich auf das Jahr 2001. Die EU-Kommission begründet also, wenn sie nicht über mehr Daten verfügt als veröffentlicht wurden, ihre Entscheidung weitgehend auf Vermutungen. Im letzten Jahr hatten Luxemburg, Finnland und Schweden, das nicht die Euro-Währung eingeführt hat, deutliche Haushaltsüberschüsse zwischen 4,7 und 5 Prozent. Mehr oder weniger geringfügig war das Haushaltsplus in Dänemark (2,7 Prozent), Irland (1,7), das erhebliche Zuschüsse von der EU erhält, und in Großbritannien (0,9), das bislang die Teilnahme an der Euro-Währung verweigert. Die Niederlande, Belgien, Österreich, Griechenland und Spanien, die beiden letztgenannten Länder ebenfalls mit großzügigen EU-Zahlungen unterstützt, weisen einen ausgeglichenen Haushalt aus.

Italien hat für das laufende Jahr mit 1,8 Prozent ein Defizit gemeldet, das unter denen Deutschlands, Frankreichs und Portugals liegt. Entscheidungen, die zugunsten der defizitären Länder getroffenen werden, betreffen somit auch Italien, das sich jedoch damit brüsten kann, den geringsten Fehlbetrag auszuweisen. Damit aber wird die EU-Entscheidung, Haushaltsdefizite praktisch zu tolerieren, zur Trumpfkarte des nationalen Schuldenpokers. Noch können die laufenden Haushalte überzogen und die Haushaltspläne für das kommende Jahr neu gestaltet oder modifiziert werden. Italiens Absicht war bislang, im kommenden Jahr das Haushaltsdefizit auf 0,8 Prozent zurückzuführen. Das gesetzte Ziel, ohnedies von Fachleuten als zu ehrgeizig eingestuft, läßt sich nun leichter verfehlen.

Auf ähnliche Gedanken werden sicher auch die bislang haushälterisch redlichen Staaten kommen, die im Moment noch ein lautes Lamento anstimmen ob der Bevorzugung der großen Länder mit dem großen Haushaltsdefizit. Ihre Verbitterung über die Möglichkeit der Großen, mit ihrer Stimmenmehrheit kurzfristig getroffene EU-Vereinbarungen vom Tisch fegen zu können, wird wahrscheinlich dem Gedanken weichen: Was die können, können wir auch. Der Tendenz zum Schuldenmachen ist damit Tür und Tor geöffnet. Aus der Überlegung, den kleinen Staaten das Gefühl der Majorisierung durch die großen Länder nehmen zu müssen, werden Deutschland, Frankreich und Italien sich dem nicht widersetzen. Die Lizenz zum Verschulden ist damit allgemein erteilt.

Die Konsequenz ist absehbar. Länder, die nach bestehender Erfahrung dazu neigen, Haushalte "hart auf Kante zu nähen", werden den Verschuldungsspielraum zeitlich und volumenmäßig voll ausnutzen: 2,99 Prozent in den Jahren 2003 bis 2006. Der Stabilitätspakt wird damit nicht nur voll ausgereizt. Es erhöht sich die Gefahr, daß er vollends wirkungslos wird. Zum einen haben die EU-Länder gelernt, daß sich die Auslegung von Stabilitätsvereinbarungen den widersprechenden Haushaltsrealitäten unterordnet. Das schafft die Einsicht, daß eine Anpassung der Haushaltsrealität an die gesetzliche Vorschrift unnötig ist. Der Widerspruch wird damit verschärft.

Zum anderen führt die volle Ausnutzung der Verschuldungsspielräume zum zunehmenden Überschreiten der Grenzwerte. Die Furcht vor finanziellen Sanktionen schwindet aber mit der zunehmenden Zahl der Grenzverletzer, denn im System des Stabilitätspaktes bestimmt die Gemeinschaft der Gesetzesbrecher das Strafmaß. Mit freiwilliger Selbstkasteiung aufgrund ehrlicher Einsichten dürfte aber in der heutigen Politik der europäischen Staaten wie auch in der Europapolitik selbst kaum zu rechnen sein.


 
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