© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/02 04. Oktober 2002

 
Abschied von der Sprache
Gesellschaft für Philosophie: Sind unsere Denker vor der Bilderflut eingeknickt?
Günter Zehm

Unsere Lehrbücher und Schullesebücher werden immer bunter. Wo vor wenigen Jahren noch simpler Fließtext stand, reiht sich heute ein Schaubild ans andere, und zwar nicht nur in den Ausgaben für Erstkläßler, sondern auch und gerade in der Fachliteratur für Höchstsemester. Kaum ein Professor traut sich mehr, seine Vorlesung ohne Einsatz des Tageslichtprojektors zu halten. Dauernd wirft er Diagramme an die Wand, auch wenn einige wenige gesprochene Sätze den Tatbestand weit klarer rüberbringen würden.

Viele Diagramme bestehen ihrerseits aus nichts als Sätzen. Es ist nichts weiter als ein Abriß des parallel laufenden Vortrags, nur ist die Sprache eben zum Diagramm, zum "Bild", geronnen. Allein auf diese Weise, so offenbar die Überzeugung sowohl des Dozenten als auch der zuhörenden Studenten, kann die Sprache Kontur und Würde gewinnen: indem sie sich in Bild verwandelt, sich dem "pictorial turn" unterwirft, wie es neuerdings heißt.

Dabei war der "linguistic turn", also nicht die Wendung zum Bild, sondern ausdrücklich zur Sprache, soeben noch der Stolz jeglicher Philosophie und Wissenschaftstheorie gewesen. Seit Heidegger und Wittgenstein galt es fast als Allgemeinplatz, daß der Gegenstand und Ackergrund der Erkenntnis in der Sprache liege, daß in ihrer Semantik und Grammatik ein Optimum an Welthaltigkeit gespeichert sei, welches ausgeschöpft werden müsse. Jetzt wird der "linguistic turn" vom "pictorial turn" abgelöst. Nicht mehr die Sprache, sondern das Bild soll am Anfang jeden Wissens stehen.

Ungeduldige Kulturkritiker mögen darin eine gefährliche Verflachung des Forschungsniveaus sehen, ausgelöst durch die Übermacht der Bildmedien im modernen Alltag. Philosophen lassen die Sache bedächtiger angehen. Auf dem soeben in Bonn zuende gegangenen 19. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, der unter dem Generalthema "Grenzen und Grenzüberschreitungen" stand, wimmelte es geradezu von Referaten über den "pictorial turn", und der Tenor war wohlwollend bis eindeutig zustimmend. Es war sogar die Rede von der "Verwandlung der Philosophie in Bildwissenschaft".

Der neu gewählte Vorsitzende der Gesellschaft, der Berliner Lehrstuhlinhaber Günter Abel, hatte schon vorher den Ton angegeben. In einer (auch sonst sehr interessanten, im Walter de Gruyter Verlag in Berlin erschienenen) Festschrift für Hans Poser fragte er, ob die Ersetzung des "linguistic turn" durch den "pictorial turn", der Übergang von der Sprache zum Bild, vom Wort zum Piktogramm, nicht einem tiefen Bedürfnis der Menschen und speziell der Wissenschaftler entgegenkomme, ob hier nicht eine Rückkehr zur Normalität des Lebens und Denkens stattfinde.

Es bestehe, sagt Abel im Anschluß an Wittgenstein, ein gravierender Unterschied zwischen bloßen "Bildwelten" und unserem "Weltbild". Dies letztere sei, mehr als jede sprachliche Eingebettetheit, die Grundtatsache unserer Existenz. Noch bevor wir zu sprechen anfingen, hätten wir uns ein Bild von unserer Befindlichkeit gemacht, und der Wucht dieses "Weltbildes" könnten wir uns nach keiner Richtung hin entziehen.

Zwar lasse sich das Weltbild mit wechselnden Bildwelten möblieren, und genau das passiere ja auch, darin bestehe unser Leben, auch unser Forscherleben. Doch das "Weltbild" als solches werde im Kern nicht berührt. Es sei weder falsifizierbar noch hintergehbar, es sei das Umgreifende, das wir immer mit uns und in uns tragen, das Kraftfeld, in dem wir operieren, ob wir nun handeln oder lediglich reflektieren.

Weltbilder sind der Igel im Märchen vom Hasen und dem Igel. Wir glauben oft, sie im vollen Lauf des Forschens und Erfahrens zu überholen, doch wenn wir ankommen, merken wir stets (wenn wir zu merken verstehen), daß sie längst schon da sind, daß wir nur "neue" Schlußfolgerungen ziehen konnten, indem wir uns auf das längst Bekannte und Vertraute verließen. Auch der wildeste Kritiker und entschlossenste Zweifler kann diesem Dilemma nicht entgehen. Weltbilder sind der Grund von allem und selber grundlos. Wir können nur gründen, indem wir auf sie bauen.

Das ist zweifellos richtig gesehen und gut formuliert, aber ersetzt es wirklich den "liguistic turn" durch einen "pictorial turn"? Das Weltbild à la Abel und Wittgenstein ist ja kaum noch als Bild im traditionellen Sinne auszumachen und anzusprechen. Es wird nicht gesehen, sondern empfunden, erfühlt, erlebt, erlitten und - last, but not least - in Sprache gefaßt noch im selben Moment, da es erlitten wird. Es ist ein Zeichen oder, wenn man will, eine Kombination von Zeichen, und Zeichen von dieser Fundamentalität und Urgewalt sind nie und nimmer bloße Piktogramme, wie sie aufdringlich und Bedeutung heischend in unserer modernen Lebenswelt herumstehen.

Wer sich das klarmacht, gewinnt sein gesundes Mißtrauen gegenüber der medialen Bilderflut und dem Anspruch der Bildermacher auf Lebensführerschaft schnell zurück. Bilder mögen im aktuellen Politik- und Meinungsbetrieb das Wort und die Rede an Wirkung überflügelt haben, als Medien seriösen Lernens und Forschens bleiben sie ihnen prinzipiell unterlegen. Ihr demagogisches Potential läßt sich schwerer durchschauen als das der Rede, aber gerade dadurch erweisen sie ihre erkenntnistheoretische Zweitklassigkeit, ja, Unbrauchbarkeit.

Immer wieder ist es in der Kulturgeschichte zu erruptivem Mißtrauen gegen das Bild gekommen, zu Ikonoklasmen, Bilderstürmen, Bilderverboten, und jedesmal aus gutem Grund. Sich ein Bildnis zu machen hieß, vom Eigentlichen abzulenken. Der Sehsinn, so nützlich und genußreich er ist, galt im Vergleich zum Hörsinn immer als der weniger vornehme. Wahrhaft Weise, "Weltbildseher" am Anfang der Kulturentwicklung, Homer, Anaxi-mandros, Thales von Milet, wurden gern als Blinde vorgestellt, als "blinde Seher", wie das schöne Paradox der Sprache es ausdrückte.

Bei Sokrates und Platon ging die Reserve gegenüber der Erkenntniskraft und Zuverlässigkeit des Bildes so weit, daß sie sie sogar auf das geschriebene Wort ausdehnten. Nur im lebendigen Vortrag war ihrer Meinung nach gediegene Verständigung über Sachverhalte möglich; das geschriebene Wort war dafür schon zu sehr Bild. Dies zum Beschluß jenen ins Stammbuch, die statt mit dem Wort mit dem Tageslichtprojektor verheiratet sind.

Günter Abel, Hans-Jürgen Engfer, Christoph Hubig (Hrsg.): Neuzeitliches Denken. Fest- schrift für Hans Poser zum 65. Geburtstag. Walter de Gruyter Verlag, Berlin/New York 2002, 481 Seiten, geb., 128 Euro


 
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