© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/02 04. Oktober 2002

 
Dauerregen im Vergnügungspark
Kino: Steven Spielberg erzählt in "Minority Report" eine altmodische Geschichte
Silke Lührmann

Seit drei Jahrzehnten - inzwischen mit Hilfe seiner Produktionsfirma Dreamworks - färbt Steven Spielberg unser Weltbild, aber seine Palette hat sich verändert. Nach dem grellen Horror seines Frühwerkes aus den 1970ern, den satten Farben von "E.T." (1982), "Jurassic Park" (1993), "Zurück in die Zukunft" (1985, 1989, 1990) und den "Indiana Jones"-Filmen (1981, 1984, 1989), den Regenbogenpastellen der "Farbe Lila" (1985), dem flammend roten Hoffnungsschimmer in "Schindlers Liste" (1993), der Sepiagilbung von "Amistad" (1997) und den gedämpften Tönen des "Soldaten James Ryan" (1998) hat er diesmal zu Grauschattierungen gegriffen, die eher an Stanley Kubrick oder an Ridley Scotts "Blade Runner" (1982) erinnern.

Das mag an der Arbeit liegen, die Spielberg in die Vollendung von Kubricks Vermächtnis "Künstliche Intelligenz" (2001) gesteckt hat, oder daran, daß "Minority Report" wie "Blade Runner" auf einer Erzählung des amerikanischen Science-Fiction-Schriftstellers Philip K. Dick (1928-1982) beruht. Dick war seinerseits federführend für die Zukunftsängste mehrerer Generationen von Lesern.

Ob Phantasie oder Dystopie, Dinosaurier, Roboter oder Außerirdische, Zeitmaschinen oder - wie hier - die Kriminalistik der Zukunft, die Straftaten nicht mehr aufklärt, sondern vorhersieht und verhütet: Spielberg hat immer wieder sichtlich Spaß daran, sein Feuerwerk der Effekte zu zünden. Die Geschichte, die er in "Minority Report" erzählt, ist eine altmodische. Man könnte auch sagen, sie dreht sich um uralte Fragen: Schuld und Sühne, Vorherbestimmung oder Willensfreiheit. Ihr Schauplatz ist ein Vergnügungspark, wenn auch ein verregneter - Straßen, die eher Achter- als Autobahnen gleichen; Scanner, die auf langen Spinnenbeinen durch die Gegend wuseln wie niedliche Spielzeuge, in Wohnungen eindringen und die Bewohner anhand ihrer Netzhäute identifizieren. Geschäfte und andere öffentliche Räume sind Spiegelkabinette, deren Werbebotschaften das individuelle Kaufverhalten jedes Verbrauchers reflektieren. Allerdings hat die Menschheit auch im Jahr 2054 noch kein Heilmittel gegen Erkältungen - genausowenig wie gegen Einsamkeit oder Begierde, das Sehnen und die Sucht nach Glück, nach Erfolg, nach menschlicher Nähe.

Spielberg ließ einen think tank für sich arbeiten, um ein fünfzig Jahre gealtertes Amerika möglichst präzise zu entwerfen. Die Methoden dieser Weisen waren vermutlich weniger primitiv als die Prophezeiungen, aufgrund derer das integrierte Polizei- und Justizsystem in "Minority Report" Menschen lebenslänglich in Reagenzgläsern kaltstellt. Die Vorerkennung und Verhinderung von Verbrechen ist ein unheiliges Gebräu aus Aberglauben und technischem Fortschritt. Im innersten Sanctum der zuständigen Behörde, dem Mysterium des Ministeriums, schwimmen drei Waisen, denen die Weissagung gegeben ist, in warmem Wasser und träumen unschuldig alle Schuld der unerlösten Welt. Freud läßt grüßen, modernste Informationstechnologie speichert ihre Visionen auf Datenträgern, und eine Art Lottoautomat spuckt - Abrakadabra! - zwei Kugeln aus, in die die Namen von Opfer und Täter eingraviert sind.

Mehr als ein Blick in die Zukunft ist Spielbergs neuer Film eine Parabel über das Sehen und Wahr-Nehmen, die man mit etwas gutem Willen und kulturwissenschaftlicher Verblendung in die Tradition von Filmen wie Alfred Hitchcocks "Fenster zum Hof" (1954) und Michelangelo Antonionis "Blow-Up" (1966) stellen kann. Er ist Pop-Philosophie und postmodernes Märchen: "Du mußt bloß die richtigen Daten herunterladen", sagt die gute Fee in ihrem verwunschenen Gewächshaus dem in Ungnade gefallenen Prinzen, bevor er sich auf die Suche nach dem Schlüssel zu seinem Schicksal begibt. Nicht zuletzt ist "Minority Report" ein sehr konventioneller Thriller. Tom Cruise spielt John Anderton, den hochrangigen Kriminalpolizisten, der selber unter Verdacht gerät. Ungewöhnlich ist daran nur die Zeitenfolge: Während andere Protagonisten dieses Genres nur für die Vergangenheit ein Alibi benötigen, muß Anderton beweisen, daß er nicht zum Mörder werden wird.

Die bürgerrechtlichen Probleme, die Dick stets beschäftigten, interessieren Spielberg nur am Rande. Die Frage, ob man nie begangene Morde bestrafen darf, soll vor allem das Publikum auf Andertons Gegenspieler Danny Witwer (Colin Farrell) aufmerksam machen. Wie jedes Drama lebt auch dieses von der Illusion des freien Willens, ohne die es keine Geschichte zu erzählen gäbe, die aber Illusion bleiben muß, da jede Geschichte schon zu Ende erzählt ist, bevor sie in den Handel kommt. Ob Anderton den Mord begeht, dessen er vorbeschuldigt wird, ist nicht seine Entscheidung, sondern die von Drehbuchschreiber und Regisseur. Ob er das Gute oder das Böse wählt, wird mit dem nächsten Twist der Handlung belanglos. Morgengrauen oder Götterdämmerung - das Zwielicht, in das Spielberg die Schöne Neue Welt taucht, ist atmosphärisch, nicht moralisch gemeint. Denn Märchen - auch postmoderne - brauchen Bösewichte, anständige Action-Krimis - auch futuristische - Helden.

"Minority Report" endet nostalgisch mit einem Rückzug ins Private und Pastorale. Trotzdem hat Spielberg nach zweieinhalb Stunden im Kino unseren Glauben an den Fortschritt nicht wesentlich erschüttert. Das Versagen ist menschlich, die Technologie perfekt - wie könnte es in einer Multi-Millionen-Produktion aus Hollywood anders sein? So dürfen wir weiterhin hoffen, daß Benetton und The Gap schon morgen in der Lage sein werden, uns beim Betreten ihrer Geschäfte jeden noch so unbewußten Wunsch von den Augäpfeln abzulesen. Schließlich ist es bei Amazon und anderen virtuellen Einkausparadiesen schon heute gang und gäbe, jedem Kunden ein dem persönlichen Geschmack angepaßtes Sortiment anzubieten.


 
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