© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    41/02 04. Oktober 2002

 
Von der Konfrontation zur Kooperation
General a.D. Hans Georg Löfflers Betrachtungen zur Rolle der Nationalen Volksarmee bis zum Prozeß der deutschen Vereinigung
Klaus Motschmann

Z u den wenig beachteten Aspekten im Prozeß der Vereinigung Deutschlands gehört die Tatsache, daß vor nunmehr genau zwölf Jahren am 3. Oktober 1990 um 0:00 Uhr 90.000 Soldaten und 47.000 Zivilangestellte der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR in den Dienst der Bundeswehr traten. In keinem anderen politischen und gesellschaftlichen Bereich hat sich die Vereinigung so diszipliniert, reibungslos und geordnet vollzogen. Man denke nur an die Parteien, an die Kirchen, an diverse Wirtschaftsverbände, an kulturelle und wissenschaftliche Institutionen.

Dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Eine sehr wichtige und bislang wenig beachtete ist dem angezeigten Buch zu entnehmen. Der Verfasser war einer der führenden Generäle der NVA: Hans-Georg Löffler, zuletzt Chef des Stabes im Kommando des Militärbezirks V (nördliche DDR). Er wurde am 2. Oktober 1990 nach 35 Dienstjahren in der NVA entlassen.

Nach zwölf Jahren legt der Mecklenburger, der durch die Versetzung seines Vaters im niedersächsischen Hitzacker aufgewachsen ist und nach dem Kriege wieder in die jenseits der Elbe liegende Heimat zurückkehrte, nun seine Erinnerungen vor, nachdem er noch bis 2000 als erfolgreicher Vertriebsingenieur eines Ingenieurunternehmens der Deutschen Bahn tätig war und offensichtlich keine Muße für die Darstellung seines ebenso gradlinigen wie bewegten Lebenslaufes hatte. Der zeitliche Abstand von zwölf Jahren ist eine gute Gewähr für die Feststellung, daß Löffler nicht aus dem Schmollwinkel der Benachteiligten schreibt, aber auch nicht in der Absicht der Rechtfertigung, des Trotzes oder der Anbiederung. Es geht ihm darum, einen Beitrag zum Verständnis der inneren Verfassung der NVA zu leisten und Vorurteile abzubauen, die den Prozeß der inneren Einheit belasten könnten.

Die SED störte das Militär als "armeefremdes Gremium"

Löffler war vom Tage seines Eintritts in die Armee im August 1955 überzeugter Soldat und ist es bis 1990 geblieben. Eben deshalb geriet er schon bald zwar nicht in einen ausgeprägten oder gar offenen Widerspruch zur SED, deren Mitglied er selbstverständlich bis 1990 war, wohl aber in eine sachlich begründete innere Distanz zu der Doktrin der engen Verbundenheit von Partei-, Staats- und Militärführung. Sie wuchs in dem Maße, in dem Löffler in der Militärhierarchie aufstieg und sein Verantwortungsbereich sich damit ausweitete.

Dabei handelte es sich allerdings nicht um ein spezifisches Problem der DDR, bzw. der früheren sozialistischen Staaten, sondern um das grundsätzliche Problem des Verhältnisses von politischer und militärischer Gewalt in allen Staaten. Dieses Verhältnis wird erheblich belastet, wenn der Primat der Politik oder der Ideologie sich durchsetzt und ideologisch motivierte Entscheidungen "armeefremder Gremien", so Löffler, nur mit erheblichen Schwierigkeiten im militärischen "Alltag" umgesetzt werden können.

Dieses Spannungsverhältnis ist Löffler vor allem während seiner Studienaufenthalte in Moskau bewußt geworden - 1969 bis 1970 an der Militärakademie Frunse (als einer von fünf Deutschen unter 400 Absolventen) und 1980 bis 1982 an der Generalstabsakademie Woroschilow. Es äußerte sich in einer Fülle von aufschlußreichen Alltagserlebnissen, die ein sicheres Indiz für gravierende Probleme im Verhältnis von politischer- und militärischer Führung waren. Sie resultierten unter anderem aus einer im Laufe der Jahrzehnte gewachsenen Atmosphäre des Mißtrauens und wirkten sich beispielsweise in erheblichen Einschränkungen des privaten Umgangs mit sowjetischen Absolventen der Militärakademie aus. So wurde von den deutschen Absolventen erwartet, daß sie auf Privatbesuche verzichteten, daß sie nicht in der "deutschen" Uniform ausgingen oder in der Öffentlichkeit nicht deutsch sprachen. Dieses Mißtrauen bestimmte auch den späteren Umgang mit sowjetischen Militärs in der DDR oder bei gemeinsamen Manövern der "Bruderarmeen" des Warschauer Paktes, an denen Löffler zuletzt in maßgebender Stellung beteiligt war. Ein besonders eklatantes Beispiel für diesen Sachverhalt lieferte die "Operative Planung" der Einnahme West-Berlins, an der Löffler als einer-der ganz wenigen deutschen Militärs teilnahm. So war es ihm untersagt, zwecks bestimmter Informationen die Arbeitsräume der sowjetischen Militärs zu betreten oder von der sowjetischen Kaserne aus mit dem eigenen Kommando zu telefonieren.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, (Löffler spricht das allerdings mit keiner Silbe aus) daß er dieses Mißtrauen genährt hat, sei es bewußt oder unbewußt. Es war unter den gegebenen Umständen eine der wenigen eventuellen Möglichkeiten, die NVA aus einem möglichen Angriff auf West-Berlin herauszuhalten. Für Löffler gab es jedenfalls deutliche Anzeichen der (berechtigten) Befürchtung sowjetischer Militärs, daß es in einem derartigen Falle auf Grund der allgemeinen Stimmungslage zu einer "Verbrüderung" der NVA-Soldaten mit den West-Berlinern gekommen wäre. Die Stimmung in der Truppe wurde selbstverständlich durch die westlichen Medien und alle möglichen sogenannten Westkontakte beeinflußt, denen die Jugendlichen in der DDR ausgesetzt waren, bevor sie den Dienst in der NVA antraten. Sie wurde aber - gemäß der marxistischen Grunddoktrin "Das Sein bestimmt das Bewußtsein" - auch in der DDR und schließlich selbst in der NVA durch offenkundige Widersprüche zwischen Ideologie und Wirklichkeit erzeugt.

Kriegsgefahr war nicht mehr überzeugend zu vermitteln

Dazu gehörte die aus politisch-ideologischen Gründen angeordnete "ständige Gefechtsbereitschaft", das heißt die ständige Präsenz von 85 Prozent der Mannschaften, sowie ein militärisch nicht vertretbares Maß an Übungen, Manövern und Paraden. Einmal wegen der spürbaren finanziellen Engpässe, zum anderen wegen der psychologischen Rückwirkungen auf die Truppe. Derartige Anordnungen, "basierend auf Vorgaben aus Moskau", standen mehr und mehr im Widerspruch zur sogenannten Entspannungspolitik. "Die vorgegebene These von einer 'Kriegsgefahr' war den Armeeangehörigen nicht mehr überzeugend zu vermitteln."

Eben darauf kommt es in der Truppenführung aber dringend an. Nach einem trefflichen Wort des preußischen Militärtheoretikers Carl v. Clausewitz ist die Stärke einer Armee nicht allein abhängig von den materiellen Mitteln (Ausrüstung), sondern von soldatischen Tugenden wie Disziplin, Kameradschaft, Vertrauen, Einsicht in die Notwendigkeit und Leistungsbereitschaft. "Solche Tugenden können nicht erzwungen werden. Eine gute Erziehung im Elternhaus und in der Schule, eine solide Vorbildwirkung und Ausbildung während des Dienstes in der NVA, gepaart mit der Fähigkeit, die Soldaten frei von jedem Dogma und plumpen politischen Parolen zu motivieren und zu begeistern ermöglichen das Erreichen der Ausbildungsziele." Die von Löffler geführten Einheiten haben die gestellten militärischen Ziele mit hervorragenden Ergebnissen erreicht, wegen der angedeuteten Probleme jedoch nur unter zunehmenden Schwierigkeiten.

Löffler hat aus seiner Verwurzelung in der Tradition der preußischen Militärreformer nie einen Hehl gemacht. In seinem Dienstzimmer hingen die Porträts von Scharnhorst und Clausewitz, zum deutlichen Unwillen des sowjetischen Verbindungsoffiziers. Auch hier wurde wieder das übliche Mißtrauen gegen den deutschen Verbündeten deutlich. Selbstverständlich war es auch bzw. gerade einem hohen Militär wie Löffler nicht möglich, sich erkennbar oder gar offen gegen die Anordnungen der Partei- und Staatsführung und gegen die Arbeit der Politoffiziere zu stellen. Aber es war ihm möglich, durch vorbildliches Verhalten und persönlichen Einsatz gegenüber den Offizieren (die Politoffiziere eingeschlossen) und erst recht gegenüber den Mannschaften eine unter den gegebenen Umständen erträgliche Atmosphäre des Vertrauens als notwendige Voraussetzung für die Einsatz- und Leistungsbereitschaft einer Armee zu schaffen. Er konnte sich dabei der Zustimmung und Unterstützung der Mehrheit seiner Offiziere sicher sein, die er im Laufe seiner Darstellung zum Zeichen des Dankes immer wieder namentlich erwähnt. Löffler war also kein Einzelfall, aus dem keine verallgemeinernden Schlußfolgerungen gezogen werden dürften.

Allerdings hat Löffler im Laufe seiner 35jährigen Laufbahn häufig auch Widerspruch und Verdächtigungen, Mißtrauen und sonstiges "unkameradschaftliches" Verhalten mancher "Phlegmatiker", "Dogmatiker" und "Bürokraten" erlebt - und durchlitten. Dank seiner überragenden und offiziell anerkannten Fähigkeiten bei der Führung "militärischer Kollektive" vermochte er sich jedoch im Rahmen der begrenzten Möglichkeiten zu behaupten - nicht aus persönlichem Ehrgeiz, sondern aus Verantwortungsbewußtsein im Dienst an der "Sache". Man fühlt sich in diesem Zusammenhang an Max Weber, den Nestor der deutschen politischen Soziologie erinnert, der in der Verantwortung gegenüber dem "Dienst an der Sache" den "entscheidenden Leitstern" verantwortlichen politischen Handelns gesehen hat - wohl wissend um die Probleme, in die alles menschliche und politische Handeln in Wahrheit verflochten ist, in diesem Falle mit dem System des realexistierenden Sozialismus. "Aber deshalb darf dieser Sinn: der Dienst an einer Sache, doch nicht etwa fehlen, wenn anders das Handeln inneren Halt haben soll" (Max Weber).

Der innere Halt der Offiziere hat Schlimmeres verhütet

Es bedarf keiner ausgeprägten Phantasie, um sich vorstellen zu können, wie ganz anders die Entwicklung in Deutschland verlaufen wäre, wenn in der Wendezeit auch nur einige verantwortliche Militärs der NVA den "inneren Halt" verloren und Politik auf eigene Faust gemacht hätten. Man denke nur an die Probleme der Entlassung von Millionen Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, der Bildung von Freikorps usw., die den inneren Frieden erheblich belastet haben. Löffler schließt mit dem Wunsch, "daß es uns in Deutschland gelingt, einen endgültigen Weg von der einstigen Konfrontation zur Kooperation und zum Abbau noch existierender Feindbilder bzw. Abgrenzungen zu finden. Dieses für eine gute Zukunft in unserem gemeinsamen Vaterland - Deutschland."

Mit seinem Buch hat der ehemalige General der NVA einen wichtigen Beitrag zur Erreichung dieses Zieles geleistet. Es vermittelt die Hoffnung, daß sich Sachlichkeit, Verantwortungsbewußtsein, Leistungsbereitschaft und persönlicher Mut auch im vereinten Deutschland auf die Dauer als stärker erweisen als die "sterile Aufgeregtheit intellektueller und politischer Dilettanten, deren Versagen immer offenkundiger wird". Diese Hoffnung gründet sich nicht auf wissenschaftliche Analysen und ideologische Prognosen, sondern auf die mit diesem Buch erneute Bestätigung der Bedeutung der Persönlichkeit in der Geschichte.

Hans-Georg Löffler: Soldat im Kalten Krieg. Erinnerungen 1955-1990. Aus: Soldatenschicksale des 20. Jahrhunderts als Geschichtsquelle. Hrsg. Dermot Bradley, Biblio-Verlag, Bissendorf 2002, 374 Seiten, Abbildungen, 39 Euro


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen