© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   42/02 11. Oktober 2002


Mit Spaß in die Pleite

Die deutsche Buchbranche wird vom wirtschaftlichen Abschwung erschüttert
Andreas Wild

Die diesjährige Frankfurter Buchmesse ist nicht nur die seit langem kleinste, es ist auch die seit langem mißvergnügteste. Nicht nur die allgemein flauen Wirtschaftsdaten machen ihr zu schaffen, sondern auch hausgemachte, speziell buchhändlerische und literaturpolitische Probleme: Überproduktion, das Wegbleiben ausländischer, vor allem westeuropäischer und amerikanischer Verleger und Agenten, das Fehlen (oder absichtliche Ausknipsen) wirklich bewegender Diskursthemen. Der Spaß ist gegangen, aber der Ernst ist nicht gekommen.

Bei vielen Produzenten läßt sich ein fast lemminghaftes Verhalten registrieren: Obwohl sie die Absturzklippe bereits deutlich im Auge haben, eilen sie trotzdem auf sie zu. Die Umsätze gehen zurück, doch die Produktion steigt und steigt. Es wimmelt von Jungautoren (besonders Autorinnen), die nichts zu sagen haben, aber trotzdem alle gedruckt werden. Man stellt ein leeres Ich aus und hofft, daß sich Rezensenten finden, die das für wichtig halten und im Fernsehen darüber reden.

Der Text tritt immer mehr hinter den Textverfertiger zurück. Nicht das Wort interessiert mehr, sondern einzig noch die Person, die dahinter steht und bei der Verfertigung ihres Textes offenbar nur die Absicht hatte, so schnell wie möglich ins Fernsehen zu kommen. "Vom Buch zur Talkshow" - nach dieser Devise operieren nicht zuletzt die zahllosen weiblichen Debütantinnen, deren Bücher meistens unerheblich sind, die aber danach in der Talkshow einen mädchenhaft frischen, kecken, erfreulichen und interessanten Eindruck hinterlassen.

Auch bei den Sachbüchern dominiert das Praktische, Körperliche, der Gesundheit Zuträgliche. Es wimmelt dort von "Ratgebern", die es mittlerweile für buchstäblich alles gibt: fürs Schnürsenkelzubinden und für den Gang in den Beichtstuhl, fürs Staubsaugen und Ausmisten, fürs Alleinsein und natürlich für Sex in allen Formen und Lagen. Das Niveau dieser Ratgeber, ihre Banalität beim Herumreiten auf puren Selbstverständlichkeiten, ist deprimierend.

Ähnliches darf man über die Sparte "Politisches Buch" sagen. Hier gilt uneingeschränkt das Noch-einmal-Aufkochen, Stichwort "11. September". Es sind Schnellschüsse von der ungenauesten Art, man erfährt nichts, was nicht vorher schon im Fernsehen ausgetalkt und in den Zeitungen breitgetreten worden wäre. Hinzu tritt das übliche Quantum Bewältigungs- und Zeigefingerliteratur, der Holocaust-Ramsch, wo die bekannten Figuren der einschlägigen Industrie gebetsmühlenhaft viele hundert Seiten füllen. Das taugt beim besten Willen nicht mehr für anspruchsvolle Diskurse.

Über die Bücher hingegen, die echte, unverbrauchte Diskurse in Gang setzen könnten, den "Krebsgang" von Günter Grass, den "Tod eines Kritikers" von Martin Walser, ist ein Bann verhängt; man versucht hektisch, die Diskussionsrunden klein zu halten und sie mit ideologischen Vorgaben zu umstellen, damit ja kein freier, historisch genauer Blick auf die verhandelten Gegenstände möglich wird. Besonders im Falle Walsers macht sich eine horrend polizistische Komponente bemerkbar. Diskursaufseher sind unterwegs und geben kund, daß sich solche Bücher eigentlich gar nicht "gehören", weil sie "Tabus verletzen" und angeblich irgendwelche schlafenden Hunde wecken.

Faktisch gar nicht abgespiegelt im diesjährigen Bücherangebot und in den Messegesprächen ist das seit geraumer Weile zu beobachtende Aufbrechen kultureller und geopolitischer Gegensätze zwischen Europa und Amerika. Man tut so, als sei alles beim Alten. An den deutschen Ständen werden nach wie vor in erster Linie die "Bestseller" aus den USA herausgestellt und als Vorbilder für deutsche Autoren angepriesen, in den Fachgesprächen ist das übliche Branchen-Denglisch zu vernehmen, und in den Literaturbeilagen der Zeitungen und Magazine werden mindestens sechzig Prozent amerikanische Titel angezeigt (und dabei ist doch Litauen und nicht die USA "kultureller Schwerpunkt" der Messe!).

Nur eines hat sich verändert: Es sind dieses Jahr deutlich weniger Verleger aus Übersee angereist, und in den Wandelgängen der Auslandshallen kann man sehr uncharmante Bemerkungen über den Standort Frankfurt hören. New York, London, sogar Los Angeles und Mexiko-Stadt werden als Alternativen ins Spiel gebracht. Man läßt die Deutschen spüren, daß sie politisch und so auch geschäftlich nicht erste Wahl sind, und die nehmen es mit einem schiefen Lächeln entgegen, hinter dem man (noch?) keinen Willen erkennen kann, auf die Entfremdung mit Selbstbewußtsein zu reagieren und die eigene Charakteristik herauszuarbeiten.

Wie gesagt, die Stimmung ist mißvergnügt und abwartend. Die allgemeine Krise schlägt doch sehr aufs Gemüt: das Zerplatzen der "New Economy", der erschreckende Verfall der Medien- und IT-Aktien, das ruhmlose Abtreten soeben noch hochgefeierter Matadore der Medienbranche, die frisch arbeitslos gewordenen Journalisten und Verlagsmitarbeiter, die an den Ständen vorbeischnüren und Galgenhumor verbreiten.

Eine Diskussion unter den Autoren ist entstanden, was denn besser sei: wenn ihre Bücher in einem großen internationalen Konzern herauskommen oder in einem der wenigen unabhängigen mittelständischen Verlage, die es noch gibt. Großkonzern bedeutet Anonymität im Schatten von einigen literarischen Superverdienern, für deren Hervorbringungen der ganze Werbeetat aufgebraucht wird, er verheißt aber auch materielle Sicherheit und Kontinuität. Mittelstand bedeutet heimelige Geborgenheit, Kontakt mit guten, qualifizierten Leuten, die sich ehrlichen Herzens um einen kümmern, doch was nützt Heimeligkeit, wenn die ganze Bude über Nacht aus den Fundamenten kippt?

Und auch bei den Buchhändlern gehen Existenzängste um. Zwar hat sich die Sorge gelegt, daß der e-commerce, der Bucherwerb via Internet, den traditionellen Buchhandlungen das Wasser abgraben könnte, denn das Internet wird allenfalls das Antiquariat auf Dauer okkupieren. Aber die allgemeine Krise nagt auch hier. Noch nie meldeten so viele Buchhandlungen Insolvenz an wie im laufenden Jahr, darunter hochberühmte und von Autoren wie Kunden vielgeliebte.

Die Sorgen von Verlegern, Autoren und Buchhändlern sind also groß. Indes, am meisten Sorgen macht sich der eingefleischte Literaturfreund und unverdrossene Bücherleser. Was wird mit der deutschen Literatur? Wird es von ihr demnächst nur noch einige, an sich unlesbare, Vorbereitungs-Reader für Talkshows und Ratgeber für Selbstverständlichkeiten geben, dazu einige US-Bestseller und Bücher von Holocaust-Bewältigern? Wie die Dinge stehen, ist dies keine unrealistische Perspektive.


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