© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/02 11. Oktober 2002

 
"Ein Urteil muß wachsen"

Der Schriftsteller Martin Mosebach über verfehlte Literaturdebatten und das Geheimnis der Dichtung
Moritz Schwarz

Herr Mosebach, die 54. Frankfurter Buchmesse markiert das Ende des Literaturjahres 2002. Populäre Höhepunkte waren die Bücher "Im Krebsgang" von Günter Grass und "Tod eines Kritikers" von Martin Walser. Es fällt auf, daß das Potential beider Bücher weniger literarisch ist als gesellschaftlich. Ist es bezeichnend, daß die Literatur an sich gar nicht mehr im Mittelpunkt steht?

Mosebach: Zu einer wirklich literarischen Debatte ist es überhaupt nicht gekommen. Ganz wenige Kritiker haben das Literarische überhaupt erwähnt, und wenn, meist, indem sie die Bücher mit leichter Hand literarisch abqualifiziert haben, als sei es jedem völlig einsichtig, daß es sich hier um schlecht geschriebene Bücher handle. Ich bin schon verblüfft, wenn ich mir vergegenwärtige, daß nach 100 Jahren moderner Literatur immer noch im Vordergrund steht, was Adalbert Stifter in seinen Briefen an den Verleger Gustav Heckenast "Stoffhuberei" genannt hat, also die Reduktion der Betrachtung literarischer Werke auf ihren Stoff.

Also ist die Dominanz des politisch und gesellschaftlich Relevanten kein modernes Problem, wie häufig behauptet?

Mosebach: Auch Goethe hatte das Problem, daß seine "Wahlverwandtschaften" oder sein "Wilhelm Meister" unter dem Gesichtspunkt des Stoffes betrachtet worden sind. Mittlerweile soll sich angeblich aber eine Betrachtung der Literatur entwickelt haben, die den Schwerpunkt auf die Form und auf die sprachlichen Mittel legt. Offenbar ist diese Art, Literatur zu betrachten jedoch in den Seminaren "hängengeblieben". Die Kritik bleibt auf dem Niveau von Schuljungen, die aus dem Kino kommen und sich gegenseitig den Film erzählen.

Das literarische Niveau der beiden Bücher war also ausreichend, ergo hat die Kritik Schuld an der politisierten Debatte?

Mosebach: Es gibt keinen Stoff ohne politisches Potential. Die Frage ist, ob er sich auf dem Niveau grundsätzlicher politischer Probleme befindet oder mit der gerade anstehenden tagespolitischen Diskussion zusammenfällt. Mancher Autor erhofft durch seinen Stoff eine Aufmerksamkeit, die er mit literarischen Mitteln nicht erreichen würde. Bücher dieser Art sind dann aber als Diskussionsbeitrag zu behandeln, nicht als Kunstwerke.

Also begünstigt das Zeitalter der Massenmedien die massenkompatiblere "tagespolitische" Literatur und befördert damit das Verdrängen der künstlerischen Literatur?

Mosebach: Ein literarisches Gespräch über Literatur wird immer nur wenige Menschen erreichen. Verlage aber möchten - und das ist auch verständlich - möglichst viele Leser gewinnen. Da bieten sich außerliterarische Gesichtspunkte zur Vermittlung ihrer Bücher an.

Wie ist es um die eigentliche literarische Debatte in Deutschland bestellt, die Schriftsteller und Germanisten parallel zu den tagespolitischen "Literatur"-Debatten der Feuilletons führen?

Mosebach: In der eigentlich literarischen Debatte, etwa der Wissenschaftler, sehe ich den "Biographismus" am Werk, es interessiert derzeit im höchsten Maße, die Biographie eines Künstlers in Zusammenhang zu seinem Werk zu bringen. Auch das ist aber ein außerkünstlerischer Standpunkt. Natürlich spielt die Vita des Autors eine Rolle, etwa was die Wahl seiner Motive angeht, aber mit seiner Kunst hat das nichts zu tun.

Sehen Sie in der Literaturgeschichte einen Moment des Einbruchs rationaler Deutungsmuster in die Sphäre der Literatur?

Mosebach: Nun, bei einer wissenschaftlichen Betrachtung bietet sich der Bezug auf nachvollziehbare Maßstäbe, wie Biographie, Politik, Soziologie oder Psychologie natürlich an. Aber das können nur Markierungen sein, die den eigentlichen Bezirk des Künstlerischen lediglich abstecken, nie aber zu definieren vermögen.

Wie definieren Sie diesen inneren Bezirk?

Mosebach: Hier geht es um die Fähigkeit sich einzufühlen, um die Kategorie des Geschmacks und den Sinn für Poesie, alles Größen, die sich dem wissenschaftlichen Zugriff entziehen und daher als nicht objektiv und nicht stichhaltig gelten. Vor der Unergründlichkeit des Kunstwerkes flüchtet die Wissenschaft zum Ergründlichen, etwa zu den Umständen seiner Entstehung, verliert aber damit das Wesentliche aus dem Blick.

Das heißt, die Literatur ist vom Feuilleton-Journalismus und der Literaturwissenschaft "umstellt"?

Mosebach: Diese Debatten sind für einen Schriftsteller tatsächlich vollkommen uninteressant, weil sie ihm eigentlich nichts zu seinem Werk sagen können. Und auch den "literarischen" Leser interessieren sie nur am Rande.

Haben Sie parallel zu den öffentlichen Debatten um "Im Krebsgang" und "Tod eines Kritikers", eine eigentlich literarische Debatte unter Fachleuten wahrgenommen?

Mosebach: Natürlich gab es da auch vereinzelte Äußerungen, aber eine Debatte habe ich nicht festgestellt. Statt dessen, wie gesagt, vor allem pauschale Verurteilungen. Statt literarischer Debatte herrschte eine Art consensus omnium. Man hielt es offenbar nicht einmal für nötig, die Kriterien, die für die Verurteilung sprechen, einmal ins Feld zu führen - ich zumindest kenne sie bis heute nicht.

Wie beurteilen Sie denn die literarische Qualität der beiden Bücher?

Mosebach: Sicherlich ist Martin Walsers "Tod eines Kritikers" ein uneinheitliches Werk: in der Form geborsten, dissonant in den Methoden und das Aufeinanderprallen von Satire und Hymnus ist eigentlich unverträglich, wirkt aber kühn als Versuch. Bei allen Mängeln des Buches ist es dennoch so reich an Gelungenem, daß man viel darin entdecken kann. Mein Urteil ist noch nicht abgeschlossen. Die Feststellung des Ranges eines literarischen Werkes ist eine Frage des Abstandes.

Inwiefern?

Mosebach: Für mich ist es wichtig, wie ich über ein Buch, das ich jetzt lese, in einem Jahr denke. Einzelne Gesichtspunkte kann ich gleich nach der ersten Lektüre nennen, ein Urteil aber muß wachsen.

Die meisten der prominenten Literaturkritiker waren weniger zimperlich.

Mosebach: Die großen Werke der Literatur, die Ausnahmewerke, auf die wir alle uns immer wieder beziehen, der "Faust" oder "Don Quichotte", kranken, unter streng schulmäßigen Gesichtspunkten betrachtet, eigentlich alle an vielen schweren Fehlern.

Nämlich?

Mosebach: Viele sind in mancherlei Hinsicht fragmentarisch, inkonsequent, weisen Brüche oder Konstruktionsfehler auf oder behelfen sich mit Unwahrscheinlichkeiten. Zugleich aber entfalten diese Werke eine von diesen Fehlern völlig unbeeinträchtigte literarische Wirkung. Wenn man das als Leser erst einmal erkannt hat, wird man in seinem Urteil vorsichtig.

Im Vergleich zu früheren Literaturskandalen, man denke zum Beispiel an Hochhuths "Stellvertreter", erschütterten Grass und Walser nicht konservative Autoritäten, sondern das politisch korrekte Gesinnungssystem bundesdeutscher Vergangenheitsbewältigung. Wenn die Art der Provokation ein Indikator für die Machtverhältnisse ist, inwiefern spiegelt dies dann die Verhältnisse in Deutschland?

Mosebach: Das ist genau die Art von Frage, die mir zuwider ist. Da wird nach Journalistenmanier alles miteinander vermengt, um eine interessante These zu lancieren. Grass und Walser haben nichts miteinander zu tun. Die Bücher sind vollständig unvergleichbar. Dem Walser-Buch ist die politische Tendenz überdies von außen angeklebt worden.

Die Debatte um die "Wilhelm Gustloff " und das in Deutschland verdrängte Schicksal der Vertriebenen eskalierte im Gegensatz zur Debatte um Walsers Roman zwar nicht zum Streit, aber auch hier war das literarische Urteil meist vernichtend.

Mosebach: Grass' Behandlung des Themas - so viel kann man schon feststellen - erinnerte in der Tat an eine Aufarbeitung für den Schulunterricht. Da tauchen lauter Figuren auf, die irgendeine Richtung vertreten: Der böse Nazi, der gute dumme Nazi, die Vertriebenen, die Vertriebenen-Gegner, etc. Und dem Ergebnis des Romans, daß nämlich die Versenkung der "Wilhelm Gustloff" furchtbar war, daß man daraus aber keine Rachegefühle ableiten sollte, kann auch jeder zustimmen. Damit läßt sich im Unterricht sicherlich gut arbeiten.

Ist es die politische Absicht, die den literarischen Wert des Buches von Grass beeinträchtigt?

Mosebach: Das möchte ich ganz prinzipiell beantworten: Fontane äußerte einmal, ursprünglich sei er sehr gegen die, wie er es nannte, "engagierte Kunst" gewesen. Nun aber gestehe er ein, daß es auch in der politischen Kunst gute und schlechte Kunst gebe. Die Frage ist eben: Was bleibt nach Abzug der Politik? Da können durchaus Schätze zum Vorschein kommen.

Sind die Leser politischer geworden?

Mosebach: Stoffe sind immer auch eine Frage der Mode, nach der das Publikum sich ausrichtet. Im Kaiserreich waren das historische Stoffe, heute sind es eben eher politische oder soziologische Stoffe. Ein Verschiebung von der Literatur zur Politik hat es also wohl nicht gegeben, eher die Ablösung ehemaliger Modethemen durch zeitgenössische Modethemen.

Spielt die Wahl des Stoffes tatsächlich keine Rolle? Bedarf es nicht doch des "ewig Menschlichen" oder Göttlichen, damit Literatur Raum hat, sich daran zum großen Roman zu entwickeln?

Mosebach: Nein, die künstlerische Substanz ist etwas nicht Faßbares, daher kann sie nicht an eine Thema gebunden sein. Es geht um die Fähigkeit eines Autors, mit seinem Werk Wirklichkeitsempfindung auszulösen. Heimito von Doderer beschreibt das mit dem Gefühl, durch das Gefieder einer Gans mit den Fingern bis zur warmen Haut des Tieres hindurchzutasten. Ein Äquivalent für diese Empfindungen zu erzeugen, hat nichts mit dem gewählten Stoff zu tun.

Manchem Leser ist das Wühlen zeitgenössischer Literaten im belanglosen Privat- wenn nicht gar Intim-Kram aber eine allzu dürftige Kost.

Mosebach: Als Marcel Reich-Ranicki 1973 das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung übernommen hat, schrieb er einen Aufsatz, in dem er beklagte, daß es keinen großen Roman zu den großen zeitgenössischen Problemen gäbe. Er forderte zum Beispiel einen Roman über die Atombombe und die Anti-Baby-Pille. Es ist aber natürlich naiv zu glauben, daß es "zeitgemäße" Themen gäbe. Denn wir sind immer zeitgemäß und können gar nichts anderes sein. Das Lebensgefühl einer Zeit, die durch die Bombe und die Pille geprägt ist, kann man erschöpfend erfassen, ohne diese beiden Dinge auch nur zu erwähnen. Oft findet sich die Wahrheit der Literatur gerade in jenen toten Winkeln, die scheinbar mit den großen Fragen der Zeit nichts zu tun haben, in denen aber jene eigentlich sinnliche Substanz der Wirklichkeit nistet.

Woher rührt die Vorliebe vieler Gegenwartsliteraten vor einer Beschäftigung mit menschlichen Fragen, wie Leben und Tod oder Schuld und Opfer zum Beispiel der Plattensammlung den Vorzug zu geben?

Mosebach: Literatur ist nicht dazu da, Philosophie oder Religion zu transportieren! Und daß auch der Blick auf das Detail Welterkenntnis fördern kann, zeigt etwa ein Ernst Jünger, der thematisch von der Betrachtung eines Weltkrieges zur Betrachtung eines Käfers wanderte.

Sehen sie in der deutschen Gegenwartsliteratur irgendwo dieses jüngersche Format?

Mosebach: Eine Größe wie "die Gegenwartsliteratur" übersehen wir doch noch gar nicht. Auch hier muß erst einmal die Flut der Zeitgenossenschaft ablaufen. Im übrigen war Jünger ein Unikat, er hat kein Genre begründet. Eine Literatur zwischen den Polen Walser und Strauß, Brigitte Kronauer und Eckhard Henscheid, Robert Gernhardt und Ernst Jandl kann jedenfalls kein ganz vergebliches Unterfangen gewesen sein.

Ihr jüngstes Buch "Der Nebelfürst" ist die bizarre Geschichte eines jungen Berliner Zeitungsreporters Ende des 19. Jahrhunderts, der, verführt von einer geheimnisvollen Abenteurerin, ins Eismeer aufbricht, um für das deutsche Kaiserreich die zu Spitzbergen gehörende Bäreninsel in Besitz zu nehmen. Wie wählen Sie Ihre Themen aus?

Mosebach: Der Nebelfürst ist das Satyrspiel zu dem vorangegangenen Roman "Eine lange Nacht". In beiden Büchern geht es um in ihren Aufgaben gescheiterte junge Männer, die unter dem Einfluß einer Frau ein großes Geschäft mit exotischen Ländern zu begründen versuchen. Heute verblüfft mich die Verwandtschaft dieser Bücher, denn sie war zunächst unbeabsichtigt. Ich finde meine Motive, indem ich Motive meines Lebens betrachte. Das sind oft nur kaum faßbare Bilder, die in meiner Phantasie aber eine große Rolle spielen und sich nicht einfach auflösen, und die ich mir, durch das Einbetten in eine große Erzählung, versuche begreiflicher zu machen. Diese Bilder nehmen in der fertigen Geschichte dann einen eher unauffälligen Platz in der fertigen Geschichte ein. Und ich könnte mir denken, daß die Leser meiner Bücher das Motiv, von dem das Buch ausgelöst wurde, gar nicht entdecken. Für den Leser aber sind möglicherweise die Dinge, die für mich gar nicht wichtig waren, die Dinge, die ihn an meinen Büchern zu fesseln beginnen. Dafür wird er vielleicht etwas finden, das mir nie bewußt geworden ist.

Literatur ist also kein Produkt, sondern ein Prozeß, dessen schöpferisches Potential sich gleichermaßen aus dem Verfasser wie aus dem Leser speist?

Mosebach: Auf jeden Fall! Der Autor gelangt dort zu seiner eigentlichen Mitteilung, wo er unabsichtlich preisgibt, also nicht da, wo er erklärt, sondern wo der Leser ihm auf die Schliche kommt und errät, was der Autor eigentlich mitteilen wollte. Der Autor ist auf den Leser angewiesen, um sein Werk abzuschließen.

 

Martin Mosebach der Schriftsteller kritisiert die Diskussion um die beiden Debatten-Bücher dieses Jahres von Günter Grass und Martin Walser als "Reduktion der Betrachtung literarischer Werke auf ihren Stoff" und plädiert für mehr "Sinn für Poesie". Geboren 1951 in Frankfurt am Main, lebt der studierte Jurist heute in seiner Vaterstadt. Mosebach erhält am 30. November in Berlin den diesjährigen Kleist-Preis. Er veröffentlichte bereits in allen literarischen Gattungen. Zuletzt erschien "Der Nebelfürst" (Eichborn Verlag, 2001).

 

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