© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/02 11. Oktober 2002

 
"Über ihre Verhältnisse gelebt"
Niederlande: Mitte-Rechts-Koalition bekräftigt Polizei- und Asylkurs / Fortuyn-Mörder beendet Hungerstreik
Jerker Spits

In ihrem neuen Haushaltsplan, der in den letzten beiden Wochen im Haager Parlament diskutiert wurde, hat die neue niederländische Regierung aus Christdemokraten (CDA), rechtsliberaler Volkspartei (VVD) und der Liste Pim Fortuyn (LPF), der Partei des am 6. Mai ermordeten Politikers Pim Fortuyn, ihren härteren Asylkurs bekräftigt.

Die Einwanderung soll eingedämmt und die Integration der in den Niederlanden lebenden Ausländer beschleunigt werden. "Einwanderung in großem Maße und die Probleme, die sich daraus ergeben, haben unsere Gesellschaft unter Druck gesetzt", hieß es in der jährlich von Königin Beatrix vorgelesenen Thronrede, der ersten Regierungserklärung des seit Juli amtierenden Kabinetts des christdemokratischen Ministerpräsidenten Jan Peter Balkenende. "Die Regierung wird daher die Integration von Ausländern beschleunigen und von neu zugezogenen Bürgern verlangen, daß sie unsere Sprache sprechen, sich an die niederländische Identität und Kultur anpassen und nach unseren Gesetzen leben."

Zugleich erinnerte das Staatsoberhaupt an die schwieriger gewordene Wirtschaftslage. Alle Bürger müßten sich im kommenden Jahr mit einer geringeren Kaufkraft zufrieden geben.

Wegen der schlechteren Wirtschaftslage sieht die Regierung nur wenige Möglichkeiten, Schwächen im Gesundheits- und im Bildungswesen zu beseitigen. Auf Druck vor allem der Rechtsliberalen sollen gegenüber früheren Erklärungen rund acht Milliarden Euro eingespart werden, um den staatlichen Schuldenberg von derzeit 133,9 Milliarden nicht weiter zu erhöhen. Für das nächste Jahr wird in den Niederlanden mit einem Wirtschaftswachstum von maximal 1,5 Prozent gerechnet. Erstmals seit Jahren soll die Arbeitslosigkeit wieder deutlich wachsen. "Der Staat und viele Bürger haben in den vergangenen Jahren über ihre Verhältnisse gelebt", kommentierte Königin Beatrix die Notwendigkeit zum Sparen.

Die Ansprache wurde von den meisten niederländischen Medien als "konsistent" und "durchdacht" bewertet - dies im Gegensatz zu den Regierungserklärungen der beiden letzten "violetten" Kabinette aus Sozialdemokraten (PvdA), Linksliberalen (D'66) und VVD, die als flach und farblos empfunden wurden. So sprach Frits Wester, politischer Berichterstatter für den Sender RTL4, von einem "kohärenten und konsistenten Blick auf wichtige gesellschaftliche Problemfelder, den man in den letzten Jahren auf eine oft peinliche Weise vermißt hat."

Die Mehrheit der Niederländer ist mit dem härteren Kurs der neuen Regierung einverstanden. Die LPF hatte in den Koalitionsverhandlungen verlangt, daß die Niederlande die strengste Einwanderungspolitik innerhalb der Europäischen Union durchsetzen sollten. Die Themen Sicherheit und Einwanderung hatten auch den Wahlkampf, in dem der charismatische ehemalige Soziologieprofessor Pim Fortuyn mit seiner scharfen Kritik an der bisherigen liberalen Praxis großen Zulauf gefunden hatte, beherrscht.

Die Zeit des Gesprächs und der Liebenswürdigkeit sei nun endgültig vorbei, betonte Hilbrand Nawijn (LPF), Minister für Ausländerfragen und Integration. Laut dem neuen Haushaltplan sollen die Ausgaben für die Bearbeitung von Asylgesuchen gekürzt, im Gegenzug soll das Budget zur Internierung und Abschiebung abgelehnter Asylbewerber aufgestockt werden. Um die Sicherheit zu verbessern, werden neue Gefängnisse gebaut; Polizei und Justiz bekommen mehr Kompetenzen übertragen und müssen ihre Arbeit effizienter angehen, um das Vertrauen der Bürger wiederzuerlangen. Die neue Regierung plant weiter, die Einwanderung im Laufe eines Jahres um 25 Prozent zu drücken und abgelehnte Asylbewerber vor ihrer Abschiebung in Haft zu nehmen.

Das Königreich der Niederlande zählt mit seinen fast 17 Millionen Einwohnern rund eine Million Muslime, etwa ein Drittel davon sind Marokkaner. Eine wachsende Zahl von meist arabischen Jugendbanden ist in den großen Städten für zahlreiche Delikte verantwortlich. Nawijn hatte sich wegen der hohen Kriminalitätsrate der ausländischen Jugend sogar dafür ausgesprochen, straffällig gewordene Marokkaner abzuschieben.

Ministerpräsident Balkenende bezeichnete diesen Vorschlag aber als "chancenlos" und "juristisch nicht durchsetzbar". Viele Einwanderer hätten in den letzten paar Jahren die niederländische Staatsbürgerschaft angenommen, und müßten deswegen gleich behandelt werden. Trotz der geäußerten Kritik am Vorschlag Nawijns unterstützt Balkenende den LPF-Minister in seinem Bestreben, junge Kriminelle in Erziehungs- und Besserungsanstalten zu stecken. Ein entsprechendes Projekt im Westteil Amsterdams, wo sich in den letzten Jahren marokkanische Jugendliche mit der Polizei wiederholt Straßenschlachten geliefert hatten, trägt bereits erste Früchte. Die Kriminalität ist in diesem Stadtteil stark zurückgegangen.

Auch der sozialdemokratische Partij van de Arbeid (PvdA), die seit den Wahlen vom Mai auf der Oppositionsbank sitzt, hat sich für ein härteres Auftreten der Behörden gegenüber jungen Delinquenten ausgesprochen. Das die Ausländerfrage von der Partei nicht wahrgenommen und offen angesprochen wurde, sei einer der Gründe für die verheerende Niederlage am 15. Mai gewesen, hieß es in einem Parteirapport, in dem auch der damalige Parteiführer Ad Melkert scharf kritisiert wurde. Melkert hatte Pim Fortuyn in der Wahlkampagne scharf angegriffen und ihn als einen "gefährlichen Demagogen" bezeichnet. Dies sei eine falsche Strategie gewesen und habe der Partei geschadet, hieß es jetzt in dem Bericht.

Volkert van der Graaf (33), der wegen Ermordung des LPF-Parteigründers Fortuyn angeklagte linke Umweltaktivist, hat nach 70 Tagen inzwischen seinen Hungerstreik beendet. Seit dem 12. Juli hatte der Häftling aus Protest gegen die Umstände seiner Haft nur noch Obstsaft getrunken. Justizminister Piet Hein Donner (CDA) versicherte, daß Van der Graaf künftig mehr Besuch empfangen und häufiger an die frische Luft könne. Die Infrarot-Kameras, mit denen er rund um die Uhr beobachtet wird, sollten aber vorerst weiter in der Zelle bleiben; dies aus Sorge um einen möglichen Selbstmord. Van der Graaf war am 6. Mai, wenige Minuten nach der Tat in der Nähe des Rundfunkgebäudes in Hilversum, wo Fortuyn in einem Jugendprogramm sein letztes Interview gegeben hatte, festgenommen worden.

Trotz der erfolgreichen Teilnahme am neuen Kabinett ist der Streit um die Nachfolge von Fortuyn immer noch nicht entschieden. Nach hundert Tagen mußte Mat Herben als Parteiführer zugunsten des Jungunternehmers Harry Wijnschenk zurücktreten. Dem einstigen VVD-Politiker wird vorgeworfen, die Partei auf undemokratische Weise zu führen. Als Nachfolger für Wijnschenk sind der zurückgetretene Herben und LPF-Wirtschaftsminister Herman Heinsbroek im Gespräch. Nach einem hauptsächlich über die Medien ausgetragenen Konflikt sind die LPF-Abgeordneten Cor Eberhard und Winny de Jong letzte Woche aus der LPF-Fraktion ausgetreten - doch die Dreierkoalition hat mit nun 91 von 150 Sitzen weiter eine komfortable Mehrheit.


 
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