© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/02 11. Oktober 2002

 
Sozialdemokraten blieben chancenlos
Lettland: Ex-Zentralbankchef Repse wurde Wahlsieger / Mehrheit für Mitte-Rechts-Parteien / Russisch-lettisches Links-Bündnis zweitstärkste Kraft
Gustaf Domberg/Jörg Fischer

Daß ein amtierender Ministerpräsident samt seiner Partei abgewählt wird, ist in parlamentarischen Demokratien kein ungewöhnlicher Vorgang. Daß aber die Partei eines bisherigen Regierungschefs bei dieser Abwahl gleich unter die Fünf-Prozent-Klausel fällt und damit aus dem Parlament verschwindet, ist doch ein bislang sehr ungewöhnlicher Vorgang.

So geschah es am vergangenen Samstag bei den Wahlen zum Parlament (Saeima) Lettlands. Der bisherige Ministerpräsident Andris Berzins verschwindet nicht nur von der Regierungsbank, sondern mit 4,88 Prozent für seine liberal-konservative Union "Lettlands Weg" (Latvijas cels/LC) ganz aus dem Parlament. Wahlsieger mit 23,93 Prozent wurde - sozusagen aus dem Nichts - der erfolgreiche ehemalige Chef der Lettischen Nationalbank, Einars Repse, mit seiner nationalliberalen Partei "Neue Zeit" (Jaunais laiks/JL). Die JL stellt damit 26 Abgeordnete der 100 Sitze umfassenden Volksvertretung der 2,4 Millionen Einwohner zählenden Baltenrepublik.

Zweitstärkste Gruppierung mit fast 18,94 Prozent wurde aus dem Stand ein bislang nicht im Saeima vertretenes neues Linksaußen-Bündnis mit dem für westliche Ohren wohlklingenden Namen "Für Menschenrechte im vereinten Lettland" (PCTVL) - eine bunte Truppe aus Altkommunisten, Angehörigen der russischen Minderheit (die in der Hauptstadt Riga die Mehrheit stellen) und lettischen Linken. PCTVL-Chef Janis Jurkans war allerdings Mitglied der "Volksfront", welche Ende der achtziger Jahre die Unabhängigkeit vorbereitete, und dann im unabhängigen Lettland ab 1991 eine Zeit lang Außenminister war.

Wie er seinen bunten und nicht unproblematischen Haufen zusammenhalten und mit der lettischen Staatsidee unter einen Hut bringen wird, bleibt abzuwarten. Jedenfalls ist interessant, daß die Zweitstärkste Partei Lettlands, die im Parlament fast ein Viertel der Abgeordneten stellt, zumindest teilweise von Kräften getragen wird, die der lettischen Nationalstaatsidee mit Vorbehalten gegenüberstehen.

Zwei Wochen vor der Wahl traf sich Jurkans übrigens noch mit Rußlands Präsident Wladimir Putin, um über eine "Verbesserung" der angespannten bilateralen Beziehungen und die Lage der russischen Minderheit, die etwa 30 Prozent der Bevölkerung stellt, zu sprechen. Eine Geste, die Jurkans fast 190.000 Wähler zu würdigen wußten.

Geduld der Wähler mit den Politikern ist nicht groß

Zum anderen zeigt sich in manchen postkommunistischen Staaten (tendenziell sogar ähnlich wie in den neuen deutschen Bundesländern) eine flugsandartige Ungeduld der Wähler mit den regierenden Kräften. Das Scheitern des Ministerpräsidenten Berzins mit seiner Mitte-Rechts-Koalition aus "Volkspartei" sowie der "Partei Vaterland und Freiheit" hatte weniger mit ideologischen als mit pragmatischen Gründen zu tun. Die Reformen der Berzins-Regierung haben unbestritten erheblich zur Nato- und EU-Reife Lettlands beigetragen. Doch die meisten Wähler waren der Meinung, ihre Regierung tue nicht genug, um des Lebensstandard der einfachen Bürger zu heben und um die Vetternwirtschaft zu bekämpfen. Dem 38jährigen Wahlsieger und Korruptionsbekämpfer Repse könnte in wenigen Jahren das gleiche Schicksal drohen, wenn er nicht vorher einem Attentat zum Opfer fällt. Die Geduld der postkommunistischen Wähler mit ihren Politikern scheint nicht mehr sehr groß zu sein. Vom "Hosianna" zum "Kreuzigt ihn" ist da oft nur ein kleiner Schritt.

Auch die neue Regierung, die von Repse gebildet werden dürfte, wird - ähnlich wie die Vorgängerin - nach "Mitte-Rechts" orientiert sein. Ausgesprochen linke Optionen sind in Lettland aufgrund der spezifischen Erfahrungen mit der Sowjetmacht offenbar nicht - oder noch nicht - mehrheits-fähig.

Parteiensystem ist labil und sehr wandelbar

Eine orthodoxe kommunistische Partei, wie etwa in der Tschechei oder in Rußland, existiert praktisch nicht mehr. Die auf drei Parteien verteilten Sozialdemokraten scheiterten mit 4,02 und 1,53 sowie 1,39 Prozent - 1998 als Union (LSA) waren es noch 12,8 Prozent.

Der neue künftige Ministerpräsident Repse dürfte sich daher mit der reformorientierten Volkspartei - mit 21 Sitzen und 16,7 Prozent (1998: 21,2 Prozent) immer noch drittstärkste Kraft - verbünden. Auch die christliche "Erste Partei Lettlands" (LPP), die auf Anhieb 9,58 Prozent gewann und die geschrumpften Rechtsnationalen der Partei "Vaterland und Freiheit" (TB/LNNK), die von 14,7 auf 5,4 Prozent abstürzten, böten sich als Koalitionspartner an. Bemerkenswert ist, daß die EU-skeptische Union von Grünen und Landwirten (ZZS) auf Anhieb 9,46 Prozent erlangte.

Das Bild insgesamt verrät - wie kürzlich in der Slowakei - einen gewissen Hang zur Instabilität und raschem Wechsel, nur sechs der 20 angetretenen Parteien kamen ins Parlament. Das Parteiensystem ist labil und wandelbar, nur zwei der sechs Parlamentsparteien waren schon 1998 vertreten. Der Flugsandeffekt, der die Wähler von einer Option zur nächsten treibt, wird sich wohl auch in Zukunft bemerkbar machen. Bemerkenswert ist jedenfalls, daß Lettland - im Unterschied zu Estland - in seiner Geschichte immer wieder solche Situationen innerer Instabilität durchlebt hat. Im lettischen Nationalcharakter haben sich die Konflikte fast meistens schärfer ausgeprägt als bei den beiden baltischen Nachbarn im Süden (Litauen) und Norden (Estland). Die Präsenz einer sehr starken russischen Volksgruppe dürfte die Situation in Zukunft nicht gerade erleichtern.

Vieles wird davon abhängen, ob es im Zuge der EU-Mitgliedschaft zu sozialen Verwerfungen kommt, ob Arbeitslosigkeit und das Agrarproblem - die Existenz von Bauern, die gegenüber der EU kaum konkurrenzfähig sind - befriedigend gelöst werden können. Bisher hat sich gezeigt, daß die EU eine ziemlich unsentimentale Institution ist, die den neuen Mitgliedern im Osten und Norden einiges abverlangen wird. Sollte es hier zu Enttäuschungen kommen, weiß niemand, wohin sich der Wähler-Flugsand beim nächsten oder übernächsten Mal bewegen wird.

Jenseits von Dünaburg (Daugavpils) aber beginnt der große Osten, der bis über Moskau hinweg nach Sibirien reicht. Mit ihm haben die Letten ihre unauslöschlichen, äußerst bitteren Erfahrungen gemacht. So schwach heute Putins Rußland erscheinen mag - gegenüber Lettland und den anderen Baltenstaaten ist es immer noch ein Riese, in dessen Schatten das lettische Volk seine Zukunft einrichten muß.


 
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