© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/02 11. Oktober 2002

 
Defizite nach allen Richtungen
Strategiedebatte: Die Neuorientierung der Union soll sich nach dem Willen vieler CDU-Politiker weiter von konservativen Positionen abwenden
Peter Freitag

Die Bundestagswahl liegt noch keine drei Wochen zurück, da ist von Geschlossenheit in der CDU nicht mehr viel übrig. Präsentierte die Parteiführung in der Wahlnacht noch stolz die Harmonie unter dem Motto "Soviel Union war noch nie", werden nun die gegensätzlichen Einschätzungen, warum man die Wahl verloren habe und welche Konsequenzen daraus zu ziehen seien, in aller Öffentlichkeit erörtert. Zwar bemühte sich die Parteivorsitzende Angela Merkel am Montag nach der Präsidiumssitzung, den Eindruck interner Zerstrittenheit zu revidieren, allerdings ist das Problem damit noch lange nicht aus der Welt geschafft. Denn während Frau Merkel verkündete, das Wahlergebnis biete "keinen Anlaß zu großen Grundsatzdiskussionen", und feststellte, daß die Strategie der Union "richtig und alternativlos" gewesen sei, sah Friedrich Merz dies offenbar ganz anders. Die CDU hatte seiner Meinung nach in einigen Bereichen während des Wahlkampfes "erkennbar keine Strategie". Und im Gegensatz zu seiner Nachfolgerin, die ihn aus dem Amt des Fraktionsvorsitzenden gedrängt hatte, forderte Merz in der Welt: "Wir brauchen jetzt einen innerparteilichen Diskussionsprozeß."

Geht es in diesem Konflikt jedoch nur um eine Strategie, also die Art und Weise, wie die Partei den Kampf um Wählerstimmen führen sollte? Oder wird vielmehr um politische Inhalte, die programmatische Ausrichtung der Union gerungen?

Den Reigen um eine "Aufarbeitung der Defizite" und die "Neuorientierung der Union" eröffneten zunächst zwei Parteilinke, nämlich der saarländische Ministerpräsident Peter Müller und Hermann-Josef Arentz, Bundesvorsitzender der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA).

Müller hatte in der Saarbrücker Zeitung die mangelnde Kompetenz seiner Partei auf den Feldern Familie, Soziales und Umwelt, aber auch beim Thema Zuwanderung beklagt. Letzteres ist besonders hervorhebenswert, da Müller die unionsinterne Zuwanderungskommission geleitet hatte. Er stand dabei für eine weitestgehende Annäherung an die Positionen von Innenminister Otto Schily (SPD); so verwundert es nicht, daß Müller - mit Blick auf seinen CSU-Kontrahenten Günter Beckstein - vor einer konfrontativen "Blockadestrategie" der Opposition im Bundesrat warnt. Mit dieser Haltung verkörpert Müller jenen gesellschafts- und wirtschaftsliberalen Flügel der CDU, der es sich in der Zuwanderungsdebatte weder mit der "Neuen Mitte" noch mit den Arbeitgeberverbänden verscherzen will. Schon im Wahlkampf war das "harte" Thema Zuwanderung - eigentlich ein Profilthema der Union - zögerlich erst in der letzten Woche vor dem 22. September wieder hervorgeholt worden. Arentz beklagte in der Presse, die Union habe in den Großstädten "das Lebensgefühl vieler Menschen nicht erreicht". Als Konsequenz ergebe sich die Notwendigkeit einer Erweiterung des Themenspektrums um Verbraucherschutz, Bürgerbeteiligung und Globalisierung. Am weitesten prescht der Mann vom Arbeitnehmerflügel jedoch hervor mit der Forderung nach einer Befreiung der Union aus der "babylonischen Gefangenschaft" der FDP; statt dessen solle die Möglichkeit schwarz-grüner Bündnisse ernsthaft erörtert werden. Auch der Vorsitzende der rheinland-pfälzischen CDU, Christoph Böhr, sieht den Grund für die Wahlniederlage im zu stark rational-argumentativ geführten Wahlkampf der CDU. Man sei entfernt von einem gefühlten "kulturellen Konsens" der Gesellschaft gewesen; Abhilfe verschaffe nur eine Synthese aus Emotionalem und Rationalem. Ähnliches konstatierte auch der stellvertretende Bundesvorsitzende Christian Wulff aus Niedersachsen, der sich im kommenden Februar einer Landtagswahl zu stellen hat. Immerhin lehnte Wulff jedoch ein schwarz-grünes Zusammengehen ab und griff in einem Interview seine alte Forderung nach einer unionsdominierten Wertedebatte wieder auf. Noch etwas konservativer äußerte sich der niedersächsische Bundestagsabgeordnete Eckart von Klaeden, der vor einem zeitgeistbedingten und daher kurzsichtigen Linksschwenk seiner Partei warnte.

Der mangelnde Rückhalt der CDU im Norden und Osten der Republik sowie in den Großstädten, die geringere Zustimmung durch Frauen und Jüngere veranlaßten die CDU-Vorsitzende Merkel zu der Schlußfolgerung, ihre Partei müsse sich den Bedürfnissen dieser Zielgruppen verstärkt widmen. Auch sie nannte konkret den Verbraucherschutz, dessen man sich verstärkt annehmen müsse. Obwohl die CDU, so Merkel, den veränderten Lebenseinstellungen programmatisch längst Rechnung getragen habe, werde dies im Erscheinungsbild der Partei bei Themen wie Familie, Soziales und Umwelt noch nicht wahrgenommen. Kurz gesagt: Die Leute halten die CDU für konservativer, als sie in Wirklichkeit ist. Hier bestehe Nachholbedarf in punkto "Kompetenz" (Merkel) bzw. "Glaubwürdigkeit" (Müller). Wie einst unter Heiner Geißler Anfang der achtziger Jahre, soll sich die CDU zur Sicherung struktureller Mehrheiten in der Mitte den sogenannten "weichen" Themen zuwenden. Unterstützung erfuhr die Parteichefin damit ausdrücklich auch bei den Landesvorsitzenden in Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt, Jürgen Rüttgers und Wolfgang Böhmer.

Anders dagegen die Kritiker, zu denen - abgesehen von der CSU - auch die CDU-Politiker Friedrich Merz, Bernhard Vogel und Jörg Schönbohm gehören: Als Konsequenz aus der Niederlage fordern sie gerade, die Union müsse wieder unterscheidbarer von den Sozialdemokraten werden (Merz), solle Themen wie nationale Identität (Roland Koch) besetzen und darauf achten, nicht durch eine Liberalisierung den Verlust konservativer Stammwähler heraufzubeschwören (Schönbohm).

Offensichtlich ist, wie der Parteienhistoriker Frank Bösch analysierte, daß die CDU unter Angela Merkel sowohl wirtschafts- als auch gesellschaftspolitisch liberaler geworden ist. An diesem Kurs will die Mecklenburgerin auf dem Zenit ihrer Macht festhalten und ihn gegen den gestiegenen Einfluß der CSU in der gemeinsamen Fraktion verteidigen. Bereits in der Vergangenheit nutzte die Parteichefin die Medien, um an den Parteigremien vorbei ihre programmatische Vorreiterschaft, ihren Anspruch auf "Modernisierung" zu untermauern ("Neue Soziale Marktwirtschaft", "Wir-Gesellschaft"). Als Friedrich Merz mit dem Begriff "Leitkultur" dagegen versuchte, ein originär konservatives Thema für die Union in die Debatte einzuführen, verhielt sich Merkel bremsend und schwächte die Forderung nach verstärkter Assimilierung hier lebender Ausländer in Sprachbeherrschung und Gesetzestreue ab. Bösch nennt in seiner Studie ("Macht und Machtverlust") das Grundproblem der Merkel-CDU den "Mangel an klaren Zielen". Die Union stehe derzeit vor einem programmatisch-ideologischen Problem, da sie keine "zugkräftige Integrationsformel" für ihre heterogene Anhängerschaft mehr besitze. Integrativ wirken in der Politik allerdings vor allem entsprechende Personen als Zugpferde für die Partei. Und selbst Frau Merkel mußte angesichts der Schwäche im Norden und Osten feststellen, es "fehlt ein Stoltenberg". Bereits vor über zehn Jahren hatte ein Kommentator der FAZ mit Blick auf Alfred Dregger festgestellt, dieser sei ein "Unikum", kein Repräsentant der Partei. Der CDU fehlten schon damals nicht die konservativen Wähler, sondern ein konservativer Flügel.


 
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