© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/02 11. Oktober 2002

 
Neurose oder Selbstbehauptung
Heinz Nawratil widmet sich der immer wiederkehrenden Debatte um die Kollektivschuld
Wolfgang Saur

War nach 1918 in Deutschland die Ablehnung alleiniger Kriegsschuld allgemein, wurde nach 1945 ein obsessives Schuldbewußtsein Konsens. Daher kennzeichnet eine Mischung aus ökonomischem Pragmatismus und Schamkultur unsere jüngste Geschichte.

Seit Armin Mohlers Klassiker zum Thema ("Vergangenheitsbewältigung: Von der Läuterung zur Manipulation" 1968) hat sich die deutsche Neurose ausgeweitet und vertieft. Dafür sind generelle Entwicklungstrends in der westlichen Welt verantwortlich: die progressive Moralisierung öffentlicher Wahrnehmung, die zivilreligiösen Zurüstungen, die Radikalisierung der Sprachpolitik im innenpolitischen Kampf, die Entgrenzung des Lebens durch die Globalisierung. Das Moralisieren als simple Schematisierung nach Gut und Böse verschafft psychologische Vorteile durch Entlastung von Komplexität und legitimiert politisch das gute Gewissen in knallharten Interessenskämpfen. Säkularisierung und Dezentrierung moderner Gesellschaften haben ein Vakuum produziert, das nun die Massengesellschaft mit ihrer Selbstvergöttlichung füllt. Aus einem pragmatischen Prinzip der Eingrenzung staatlicher Autorität ist die Demokratie zur unbedingten Idee geworden, dem westlichen Menschenrechtsimperialismus gleich einer Monstranz vorangetragen. Als negatives Absolutum und düstere Folie dient dabei der Nationalsozialismus, in dessen Abgrund eigene Sünden verschwinden und aus dem der Holocaust als das neue Heilige erscheint. Soziale Segmentierung und Egoismus bei explosiver Mediatisierung begünstigen den Konfliktaustrag auf der symbolischen Ebene emanzipierter Zeichen. Hier wurzeln die subtotalitären Sprach­regelungen, für Deutschland in der Variante der "historischen Korrektheit".

Eine Zusammenfassung von Kontroversen der letzten Jahre unternimmt jetzt "Der Kult mit der Schuld" des Juristen Heinz Nawratil. Der Autor, der schon ein "Schwarzbuch der Vertreibung" vorlegte, arbeitet das Kollektivschuldtrauma in der Bewußtseinsgeschichte der BRD heraus und diskutiert aktuelle Themen an diesem Leitfaden. Dabei ist ein journalistisch griffiges Buch entstanden. Inhaltlich Neues bieten diese Nachrichten aus der deutschen Misere aber kaum. Vor allem vermißt man die Weiterentwicklung theoretischer Erklärungsmodelle, die Durchdringung des Materials mit systematischen Fragestellungen. Immerhin bietet das Nachwort Herbert Speidels den Versuch tiefenpsychologischer Deutung. Dagegen bleibt uns das Buch eine politische Soziologie des Antigermanismus schuldig. Statistische Daten und einschlägige Zitate finden sich jedoch in Menge. Nawratil öffnet das Füllhorn innerdeutscher Selbsthaßtiraden: Die Deutschen, so Arno Schmidt, seien "immer noch derselbe unveränderbare Misthaufen", eine Verbrechernation ohne Recht auf ein eigenes Volksleben (Margarete Mitscherlich). Es zeigt sich der Bewältigungsdiskurs als innerdeutsche Machtmaschine: Legitimationsgrund von Gruppenegoismen.

Nawratil präzisiert die historischen Schuldvorwürfe im einzelnen, wobei die Grenzen des Buches sichtbar werden, da zu oft ohne Kenntnis der Fachliteratur argumentiert wird. Im Zeichen des Kalten Krieges verschwand die Kollektivschuldthese in den Fünfzigern und ermöglichte differenzierte Äußerungen von Politik und Publizistik, die inhaltlich heute für rechtsextrem gelten. Wurde die "Schuldthese" nominell seitdem kassiert und durch Begriffe wie "Verantwortung" und "Haftung" ersetzt, hat sich die Sache gleichwohl erhalten, ja ausgeweitet. So zieht das Schuldsyndrom seine Kreise. Von der ersten kommt es zur "zweiten Schuld" (Ralph Giordano), die Manfred Kittel bereits als "Legende" entlarvt hat. Alle Anstrengungen gelten dabei der Verbösung der Deutschen und der Dämonisierung ihrer Geschichte. Wahrscheinlich ist die retrospektive Deutung Jeremy Rifkins richtig, der schreibt: "Die Strafe für den Holocaust bestand darin, daß die Deutschen sich kollektiv entschlossen, die Idee einer deutschen Kultur zu meiden." So lebten die neuen Deutschen in der Illusion, "sie seien ein Volk mit einer ökonomischen Zukunft, aber ohne kulturelle Vergangenheit". Ausbreitung der US-Massenkultur und nihilistische Selbstdemontage gehen so Hand in Hand. Auf dieser Linie liegen natürlich die schulische Pädagogisierung des Holocaust und das Bemühen um die Einführung eines Unterrichtsfachs "NS-Vergangenheit".

Um uns auf Trab zu halten und die unaufhörliche Brisanz des Themas zu erweisen, braucht es freilich eine dynamische Verklammerung von damals und heute, was die Antirechtskampagnen leisten sollen. Die ubiquitären, 'von Rechts drohenden Gefahren' lassen die NS-Zeit wieder akut werden. Diese Hysterisierungsspirale der Erregungsdemokratie wird laufend bedient, das NS-Syndrom dabei vollends als letzter Bezugspunkt an den semantischen Himmel gepuscht. Wo gehobelt wird, da fliegen Späne, wird man sagen, und wenn's auch nicht immer fair dabei zugeht, "so isses es doch für 'nen guten Zweck". Dieser Zynismus ist der JUNGEN FREIHEIT wohl bekannt, lebt sie doch seit Jahren mit knallharter Ausgrenzung. Deshalb widmet der Autor ihr auch ein eigenes Kapitel, in dem er die Vorgänge seit 1994 dokumentiert. Sie erhellen jene etablierte Doppelmoral, die wesentlich zur Desinformation in der heutigen "Infogesellschaft" beiträgt.

Das zeigt auch, wie eine postreligiöse Gesellschaft im NS-Syndrom einen universalen Bezugsrahmen simuliert, der ihr als positiver Transzendenzbezug abhanden kam. Heute bildet diese Fixierung das quasimythische Passepartout der Gegenwart, und Jan Assmann sieht sogar die "Geburt einer neuen Weltreligion" voraus. Einer Religion, in der die Deutschen als Träger des absolut Bösen in die Rolle eines weltgeschichtlichen Sündenbocks aufrücken. "Das Instrument des Antigermanismus ist ebenso wirksam wie das des Antijudaismus, der sich ebenfalls verselbständigt hat..., die Deutschen werden sich, wohl oder übel, an die Allgegenwart des Antigermanismus gewöhnen müssen" (Michael Wolffsohn). Aber das wäre nur das Vorletzte. Joschka Fischer, nach dem Fundament der BRD befragt, antwortete, das sei Auschwitz. Dazu paßt die Bemerkung Kleebergs daß ein Staat, der tatsächlich auf Auschwitz beruhe, nur eine Finalität haben könne: die zu verschwinden.

Foto: Lea Rosh, Wolfgang Thierse und der Architekt Peter Eisenman präsentieren das Modell des Holocaust-Mahnmals in Berlin-Mitte: Auschwitz als Fundament der Bundesrepublik Deutschland

Heinz Nawratil: Der Kult mit der Schuld. Geschichte im Unterbewußtsein. Universitas Verlag, München 2002, 256 Seiten, 16,90 Euro


 
Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen