© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/02 11. Oktober 2002

 
Heilen um seiner selbst willen
Die Gesundheitsindustrie hat sich von der Therapierung des Kranken immer weiter entfernt
Jens Jessen

Schon wieder ein Buch gegen die Pharmaindustrie, die Ärzte, die Medizingeräteindustrie, die Impflobby, die Krankenhäuser und wer sonst noch am Gesundheitswesen partizipiert? Ein Rundumschlag mit Verleumdungen und Vermutungen? Nein. Und deshalb ist dieses Buch empfehlenswert. Die Autoren, Kurt Langbein und Bert Ehgartner, stützen sich auf Fakten, wie das umfangreiche Literaturverzeichnis zeigt, das seriöse Autoren und angesehene Zeitschriften des Medizinsektors aufweist.

Die Spezialisierung der Ärzte als Folge der Ansicht, einzelne Keime und fehlerhafte Gene seien allein für den Ausbruch von Krankheiten verantwortlich, nimmt kein Ende. Inzwischen gibt es in Deutschland 41 Weiterbildungsgänge zum Facharzt, 104 zusätzliche Fachkundebezeichnungen und fakultative Weiterbildungen sowie 23 Zusatzbezeichnungen, mit denen die Ärzteschaft stolz zeigt, wie weit ihre Differenzierung gediehen ist. Der "Arzt" ist ausgestorben. Allein die Spezialisten leben, die häufig anderen Spezialisten nur unwillig "ihre" Patienten zur Weiterbehandlung überlassen.

Langbein und Ehgartner machen für diese Entwicklung die Reduzierung der Medizin auf die Reparatur von Organen statt der Behandlung des Gesamtorganismus dingfest. Die bis zum Ausbruch der französischen Revolution herrschende Ganzheitsmedizin, die den Menschen als Gesamtheit sah und behandelte, wurde durch die Organmedizin abgelöst: der Mensch funktioniert wie eine Uhr. Fällt die Funktion eines Teils aus, muß dieses Teil in Ordnung gebracht werden. Die sogenannten Horlogisten - der Vernunft, der Mechanik und der Naturwissenschaft gläubig verbunden - verhalfen der neuen Medizin zum Durchbruch. Diese Fehlentwicklung wurde von einem theoretischen Rinnsal Ende des 18. Jahrhunderts zu einem reißenden Strom, als Louis Pasteur und Robert Koch die Bakterien als Ursache von Infektionen Ende des 19. Jahrhunderts entdeckten und daraus schlossen, eine Ausrottung der Bakterien garantiere die Gesundheit der Menschen. Der Aufschwung der industriellen Herstellung von Arzneimitteln war die Folge. Daß sich der Großteil der infektiösen Krankheiten mit der Verbesserung der Versorgung mit Nahrungsmitteln, Hygiene und Bildung verabschiedet hat, änderte daran nichts. Die Organmedizin entwickelte sich weiter. Die sich beschleunigende Spezialisierung im Gesundheitswesen ließ die Kosten immer schneller steigen. Jetzt stößt die Finanzierung an Grenzen. Eine Rationierung der Gesundheitsleistungen wird dadurch unabdingbar. Die Verfasser führen einige Kostenverursacher auf:

- Krankenhaus: etwa 50 Prozent der Leistungen im stationären Bereich werden für Patienten in den letzten beiden Lebensmonaten eingesetzt. "Etwa jedes vierte Krankenhausbett wird von Sterbenden belegt."

- Intensivstation: 12 Prozent der Gesamtkosten für den Krankenhausbereich in Deutschland werden vom Intensivbereich geschluckt. Das sind ein Prozent des Bruttosozialprodukts.

- Medikalisierung: Übermedikalisierung kennzeichnet die Versorgung alter Menschen. Die Wechselwirkung zwischen verordneten Arzneimitteln bei mehreren Krankheiten und die Wechselwirkungen zwischen mehreren Krankheiten einer Person und die daraus resultierenden Behinderungen im Alter befinden sich nicht gerade im Mittelpunkt des Interesses der Forschung. Analysen haben gezeigt, daß 50 Prozent der älteren Menschen keine angemessene - entweder falsche Arzneimittel, zu wenig oder zu viel - Arzneimitteltherapie erhalten.

- Immunisierung: Impfung zur Immunisierung gegen Masern, Diphtherie, Keuchhusten ist nicht nur sinnlos, sondern gefährlich. Diese Impfungen sind eingeführt worden, "als die Infektionserkrankungen selbst bereits ihren Schrecken verloren hatten. Auch die Kinderlähmung ging seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Europa beständig zurück". Die Impflobby aber arbeitet weiter.

- Vorsorge: Die Krebsvorsorge mit Hilfe teurer Screeningprogramme hat keinen relevanten Rückgang der Sterblichkeit bewirkt, aber erhebliche Kosten verursacht. 17 Prozent aller Teilnehmerinnen an einem Früherkennungspro-gramm in Schweden haben jedoch irrtümlich eine positive Diagnose erhalten, die teilweise zu körperlichen und psychischen Schäden führte.

- Therapie: Die Krebsbehandlung ist nach wie vor brutal und weitestgehend ohne positive Folgen für die Lebenserwartung. Bei dem häufigsten Krebs (Brustkrebs) bringen operative Möglichkeiten mehr Verstümmelung als Linderung und die chemische Keule vermindert die Lebensqualität der Patientinnen ebenso wie die Bestrahlung, ohne eine Verbesserung der Prognose zur Folge zu haben.

- Diagnostik: Jede vierte ärztliche Diagnose ist falsch. Qualitätssicherung wird gefordert. Die Qualität der Ergebnisse der Früherkennung des Zervixkarzinoms in Großbritannien zeigt jedoch, daß es mit der Umsetzung nicht so weit her ist. Ein Drittel der Befunde im Königlichen Krankenhaus in Leicester waren falsch. Ein Drittel der Krebsfälle wurde einfach übersehen.

- Nachsorge: In zwei italienischen Studien über den Wert intensiver Nachsorge nach einer Brustkrebs-Operation -Zufallszuweisung der Patientinnen in eine Gruppe intensiver Nachsorgediagnostik oder jährlicher Routineuntersuchung in der Klinik, ergab sich zwar eine frühere Entdeckung von Metastasen und Rückfällen. Auf das Ergebnis hatte das keinen Einfluß: "In beiden Studien waren die Überlebenskurven der beiden Vergleichsgruppen bis zum Endpunkt von fünf Jahren nahezu ununterscheidbar."

- Vorbeugende Therapie Gesunder: Die Medizin ist auf dem besten - und teuersten - Weg, alle Menschen zu Kranken zu erklären und sie vorbeugend zu therapieren. In Framingham (USA) fing alles an. Um die Herz-Kreislauf-Sterblichkeit zu senken, wurde das Cholesterin als Hauptverursacher entlarvt. Ab einem Wert von 200mg/dl - so die Norm - ist der Cholesterinwert zu senken. Millionen waren plötzlich Patienten. Der nächste Streich war die Hormonersatztherapie, um Frauen in der Menopause vor Herzinfarkt, Osteoporose und Alzheimer zu schützen. Führte die Senkung des Cholesterinwertes durch Statine bei alten Menschen zu einer höheren Sterblichkeit, so verursachte die Hormonersatztherapie nach neueren Forschungen einen Anstieg der Herzinfarktrate, schränkt die Nierentätigkeit ein und erhöht das Brustkrebsrisiko.

Alle Maßnahmen im Gesundheitswesen dienen der Beseitigung und Verhinderung von Krankheit. Daß es dabei zu kostenträchtigen Übertreibungen kommt, beweist die Zunahme der Allergien. Die Sterilität der Welt, in der wir leben, haben dem Immunsystem der Menschen den Feind genommen und damit das Übungsfeld, auf dem es sich beweisen kann. Infektionen trainieren nach neuesten Forschungsergebnissen das Immunsystem, insbesondere in den ersten drei Jahren des Lebens. Deshalb fordern englische Allergieexperten den Schluß des Hygienewahns, der auch den Markt antibakterieller Putz- und Waschmittel belebt. Die den Kleinkindern verpaßten Impfungen gegen Infektionskrankheiten rauben dem Immunsystem unbezahlbare Informationen. Asthma und Heuschnupfen waren bei Kindern in der ehemaligen DDR 1990 nur halb so häufig wie im klinisch sauberen Westen. "Heute ist zwischen Dresden und München kein Unterschied mehr festzustellen." Den Gesundheitspolitikern aller Parteien ist zu empfehlen, dieses Buch zu lesen und ihre Schlüsse für eine vernünftige Gesundheitspolitik daraus zu ziehen.

Blick ins Großklinikum Aachen: Der Mensch funktioniert wie eine Uhr, bei der kaputte Teile repariert werden

Kurt Langbein, Bert Ehgartner: Das Medizinkartell - Die sieben Todsünden der Gesundheitsindustrie, Piper Verlag, München 2002, 390 Seiten, 19,90 Euro


 
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