© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    42/02 11. Oktober 2002

 
Guidos Irrtum
Mann ohne Unterleib: Der FDP-Vorsitzende Westerwelle steht für die intellektuelle Inzucht des Politikbetriebs
Doris Neujahr

Die Faltblattaktion von Jürgen W. Möllemann hat laut Infratest das Wahlergebnis der FDP kaum beeinflußt. Die Gründe für das Debakel seiner Partei muß Guido Westerwelle anderswo suchen. Zu Beispiel bei sich selbst. Ist sein Realitätssinn tatsächlich größer und sein Größenwahn kleiner als der von Möllemann? Falls ja, dann ist er entweder ein Schwächling, der falschen Einflüsterungen nachgegeben hat, oder ein eitler Geck, der sich von Schmeicheleien umgarnen ließ. Erst ließ er sich zum Kanzlerkandidaten ausrufen, dann schlüpfte er auch noch in den weiten Mantel von Hans-Dietrich Genscher und erklärte sich selber zum wichtigsten Programmpunkt ("Guidomobil"!) seiner Partei. Sein Narzismus läßt auf mangelndes Wirklichkeitsgefühl schließen. Von Anfang an kam der quietschfidele Spaßkandidat als unfreiwillige Lachnummer daher.

Ganz Kind der telekratischen Trallala-Gesellschaft, ist er dem Irrtum aufgesessen, dem aus entgegengesetzter Richtung auch nervenschwache Kulturpessimisten erliegen: Aus der Tatsache, daß zur Politik zunehmend ihre professionelle mediale Vermittlung gehört, hat er gefolgert, daß sie sich vollständig durch Showeffekte ersetzen ließe. Doch dann kam, was kommen mußte: Ohne Vorwarnung durchbrach die Wirklichkeit in Gestalt der Flutkatastrophe die virtuelle Medienwelt und rief herrisch nach ganz realen politischen Entscheidungen.

In den großen Irrtum des Guido Westerwelle ist ein kleiner Irrtum eingeschlossen: Er glaubt, daß es für einen Politiker, um populär zu werden, am wichtigsten sei, im politischen Binnensystem, im Apparat, aufzusteigen. Er meint, daß die dabei erwiesene Fähigkeit des Finassierens und Vordrängelns als Quelle öffentlichen Ansehens genügt. Natürlich sind solche Eigenschaften nötig, und Westerwelle ist überreich mit ihnen gesegnet. Nicht umsonst ist er der jüngste Parteivorsitzende in Deutschland. Noch aber ist die politische Kultur nicht soweit heruntergekommen, daß dies schon als Befähigungsnachweis für das Kanzleramt ausreicht.

Zur Verfertigung von Politik gehören immer noch das Erfassen und Analysieren tatsächlicher Probleme und das Erarbeiten von Handlungsprogrammen, um sie zu lösen. Diese Programme werden aufgrund von Werten, Interessen, Überzeugungen entworfen und akzentuiert. Um sie durchzusetzen, braucht es die Mehrheitsbeschaffung, den Kompromiß, das Drohen, das öffentliche Werben. Und in dieser Phase spielt das Mediencharisma der politischen Akteure eine immer größere Rolle. Dessen Kernstück besteht darin, den Bürgern in - scheinbar - persönlichen Szenen und Gesten die notwendige Lösungskompetenz glaubhaft zu demonstrieren. An diesem Punkt schließt sich der Kreis von realer Politik und virtueller Medienwelt - und vollendet sich Guidos Irrtum: Er hat geglaubt, über dieses Charisma zu verfügen und es ins Zentrum seiner Kampagne gesetzt - mit dem bekannten Ergebnis.

Westerwelles Pleite beweist, daß sich das Mediencharisma eines Spitzenpolitikers nicht voraussetzungslos erschaffen läßt. Es benötigt ein paar substantielle Grundlagen. Um auf Probleme medial angemessen zu reagieren und die Lösungskompetenz überzeugend zu verkörpern, muß man auf Sachwissen und einen menschlichen Erfahrungsfundus verweisen können, der außerhalb des Medienbetriebs und des politischen Apparats liegt.

In der Glitzerzone zwischen Politik und Medienwelt

Schröder, Stoiber und Fischer hatten ungleich mehr Eigengewicht einzubringen als Westerwelle. Schröder als Halbwaise des Krieges, als sozialer Aufsteiger (der darüber seine Wurzeln nicht vergißt) und charmanter Macho. Stoiber ist der wertkonservative, hochsolide katholische Kleinbürger, der seine Überzeugungen anhand einer adretten Kleinfamilie vorführt. Fischer stellt den intellektuellen Subproletarier dar, der Gewaltaffekte ausgelebt, private Katastrophen überstanden und, vor allem, "1968" in den parlamentarischen Alltag transformiert hat. Alle drei schöpfen aus Ressourcen außerhalb der Politik und des Medienbetriebs, sie repräsentieren menschliche, politische, soziale, geistige Erfahrungen und Entwicklungen, sie laden gesellschaftliche Gruppen zur positiven Identifikation ein.

Doch was repräsentiert Guido We-sterwelle? Seit Jahren behauptet er: "ein liberales Lebensgefühl". Nun ja. Der knapp 41jährige hat früh angefangen, sich in der Politik Seilschaften und Netzwerke aufzubauen. Mit 18 ist er in die FDP eingetreten und war Gründungsmitglied der Jungliberalen. Von 1983 bis 1988 war er deren Bundesvorsitzender, anschließend zog er in den Parteivorstand ein, 1994 wurde er Generalsekretär, dann Vorsitzender der FDP. Und das sind nur die allerwichtigsten seiner vielen Funktionen. Nebenbei studierte er Jura und promovierte an der Fernuniversität Hagen. Das Thema seiner Doktorarbeit: "Das Parteienrecht und die politischen Jugendorganisationen".

Fazit: Eine aalglatte Politikerkarriere, die nicht dadurch sympathischer wirkt, daß sie von immer mehr Nachwuchspolitikern, die bereits als Schüler Botendienste für den Wahlkreisabgeordneten in der Hoffnung verrichten, ihn eines Tages zu beerben, nachgeahmt wird. Guido Westerwelle steht für die personelle und intellektuelle Inzucht des deutschen Politikbetriebs.

Sein Privatleben hält er unter Verschluß. Offiziell weiß man nur, daß er unverheiratet und kinderlos ist. Das wenige, was er preisgibt, läßt auf eine anämische Biographie und Erfahrungswelt schließen. Ein überzeugendes Mediencharisma, das Vertrauen vermittelt, läßt sich daraus nicht formen. Es geht hier nicht um die Schnüffelei in privaten Angelegenheiten, sondern um den Widerspruch zwischen der selbstbezogenen Marktschreierei, mit der er die Öffentlichkeit penetriert, und der totalen Abschirmung seiner Privatsphäre. Dieser Widerspruch ist auffällig, er ist einzigartig, er erweckt Mißtrauen. Man muß annehmen, daß seine überdrehte Quirligkeit gar kein politisches Ethos zur Grundlage hat, daß es ihm im Grunde nicht um politische Botschaften, sondern um die Hebung seines Egos geht. Der Mann ohne Unterleib möchte sich in der Glitzerzone zwischen Politikbetrieb und virtueller Medienwelt als jene kraftvolle Persönlichkeit erschaffen, zu der ihm in der Realität der Mut fehlt.

Wie soll jemand "liberales Lebensgefühl" und vertrauenswürdiges Charisma transportieren, dem der Bekennermut fehlt, zu seinem offenen Geheimnis zu stehen, über das sich nicht nur Rosa von Praunheim, sondern längst auch seriöse Zeitungen mokieren? In Szenezeitschriften und vulgären Comics figuriert Guido schon seit Jahren als "die Schwesterwelle".

Sein "Big Brother"-Auftritt war der Offenbarungseid

Doch statt ins Leben geht Westerwelle zu "Big Brother". Sein Auftritt war mehr als ein Mediengag, er war der heimliche Offenbarungseid des Guido-Prinzips. In "Big Brother" war alles Fläche, auf den ersten Blick einsehbar und noch das Persönlichste als entfremdete Inszenierung durchschaubar. Das Guido-Prinzip vollendete sich in der Nachbereitung während der folgenden Wochen, als die Akteure vor die Kameras geholt wurden, um über ihre Erfahrungen im Container zu berichten. Die Interviews waren der Befragung von Zeitzeugen in amerikanischen und Knoppschen Geschichtssendungen nachempfunden, in denen ein kunstvoll verschatteter, dreidimensionaler Hintergrund die Tiefe des geschichtlichen Erfahrungsraumes repräsentiert.

Bei "Big Brother" konnte der Hintergrund natürlich keine Tiefendimension repräsentieren, er war die Spanische Wand vor der Leere. Die einzigen, die das Bühnenbild und damit sich selber ernstnahmen, waren die befragten Big-Brother-Akteure. Das Publikum aber durchschaute das selbstreferentielle Spiel und schaltete bald ab. Genauso ist es auch Westerwelle bei der Bundestagswahl gegangen.

Lorenz Jäger hat in der FAZ auf die Ähnlichkeit von Westerwelles Karriere mit der der Apparatschiks in der Kunstwelt der realsozialistischen Staatsmacht hingewiesen. Dieser Vergleich trifft nur teilweise zu, denn Angehörige der alten SED-Garde wie Erich Honecker verfügten neben ihrer Stellung im Partei- und Staatsapparat über eine zweite Quelle der Autorität: Sie legitimierten sich durch ihren Widerstand gegen Hitler und durch Haftzeiten im Dritten Reich. Der Honecker-Nachfolger Egon Krenz hingegen, ein "ewig grinsendes Gebiß" und "Jubelidiot" (W. Biermann), der über diese moralische Legitimation nicht mehr verfügte, wurde, wie der Psychoanalytiker Joachim Maaz schreibt, nur "als der unverhüllte Bastard eines verkommenen Herrscherhauses empfunden". Ähnliches trifft auch auf den Politiker Guido Westerwelle zu. Sollte er trotzdem eines schönen Tages fröhlich grinsend mit dem "Guidomobil" ins Kanzleramt einfahren, wissen wir, daß die deutsche Geschichte, Kultur und Politik tatsächlich jeden Sinn verloren haben.


 
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