© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de   43/02 18. Oktober 2002


Identität respektieren

Die EU darf nach der Erweiterung keine neue Sowjetunion mit anderen Mitteln werden
Carl Gustaf Ströhm

Brüssel ist wild entschlossen: Mit einem "Big Bang" sollen mit einem Schlag zehn neue Mitglieder, davon acht aus dem postkommunistischen Raum, in die Europäische Union aufgenommen werden. Der endgültige Eintrittstermin wäre das Jahr 2004.

Auf den ersten Blick scheint das eine gute Nachricht zu sein. Europa holt seine verlorenen Kinder heim. Die politische und ökonomische Grenze des alten Kontinents, die noch unweit Hamburgs lag, verschiebt sich von der Oder an die Narwa und an den Bug: Die estnische bzw. polnische Ostgrenze. Daß die Nationen, um die es hier geht, nicht nur Europäer sein wollen, sondern ihrer Kultur und Tradition nach europäisch sind, unterliegt keinem Zweifel. Insofern könnte man jetzt die Fahnen schwenken und sich gegenseitig freudig zuprosten.

Doch leider steckt der Teufel auch hier im Detail. So wie sich erst nachträglich bei der Wiedervereinigung Deutschlands herausstellte, welche gewaltigen Probleme die Herrschaft der Kommunisten in der ehemaligen DDR aufgehäuft hatte, dürfte sich auch beim jetzigen Vorgang einer - wenigstens teilweisen Wiedervereinigung Europas herausstellen, daß mit immensen Schwierigkeiten zu rechnen sein wird.

Vordergründig geht es dabei ums Geld. Von den zehn Kandidatenländern, die aufgenommen werden sollen, sind sechs Nettoempfänger, die im ersten Jahr die EU über eine Milliarde Euro und bis 2006 bereits 4,7 Milliarden kosten werden. Allein durch Polen wird die Union bis 2006 etwa 2,7 Milliarden Euro zusätzlich kosten. Angesichts der in allen, besonders aber bei den Alt-EU-Mitgliedern äußerst angespannten Finanz- und Haushaltslage erscheinen Streitigkeiten und Eifersüchteleien ums Geld fast unvermeidlich. Finanzieller Zank - etwa wenn die bisherigen Empfängerländer des "Club Méditerranée" sich weigern, zugunsten der armen Ost-Brüder auf bisherige Privilegien (und Zahlungen) zu verzichten: Das könnte die EU politisch lähmen. Ohnedies räumt man in Brüssel ein, noch meilenweit von der vielzitierten gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Außenpolitik entfernt zu sein.

Deshalb ist der "Big Bang" eher Ausdruck europäischen Fortwurstelns als einer großzügigen und durchdachten politischen Strategie. Es war der seinerzeitige Kanzler Helmut Kohl, der auf dem EU-Gipfel in Kopenhagen forderte, den mitteleuropäischen "Club" - nämlich Ungarn, Tschechen und Polen (sowie in deren Schlepptau Slowenen und Slowaken) aufzunehmen. Darauf meldete sich Finnland und verlangte die gleichzeitige Aufnahme der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen. Der französische Präsident Chirac, offenbar beunruhigt über diese "deutsche Ostexpansion", kam darauf mit dem Vorschlag, auch Rumänien - das einzige romanische Land in Südosteuropa - einzubeziehen. Daraus ist zwar einstweilen nichts geworden, aber schon hört man Stimmen, die behaupten, Bukarest sei für eine EU-Aufnahme mindestens ebenso qualifiziert wie etwa die Slowakei. Schon an diesem Beispiel erkennt man, daß die EU-Mitgliedschaft nicht so sehr von angeblich objektiven Kriterien als vielmehr von politischen Opportunitäten abhängt. Polen zum Beispiel wird aufgenommen, weil eine Verweigerung der Mitgliedschaft bei diesem Lande aus politisch-psychologischen Gründen undenkbar wäre: erstes Opfer des Zweiten Weltkrieges, seinerzeit zweitgrößter Staat des Warschauer Paktes, dazu noch ein Pole als Papst!

Läßt man die beiden Mittelmeer-Kandidaten Malta und Zypern beiseite, so gibt es unter den "Neuen" nur zwei, die der EU nach menschlichem Ermessen keine größeren Probleme bereiten dürften: Estland im Norden und Slowenien im Süden. Zumindest scheinen deren Probleme wegen der Kleinheit und Überschaubarkeit dieser beiden Staaten noch beherrschbar zu sein. Im Falle Polens ist das Schicksal der heimischen Landwirtschaft ein Damoklesschwert: Was wird aus Millionen kleiner polnischer Bauern, die sich selber und ihre nähere Umgebung rudimentär ernährt haben, jetzt aber von der eingespielten und klimatisch begünstigten west- und südeuropäischen Konkurrenz hinweggefegt werden? Könnte hier nicht ein verzweifeltes Agrarproletariat entstehen - in einer Zeit ohnedies spürbarer Rezession und Massenarbeitslosigkeit im Westen?

Alle schönen Worte über das einträchtige multikulturelle Zusammenleben verschiedener Nationen täuschen nicht darüber hinweg, daß solche komplexen Fragen wie etwa die Beziehung zwischen Russen und Esten, Russen und Letten, Slowaken und Ungarn, Ungarn und Rumänen (Siebenbürgen), ja sogar Slowenen und Kroaten nicht geregelt sind. Den betroffenen Nationen jetzt einfach eine europäische Kapuze überzustülpen und sie auf die Brüsseler "Sprachregelung" - nach der Parole: Friede, Freude, Eierkuchen - und im übrigen haltet ihr gefälligst den Mund zu vergattern, ist zu wenig und kann nicht funktionieren.

Wie tief der psychologische Graben zwischen westlichen und östlichen "Brüdern" in Europa noch ist, zeigte sich im sogenannten Konvent, den Frankreichs Ex-Staatspräsident Valéry Giscard d'Estaing leitet: Die etablierten Alt-Mitglieder sträubten sich lange, die Neuaufnahme-Kandidaten über das zukünftige Europa gleichberechtigt mitdiskutieren zu lassen. Erst mit erheblicher Verzögerung durfte der ehemalige slowenische Ministerpräsident und Christdemokrat Lojze Peterle als Vertreter der "Neuen" am gemeinsamen Tisch Platz nehmen.

Die EU hat auch bestehende innenpolitische - etwa Nationalitätenkonflikte - der Neuen unter den Tisch gekehrt oder einer Scheinlösung zugeführt. Wer aus Angst vor der Beschuldigung, Rassist zu sein, die Augen vor dem Zigeunerproblem in der Slowakei, Ungarn oder Rumänien verschließt, lügt sich vor lauter Politkonformismus in die eigene Tasche.

Wer sich über die Benes-Dekrete mit ein paar Phrasen hinwegsetzt, verschiebt die Konflikte nur, statt ihnen ins Auge zu sehen. Und wer schließlich meint, man müsse die Oststaaten nur aufnehmen, sie anschließend ihrer Souveränität berauben und sie dann zu einer öden Euro-Konformität zwingen, der setzt die Saat künftiger neuer Mißverständnisse.

Die Zukunft Europas kann nicht in Brüsseler Büroschränken und am grünen Tisch gesichert werden. Man muß die Völker - ob groß oder klein - in ihrer Individualität und Identität respektieren. Man sollte alles tun, daß diese Nationen die EU nicht als Fortsetzung der Sowjetunion mit anderen Mitteln empfinden. Die Osterweiterung ist nicht Ende, sondern Anfang eines beschwerlichen Weges. Gemeinsamkeit zwischen Ost und West wird sich nur herstellen lassen, wenn der eine dem anderen nicht zu viel zumutet.


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