© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/02 18. Oktober 2002

 
Das Problem heißt Angela Merkel
Parteien: Trotz "Ost-Bonus" konnte die CDU-Chefin die Wähler in den neuen Ländern nicht erreichen / CSU-Wahlerfolg auch bei Frauen
Paul Rosen

Die heimliche Gewinnerin der Bundestagswahl, so ist in Berlin oft zu hören, heiße Angela Merkel. Die Rostocker Pastorentochter, geschult und gebrieft durch DDR-Diktatur und Wende sowie durch acht Jahre Ministeramt in Bonn, habe eigentlich alles erreicht, was sie habe erreichen können: Der Kanzlerkandidat Edmund Stoiber bleibt in München und sieht dem Altenteil entgegen. Der eigentliche Rivale der CDU, der Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz, ist ausgeschaltet. Ungestört konnte Frau Merkel die Herrschaft in der Bundestagsfraktion übernehmen, nachdem sie die Partei bereits nach dem Sturz von Wolfgang Schäuble unter Kontrolle gebracht hatte. Die Kanzlerschaft 2006, wenn Rot-Grün nach acht Jahren verschlissen sein könnte, scheint in den Bereich des Möglichen zu rücken.

Doch im Leben ist man bekanntlich vor Überraschungen nicht gefeit und in der Politik schon gar nicht. Kaum im neuen Amt der Fraktionsvorsitzenden und noch nicht einmal richtig in die schönen neuen Büros im Reichstag eingezogen, mußte Frau Merkel feststellen, daß die Bundestagsfraktion nicht die Partei ist, die ihr nach gut zwei Jahren strengem Regiment wie ein zahmer Vogel aus der Hand frißt. Es regt sich Widerstand gegen eine Fraktionsführung, die mehrheitlich aus Politikern der Kohl-Ära bestehen soll. Auch jüngere Abgeordnete müßten eine Chance bekommen, fordert der CSU-Abgeordnete Gerd Müller, der sich als unabhängig denkender Mann bereits einen Namen in Berlin gemacht hat.

Die in der Partei unter dem Stichwort der Erneuerung zuvor losgebrochene Diskussion hatte Frau Merkel unbeschadet überstanden. Die Rufe nach einer anderen Programmatik und die Forderung nach dem Erschließen neuer Wählerschichten, erhoben etwa vom saarländischen Landesvorsitzenden Peter Müller, waren vergleichsweise harmlos. Auch Frau Merkel selbst hatte nichts Ungewöhnliches gesagt, als sie etwa verlangte, die CDU müsse attraktiver für großstädtische Wähler und für Frauen werden. Was an konträren Äußerungen festzustellen war, etwa vom brandenburgischen Landesvorsitzenden Schönbohm, der verlangte, das Tafelsilber dürfe nicht verkauft werden, war nicht geeignet, eine wirkliche Debatte zu eröffnen. Das Gegrummel in der CSU-Landtagsfraktion in München, wo man die Lage relativ nüchtern analysierte, wurde von Stoiber, den seit einigen Monaten eine seltsam anmutende Freundschaft mit Frau Merkel verbindet, im Keim erstickt.

CDU als moderne Großstadtpartei präsentieren

Daher hatte die CDU-Chefin leichtes Spiel: Die von ihr selbst angestoßene Debatte über die schlechte Lage der Partei in den Großstädten konnte sie in die richtigen Bahnen lenken, indem sie Parteivize Jürgen Rüttgers beauftragte, einen "Arbeitskreis Städte" zu gründen. Dort will man Wege finden, die CDU als moderne Großstadtpartei zu präsentieren. Angesichts des Abschneidens der Rüttgers-CDU in Nordrhein-Westfalen, wo die miserablen 33,8 Prozent des Jahres 1998 nur um bescheidene 1,3 Punkte auf 35,1 Prozent aufgestockt werden konnten, läßt sich die Frage, ob Rüttgers ein geeigneter Stichwortgeber für künftige Wahlsiege der CDU sein könnte, leichten Herzens mit "Nein" beantworten.

Auch eine andere wichtige Frage wird in der CDU erst gar nicht gestellt. Die Partei ist bei den Bundestagswahlen massiv von den Frauen im Stich gelassen worden. Angeblich, so mutmaßte man im CDU-Präsidium, habe es der Gegner geschafft, den Eindruck zu erwecken, die CDU habe immer noch das alte Frauenbild von den "drei K" - Kinder, Küche, Kirche. Doch das ist nicht der Kern des Problems. Die bayerische CSU, wahrscheinlich keine große Frauenbastion, hat auch beim weiblichen Geschlecht große Wahlerfolge erzielen können. Nur die CDU, die einzige große Bundestagspartei, die von einer Frau geführt wird, hat Probleme. Das kann auch nicht an der Programmatik liegen. Denn in ihren Beschlüssen hat sich die CDU in den letzten Jahren weit vom sogenannten traditionellen Familienbild entfernt und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften fast auf eine Stufe mit der Ehe gestellt. Vielleicht ist das ein Grund für die massiven Verluste. Denn eine Studie der Adenauer-Stiftung hat festgestellt (siehe Dokumentation unten), daß die CDU gerade ältere Wähler nicht mehr so gut mobilisieren konnte wie selbst noch vor vier Jahren zum Ende der Ära Kohl. Ein Problem für das schlechte Abschneiden der Partei heißt sicher Angela Merkel.

Auch ein weiteres Problem wurde ignoriert: Das Abschneiden in den neuen Ländern. In Thüringen und Sachsen schaffte man nicht einmal einen Prozentpunkt Zuwachs. So stieg die CDU in Thüringen von 28,9 auf 29,4 Prozent, in Sachsen von 32,7 auf 33,6. Schönbohms Brandenburger Christdemokraten kamen auf 22,3 Prozent, in Sachsen-Anhalt war Wolfgang Böhmer mit 29,1 Prozent nicht viel besser. Nur in Mecklenburg-Vorpommern schaffte die CDU mit 30,03 Prozent ein etwas besseres Ergebnis. Das schlechte Abschneiden wurde mit der Elbe-Flut und Schröders Macher-Image, dem angeblichen Anti-Amerikanismus der Bürger in den neuen Ländern bis hin zu Stoibers angeblicher Unbeliebtheit bei den "Ossis" erklärt. Aber die Tatsache, daß die Galionsfigur der CDU, eben die Parteivorsitzende Merkel, aus den neuen Ländern kommt und die Wähler zu Hunderttausenden hätte anziehen müssen, wurde in der CDU erst gar nicht diskutiert.

Das Ergebnis wirft einen Schatten auf die gemeinsame Fraktion. Von den 1,1 Millionen Stimmen, die die Union hinzugewann, holte allein die CSU in Bayern eine Million. Dies führt in der Fraktion zu Machtverschiebungen. Die Schwäche des Nordens nutzten die Bayern gnadenlos aus. Schon verlangt CSU-Landesgruppenchef Michael Glos, ein Mann, der Frau Merkel öffentlich hofiert, aber intern die Bedingungen diktiert, ein Drittel Stellvertreterposten in der Fraktionsführung. Von der CSU wurde dafür die Ex-Bauministerin Gerda Hasselfeldt präsentiert, die als Gegenspielerin zu Finanzminister Hans Eichel auftreten soll. Der Sieger in den kommenden Bundestagsdebatten dürfte gewiß nicht Hasselfeldt heißen.

Die Führungsriege, in die überraschenderweise Schäuble einrücken soll, besteht auch sonst neben der Chefin selbst (früher Umwelt) aus einigen alten Ministern: Wiedersehen feiern Matthias Wissmann (früher Verkehr) und Horst Seehofer (früher Gesundheit). In Westdeutschland gehört dem vorläufigen Führungstableau von Frau Merkel kein Politiker mehr an, der nördlich von Dortmund wohnt.

Einen taktischen Fehler beging die neue Vorsitzende, als sie die Wahl um einige Tage verschob und den Abgeordneten Gelegenheit gab, den Widerstand zu organisieren. So steht Frau Merkel wenige Wochen nach ihrer Wahl vor der ersten Machtprobe. Verliert sie und muß personelle Zugeständnisse machen, ist ihr Ansehen beschädigt. Setzt sie ihre Personalvorstellungen durch, sind künftige Wahlen mit den Führungsgestalten von gestern nicht zu gewinnen. Frau Merkel wird dann 2006 alles, aber nicht erste Bundeskanzlerin.


 
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