© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/02 18. Oktober 2002

 
Ein merkwürdiges juristisches Verständnis
EU-Osterweiterung: Zwei unterschiedliche Gutachten zu den Benes-Dekreten und dem Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union
Ekkehard Schultz

Am 2. Oktober legte Jochen A. Frowein, der frühere Vizepräsident der Europäischen Kommission für Menschenrechte und Direktor des Max-Planck-Instituts für Internationales Recht in Heidelberg, sein Gutachten zur Bedeutung der Benes-Dekrete für den Beitritt der Tschechischen Republik zur EU vor, das vom Europaparlament in Auftrag gegeben worden war. Ein zweites Gutachten wurde für die Sudetendeutsche Landsmannschaft von Dieter Blumenwitz, Völkerrechtler an der Universität Würzburg, erstellt.

Während Frowein zu dem Schluß gelangt, daß die aus der Vergangenheit begründeten Gesetze für den Beitritt der Tschechei zur EU keine Rolle mehr spielen würden und damit eine Aufhebung der Gesetze auch nicht mehr zwingend notwendig sei, verlangt Blumenwitz insbesondere die Aufhebung des Amnestiedekretes Nr. 115 als Vorbedingung für einen EU-Beitritt. Europa liefe Gefahr, so Blumenwitz, im weltweiten Kampf gegen ethnische Säuberungen seine Glaubwürdigkeit zu verlieren (siehe Dokumentation unten).

Froweins Argumentation bei der Begutachtung der rechtlichen Situation ist weniger juristischer, denn historisierender Gestalt. Sein Gutachten ist daher auch keine Studie mit universellem Rechtscharakter, sondern dient einzig der Prüfung der Benes-Dekrete im Lichte der aktuellen Situation, also den tschechischen Bemühungen um einen EU-Beitritt. Nach Auffassung Froweins ist daher auch die Frage der rechtlichen Bewertung der Benes-Dekrete von der Frage der heutigen Menschenrechts- und Eigentumssituation auf dem Territorium der Tschechischen Republik in bezug auf den geplanten Beitritt zur EU strikt zu trennen. Grundsätzlich sei es im Sinne der Europäischen Integration, daß auch frühere faschistische oder kommunistische Staaten ein Recht auf einen Beitritt zur EU haben müßten, das heißt Staaten mit in diesem Zeitraum abweichenden Rechtsverständnis. Daher müsse zur Beurteilung der EU-Beitrittsfähigkeit der Blick in erster Linie auf die aktuelle und zukünftige Situation im jeweiligen Land gerichtet werden, nicht auf dessen Vergangenheit.

Die Bereitschaft, die EU-Prinzipien auf den Gebieten der Freiheit, der Demokratie, der Akzeptanz der universalen Menschenrechte, der grundsätzlichen Freizügigkeit oder des Eigentums anzuerkennen, habe Prag jedoch bereits vor Jahren geleistet. So habe die tschechische Regierung bei den Beitrittsverhandlungen die Zusage gegeben, alle diejenigen Teile der Benes-Dekrete zu nivellieren bzw. außer Kraft zu setzen, die im Gegensatz zum EU-Recht bzw. den Kopenhagener Kriterien stehen könnten.

Diese positiv zu wertende Haltung Tschechiens zeige sich auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes, wie sie beispielsweise die Sicherheit der heute etwas über 38.000 Personen umfassenden deutschen Minderheit im Lande beweise.

Betrachte man die einzelnen Dekrete - so Frowein - wie das Dekret Nr. 33, das die Beschlagnahmungen des Eigentums der deutschen und ungarischen Minderheit in den Jahren 1945/46 sanktionierte, so sei festzustellen, daß diese keineswegs mit den Grundsätzen des heutigen EU-Rechtes übereinstimmten. Hier müsse allerdings, wie auch beim Dekret Nr. 115 vom 8. Mai 1946, das alle im Zusammenhang mit der "Widerstandstätigkeit" zwischen dem 30. September 1938 und dem 28. Oktober 1945 verübten Straftaten als "gerechtfertigte Aktionen im Freiheitskampf des tschechischen und slowakischen Volkes" für straffrei erklärte und bis heute Verfolgungen von Rechtsverstößen gegen die deutsche und ungarische Minderheit nahezu kategorisch ausschließt, der historische Kontext beachtet werden. Das auch nach Frowein als "abstoßend" zu bezeichnende Gesetz sei zunächst für "patriotische Aktionen wie der Ermordung des Reichsprotektors Reinhard Heydrich durch tschechische Fallschirmjäger" und zur Bekämpfung der Vergeltungsaktionen begründet gewesen. Erst später habe es den Charakter eines grundsätzlichen Straffreistellungsgesetzes erhalten.

Grundsätzlich müßten alle Gesetze mit Bezug zur Vertreibung jedoch auch - so Frowein - auf der Basis des Beschlusses der europäischen Großmächte sowie der USA betrachtet werden, der den Umständen nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs Rechnung getragen habe. Dieser Beschluß, die deutsche und ungarische Bevölkerung vom Territorium der Tschechoslowakei nahezu vollständig auszusiedeln, sei eine Reaktion auf die "nahezu unbegrenzte Barbarei der deutschen Okkupanten gerade in der letzten Phase des Krieges gewesen". Damals war es keine Frage, so Frowein, daß Deutschland für die nationalsozialistischen Taten der Zeit zwischen 1939 und 1945 bestraft werden müsse und Schritte einzuleiten wären, um künftige Aggressionen Deutschlands gegen seine Nachbarn zu unterbinden. Zusammenfassend sei es - nach über 50 Jahren - auch für die Ausnahmeregelung im Dekret Nr. 115 im Sinne der Rechtssicherheit zu empfehlen, diese nicht aufzuheben.

Pragmatisch müsse man auch konstatieren, daß eine Rückgabe oder eine umfassende finanzielle Entschädigung der Opfer der Enteignungen nicht möglich sei. Auf bilateraler Basis seien durch das Prager Abkommen vom 11. Dezember 1973 sowie die deutsch-tschechische Versöhnungserklärung von 1997 bereits die Grundlagen für eine umfassende Verständigung gelegt worden. In der Erklärung habe die Prager Regierung ihr Bedauern über das durch den kollektiven Charakter der Schuldzuweisung begangene Leid und Unrecht an den Sudetendeutschen und auch über die nach dem Dekret Nr. 115 nicht bestraften "Exzesse" zum Ausdruck gebracht. Bedeutsam sei allerdings, daß Deutschland zum Zeitpunkt der Erstellung des Papiers nicht auf einer Aufhebung dieses Gesetzes bestanden habe.

Während die Reaktionen in der deutschen Presse auf die Veröffentlichung des Frowein-Gutachtens eher spärlich ausfielen, war in Teilen der österreichischen Presselandschaft eine durchaus massive Empörung zu vernehmen. Wesentliche Schwerpunkte der österreichischen Kritik sind vor allem zwei Begründungen Froweins: Zum einen sei die Behauptung, das 1946 ergangene Amnestiegesetz sei als Reaktion auf entsprechende Maßnahmen des Hitler-Regimes verständlich, nicht stichhaltig, weil Unrecht nicht durch Unrecht gerechtfertigt werden dürfe.

Auch das Argument, strafbare Handlungen seien nach fünfzigjähriger Nichtverfolgung aus Gründen des Vertrauens auf den damaligen Rechtszustand nicht mehr zu ahnden, offenbare ein etwas merkwürdiges juristisches Verständnis. Einerseits berühre es nationalsozialistische Verbrechen überhaupt nicht, andererseits gehe aber auch nicht mit aktuellen internationalen Bemühungen konform. Zudem müsse Tätern, die sich hinter einem System verschanzt haben, klargemacht werden, daß sie in einem rechtsstaatlichen System zur Verantwortung gezogen werden können.


 
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