© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/02 18. Oktober 2002

 
Auf das Schlimmste gefaßt
Frankreich: Der Mordanschlag auf den Pariser Bürgermeister Delanoë ist nur ein Beispiel für die zunehmende Gewalt
Charles Brant

Am 4. Oktober wird in einem Pariser Vorort ein ausländisch-stämmiges Mädchen mit Benzin übergossen und bei lebendigem Leibe verbrannt. Am Abend desselben Tages schießt in Grande-Synthe nahe Dünkirchen ein Franzose auf zwei Cafés, die von Zuwanderern aus dem Maghreb besucht werden. Dabei kommt ein 17jähriger Marokkaner ums Leben. In der Nacht zum 6. Oktober wird der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë bei einer Feier im Rathaus niedergestochen. Am 7. Oktober wird die Rheumatologin Sophie Berkmans ermordet in ihrem Haus in Valenciennes aufgefunden.

Eine beunruhigende Chronologie: Innerhalb von wenigen Tagen haben die Franzosen fassungslos diese Serie von Bluttaten miterlebt. Manchem wird aufgefallen sein, daß der französische Todesschütze von Dünkirchen zur alleinigen Zielscheibe geworden ist, wenn Präsident Jacques Chirac und Premierminister Jean-Pierre Raffarin in ihren Verlautbarungen dem Rassismus die Schuld geben. Auch daß Informationen der Öffentlichkeit nur tröpfchenweise verabreicht werden, dürfte ihnen kaum entgangen sein. Offensichtlich herrscht im heutigen Frankreich weniger Transparenz als einst in der Sowjetunion. Den Kommentatoren klingt wohl noch die Kritik von seiten der Linken in den Ohren, die ihre Berichterstattung vor dem Präsidentschaftswahlkampf für Jean-Marie Le Pens Erfolg verantwortlich machten.

In den letzten Tagen haben sie alle Informationen sorgfältig gefiltert. Delanoës kritischer Zustand wurde zunächst verharmlost, bis die Zeitung Le Parisien am 8. Oktober berichtete, er sei "dem Tod knapp entronnen". Delanoë wurde mit schweren Bauchverletzungen ins Krankenhaus Pitié-Salpêtrière eingeliefert, wo er bis Freitag auf der Intensivstation lag. Inzwischen befindet sich der Sozialist auf dem Wege zur Besserung und nahm schon vom Krankenbett aus seine Arbeit wieder auf. "Die Pariser werden eine Zeitlang ohne ihn auskommen müssen, aber es wird kein Machtvakuum geben", sagte seine Sprecherin Anne-Sylvie Schneider.

Manipuliert wurde auch die Darstellung seines Attentäters: Dieser habe - so Le Monde - aus Homophobie gehandelt, seine Tat sei nicht vorsätzlich und von religiösem Charakter gewesen. Sein Geständnis zeuge von "mystischem Wahn". Später erfuhr man, daß der 39jährige Azedine Berkane, gegen den die Justiz nun wegen Mordversuchs ermittelt, bereits eine siebenjährige Haftstrafe für Rauschgifthandel verbüßt hatte. In Bobigny, wo er bei seinen Eltern wohnte, war der 39jährige Junggeselle für seine Feindseligkeit gegenüber Schwulen bekannt. Diese begründete er mit der Mißbilligung, die der Islam der Homosexualität zollt.

Was die Ermordung der siebzehnjährigen Sohane angeht, so herrscht weitgehend Schweigen. Wahrscheinlich will man vermeiden, den Verdacht auf "bestimmte Bevölkerungsschichten" zu lenken. Trotzdem sickerte durch, daß ein polizeibekannter Jugendlicher die Tat gestanden hat, nachdem er in einem Pariser Krankenhaus von der Polizei aufgegriffen wurde. Der Achtzehnjährige stammt ebenfalls aus einer Zuwandererfamilie und begründete den Mord mit einer "sentimentalen Meinungsverschiedenheit" zwischen ihm und seiner Ex-Freundin. Weiterhin erfuhr man, die Polizei habe sich mit Unruhestiftern auseinandersetzen müssen, als sie am Tatort eintraf, um Zeugenaussagen aufzunehmen.

Über die Identität von Sophie Berkmans' Mörder ist zunächst noch nichts bekannt. Allerdings haben die Ermittler zu verstehen gegeben, die Kehle des Opfers sei "von einer Seite zur anderen durchgeschnitten" worden. Diese Tötungsart, die von einer seltenen Brutalität zeugt, ist in Algerien üblich.

Weniger Zurückhaltung übten Journalisten und Politiker gegenüber dem "betrunkenen und rassistischen" Schützen von Dünkirchen. Dem Lkw-Fahrer wurde jegliche Rechtfertigung versagt. Erst am 9. Oktober fanden sich in Le Monde ein paar Zeilen zu seinen Beweggründen. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft hatte er getrunken, war aber nicht betrunken. Eigener Aussage zufolge handelte er aus "Entrüstung über den Fall eines jungen Mädchens, das von Arabern belästigt worden war" und über das "Verhalten der Angeklagten im Prozeß gegen Islamisten", der derzeit in Paris stattfindet.

"Entrüstung" ist ein Wort, das in den Äußerungen der Politiker sowenig vorkommt wie auf den Meinungsseiten der politisch korrekten Presse. Aus dem Mund des einfachen Franzosen dagegen hört man es dauernd. Gerade in den letzten Tagen war es immer wieder zu vernehmen - zum Beispiel in Paris bei dem besagten Prozeß gegen Mitglieder eines islamistischen Netzwerkes, die 1995 in der Metro-Station Saint-Michel einen Mordanschlag verübten.

Entrüstung wurde auch anläßlich der Massenvergewaltigung einer Fünfzehnjährigen in der Innenstadt von Val d'Oise laut. Gegen die Täter - "Jugendliche", wie es in der Presse immer euphemistisch heißt - wurde vor kurzem ein Urteil gefällt, das ihren wütenden Familien ungerecht erschien. Und nicht zuletzt ist die Entrüstung der Eltern spürbar, deren Kinder in den öffentlichen Verkehrsmitteln oder an den Schultoren in Straßburg, Amiens, Lille oder Rennes von "Jugendlichen" erpreßt oder erniedrigt werden, die einen ungebändigten Haß ausstrahlen.

Seit dem Blutbad von Nanterre, dem am 22. März während einer Sitzung des Stadtrats acht Menschen zum Opfer fielen, sind die Franzosen aufs Schlimmste gefaßt. Sie wissen, daß der Staat auf einer Zeitbombe sitzt und - allen Prahlereien des neogaullistischen Innenministers Nicolas Sarkozy zum Trotz - nicht in der Lage ist, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Die Verhaftung Patrick Henrys, der bei der Rückkehr aus Tanger über Spanien mit mehreren Kilogramm Haschisch im Kofferraum aufgegriffen wurde, lieferte einen weiteren Beweis dafür.

Ende der siebziger Jahre war Henry für die Entführung und Ermordung eines Jungen als einer der letzten Franzosen zum Tode verurteilt worden. Mit Hilfe seines Verteidigers Robert Balinter gelang es ihm, seinen Kopf zu retten und indirekt zur Abschaffung der Todesstrafe beizutragen. Letztes Jahr war er als mustergültiger Häftling auf Bewährung entlassen worden. Der Titel des Buches, das er veröffentlichte, versprach, Frankreich werde seine Freilassung nicht bedauern müssen: "Vous n'aurez pas à le regretter...".

Um die bösen Geister der vergangenen Tage auszutreiben, haben die Kommentatoren den Begriff der "Barbarei" beschworen. In einem Land, das sich seiner "Zivilisation" brüstet, ist das eine entlarvende Formel. Angemessener wäre es jedoch, von "Verwilderung" zu sprechen. Denn langsam, aber sicher wird die französische Gesellschaft zu einem Schauplatz des Schreckens. Indes ergeht sich die Regierung in ihren antirassistischen, "republikanischen" Floskeln, während andere moralisieren und verallgemeinern. Von "Ausgeschlossenen" ist die Rede und von "Jugendlichen", ohne daß jemals die spezifischen Faktoren benannt werden, die diesen Gewalttaten gemeinsam sind.

Inmitten der beschwichtigenden Worte, die in den letzten Tagen überall zu hören und zu lesen waren, stieß man endlich auch auf die Fragen, die eine gewisse Armelle Héliot am 9. Oktober im Figaro stellte: "Was ist es, das man zu tun versäumt hat? Und was sagt uns das in unserem Innersten über den Bankrott des Staates? Unseren Bankrott."

Über den Bankrott der französischen Gesellschaft gäbe es in der Tat einiges zu sagen. Ganz Europa erlebt derzeit einen moralischen Verfall. In Frankreich kommen Sonderbedingungen dazu, die das Gesetz des Schweigens auszusprechen verbietet: die wahnwitzige Einwanderungspolitik, die begonnen wurde, um demographische Defizite auszugleichen und den Bedürfnissen der Industrie nachzukommen. Der unter Valéry Giscard d'Estaing beschlossene Familiennachzug und die automatische Einbürgerung haben das Modell des Einwanderungslandes Frankreich erst recht unantastbar gemacht.

Die Franzosen büßen nicht nur für eine Politik, die an der Verleugnung aller kulturellen Unterschiede festhält, sondern auch für die ideologischen Dogmen der Linken, denen das Wohlergehen der Übeltäter mehr am Herzen liegt als die Sicherheit ehrlicher Bürger. Wieviel Schaden in den letzten dreißig Jahren angerichtet wurde, ist heute noch nicht abzusehen.


 
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