© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/02 18. Oktober 2002

 
Wiedervereinigung eines Kontinents
Europäische Union: Die EU-Erweiterung ist nun beschlossene Sache, die Probleme bleiben
Stefanie Müller

Der Europäischen Union sollen 2004 im Rahmen der größten Erweiterung, die es je gegeben hat, zehn zusätzliche Staaten beitreten. Mit ihren vergangene Woche vorgestellten sogenannten Länderberichten hat die Europäische Kommission nun die Schlußphase der Beitrittsverhandlungen eingeläutet. Polen, Ungarn, die Tschechei, die Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland, Litauen, Malta und Zypern heißen die Staaten, die die europäische Behörde an Brüssels Wetstraat für geeignet hält, schon in etwas über einem Jahr die Beitrittsbedingungen zu erfüllen. Erwartungsgemäß wurden Rumänien und Bulgarien der zweiten, für 2007 vorgesehenen Erweiterungsrunde zugeteilt. Enttäuscht gab sich die Türkei, deren jüngste Bemühungen zwar von der EU gewürdigt wurden, mit der aber gleichwohl noch keine konkreten Beitrittsverhandlungen geführt werden sollen.

Die Empfehlungen der Kommission werden aller Voraussicht nach Ende Oktober von den EU-Staats- und Regierungschefs gutgeheißen. Ein abschließender Beschluß zur Erweiterung soll auf dem Kopenhagener Gipfel im Dezember fallen. Dort sollen dann auch die letzten Einzelfragen geklärt werden. Sechs Monate vor dem Beitrittstermin wird die Kommission dann einen weiteren Bericht über die bis dahin effektiv erfolgte Umsetzung des gemeinschaftlichen Besitzstands, also der Gesamtheit des EU-Regelwerks, in den neuen Mitgliedsstaaten vorlegen. Ferner wird die Kommission eine Sicherungsklausel vorsehen, nach der bis zu zwei Jahre nach erfolgtem Beitritt Maßnahmen gegen die Neuankömmlinge ergriffen werden können, wenn diese durch ihr Handeln das Funktionieren des Binnenmarkts beeinträchtigen sollten. Ähnliche Klauseln bestanden bei dem 1995 erfolgten Beitritt von Österreich, Finnland und Schweden, erlangten aber nie praktische Bedeutung.

Trotz der Unvergleichlichkeit der neuen Erweiterung sieht der zuständige Kommissar Günter Verheugen kein Risiko, hält aber zurzeit noch nicht absehbare Anpassungsschwierigkeiten für möglich. Auch warnte er vor Überraschungen, wenn es nicht gelinge, die öffentliche Meinung gerade in der heutigen EU für die Erweiterung zu begeistern. Wegen eines Mangels an Informationen sei die Bevölkerung momentan jedenfalls sehr skeptisch, so Verheugen. Kommissionspräsident Romano Prodi hob weniger auf die praktischen Problemen ab und betonte vielmehr die historische Dimension der "Wiedervereinigung eines künstlich geteilten Kontinents". Allerdings müsse auch eine offene Debatte über Kosten und Risiken der Erweiterung geführt werden. Im Europäischen Parlament erfährt die Beschlußlage der Kommission Unterstützung von allen maßgeblichen Fraktionen.

Mit der Entscheidung, zehn Staaten auf einmal aufzunehmen, haben sich die Befürworter des "Big-Bang-Szenarios" durchgesetzt, das in einem "großen Knall" beinahe alle Beitrittsaspiranten integrieren möchte. Dieser unglücklich gewählten und wenig Vertrauen einflößenden Metapher gemäß verbleiben auch noch einige Fragezeichen vor dem tatsächlichen Beitritt. Das größte ist das Referendum in Irland über den Vertrag von Nizza am 19. Oktober, der die Erweiterung überhaupt erst ermöglichte. In Nizza haben sich die EU-Mitgliedsstaaten auf institutionelle Reformen geeinigt, die die Aufnahme von zehn und mehr Staaten verkraftbar machen sollen. Verheugen ließ bereits durchblicken, daß ein neuerliches Nein der Iren den Beitrittsprozeß erheblich verzögerte. Ein mittelfristiges Problem sind die unveränderten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Schwächen der Beitrittsanwärter, die die Kommission wie schon in der Vergangenheit in alljährlichen "Fortschrittsberichten" offenlegte. Große Probleme bereitet somit weiterhin das größte hoffnungsvolle Neumitglied Polen, wo Korruption Grund zu ernster Besorgnis liefere. Ferner seien die Privatisierung und Umstrukturierung der Schwerindustrie, Landwirtschaft und des Energiesektors unbefriedigend vorangeschritten. Auch die Unabhängigkeit der Zentralbank, die Leistungsfähigkeit der Verwaltung zur Umsetzung europäischen Rechts, die Lebensmittelsicherheit, Fischerei- und Umweltpolitik ließe zu wünschen übrig.

Die Problemszenarien ähneln sich bei den mittel- und osteuropäischen Ländern. Korruption moniert die Kommission auch bei der Tschechei, der Slowakei, Ungarn und Lettland. Wie schon in den vergangenen Jahren ist sie der Auffassung, daß die überwiegend zu Sowjetzeiten im Baltikum angesiedelten Russen mit bodenständigen Volksgruppen gleichzusetzen seien; infolgedessen werden Estland und Lettland aufgefordert, deren Integration etwa durch Erleichterung der Einbürgerung zu fördern. Faktisch bedeutet das eine Aufforderung zur Aufweichung der Bestimmungen, die hinreichende Kenntnisse des Estnischen und Lettischen zur Erlangung der jeweiligen Staatsangehörigkeit fordern, die bei vielen Russen nicht gegeben sind.

Während Benes- und AVNOJ-Dekrete wiederum keine Rolle spielen, werden die Tschechei, die Slowakei und Ungarn zu einer Verbesserung der Lage der Zigeuner aufgefordert. Von Litauen erwartet man die schrittweise Abschaltung der Reaktoren von Ignalina (2005 und 2009), von der Slowakei ebenfalls die Stillegung zweier Meiler. Einzelprobleme sind hohe Arbeitslosenstände (Slowakei, Litauen), die Funktionsweise der Justiz (Lettland, Litauen) und die Steuerpolitik (Tschechei, Slowakei). Estland muß die Lebensmittelsicherheit und maritime Sicherheit verbessern, den Kampf gegen Raubkopien verschärfen und den Gas- und Strommarkt liberalisieren.

Sonderfälle bilden die wirtschaftlichen Musterschüler Slowenien, Malta und Zypern, denen kaum "Hausaufgaben" erteilt wurden. An Slowenien stört demnach nur ein verbesserungsfähiges Grenzkontrollsystem und die Inflation. Malta hat gewisse Rückstände bei der Gesetzesanpassung aufzuholen und Zypern die Geldwäsche zu bekämpfen. Zwar ist die EU bereit, auch ein geteiltes Zypern aufzunehmen, hofft jedoch, daß der türkische Nordteil spätestens nach Einsetzen der ersten Strukturzahlungen an (Süd-)Zypern dazustößt.

Die Türkei hat letztere Variante bisher als Zementierung der Teilung abgelehnt. Für Ankara kam erschwerend hinzu, daß die Kommission nicht bereit ist, einen konkreten Termin für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen zu nennen. Auf dem Gipfel in der Brüsseler Gemeinde Laken im vergangenen Dezember ist der Türkei eine allgemeine Perspektive für Verhandlungen gewährt worden. Jedoch verhinderten die unveränderte Beeinträchtigung der Meinungs- und Vereinigungsfreiheit, Folter und eine unzureichende zivile Kontrolle der Streitkräfte die Erfüllung der politischen Bedingungen eines Beitritts. Bulgarien und Rumänien wurde eine Erhöhung der Finanzhilfen ab 2004 zur Vorbereitung ihres Beitritts 2007 zugesagt.


 
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