© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/02 18. Oktober 2002

 
"Hoffnung darfst Du hier nicht haben"
Nord-Ostpreußen: Die wirtschaftliche Situation ist katastrophal / Die EU-Osterweiterung böte neue Chancen für das Königsberger Gebiet
Kerstin Dobeleit

Olga Perschowa rührt gedankenverloren und etwas lustlos in ihrer Teetasse. Wir kennen uns seit acht Jahren. Und bei meinen viel zu seltenen Reisen nach Königsberg treffen wir uns leider auch nicht so oft. 1995 habe ich Olga zuletzt erlebt. Sie war eine fast enthusiastische Frau, die den Kontakt zu Deutschen gesucht hat.

Olga ist heute 36 Jahre alt, Mutter von zwei Kindern und arbeitet als Krankenschwester in einer Königsberger Klinik. Andrej, ihr Mann, ist arbeitslos. Dima, der eigentlich Dimitrij heißt, ist eines ihrer Kinder und lebt auf der Straße. Ist irgendwann losgezogen und nicht wiedergekommen. Ab und zu begegnet Olga dem 14jährigen, doch Dima will nicht zurück - liegt wohl am Vater, der lebt im Wodka. Olga wirkt heute regelrecht abwesend. So frage ich nach ihren Hoffnungen und spreche dabei die Osterweiterung der EU an. "Hoffnungen habe ich keine. Bei uns ändert sich ja doch nichts", sinniert Olga. Sie zeigt in Richtung eines neuen Nobelvorortes von Königsberg in ausgesprochen hübscher Hanglage. "Die da oben bauen sich ihre Villen, während hier unten...", bricht sie ab und wirkt irgendwie leer. Ihr Sohn Dima ist im letzten Monat wegen einer eigentlich unbedeutenden Verletzung in ihrer Klinik gewesen. Seit den Untersuchungen weiß sie jetzt: Dima hat Aids. Sie weiß nicht woher und will es wohl auch nicht so genau wissen.

In der Bundesrepublik berichtet die Presse täglich über die Königsberger Zukunft in einer erweiterten EU. Schweden, Deutsche und Holländer laufen durch die Stadt und wollen sich am Aufbau beteiligen oder leisten humanitäre Hilfe. Das kann doch auch Olga nicht verborgen geblieben sein. "Hoffnung", setzt Olga erneut an, "Hoffnung darfst Du hier nicht haben. Nicht hier, nicht am Ende der Welt - hier in Königsberg." Königsberg geht ihr noch immer leichter über die Lippen als Kaliningrad, das habe ich schnell bemerkt. In den vergangenen Jahren hat es von der russischen Bevölkerung der Stadt des öfteren Initiativen zur Rückbenennung der Stadt gegeben. "Es ist doch normal, wenn man Städte von den Namen Stalins und Lenins befreit, auch Kalinin nicht weiter in dieser Stadt zu ehren", unterstützt Olga die Initiatoren. Selbst der Königsberger Gouverneur Wladimir Jegorow, ein Mann Wladimir Putins, hat keine Bedenken gegen den historischen Namen der Stadt, wenngleich er eine Umbenennung für unwahrscheinlich hält.

Jeder der einmal nach Königsberg gefahren ist, spürt die Geschichte dieser Stadt. Die Stadt der preußischen Königskrönung von 1701, die Stadt Immanuel Kants und Agnes Miegels, sie wird seit fast sechzig Jahren von Verhältnissen beherrscht, die den Eindruck einer schon irrationalen Zivilisationsferne erwecken. Gerade erst war die Präsidentengattin Ludmila Putina in Königsberg, ihrer Heimatstadt, zu Gast. Die First Lady der Russischen Föderation eröffnete mit einer Rede ein Gala-Konzert im Baltika-Stadion. Das Konzert war die Auftaktveranstaltung einer Kampagne gegen Aids und Drogenmißbrauch. Es sei "nur symbolisch", daß die Kampagne ausgerechnet in Kaliningrad startet, sagte Ludmila Putina. Königsberg ist offiziell, darf man den Statistiken des russischen Gesundheitsministeriums Glauben schenken, nicht das russische Epizentrum der Aids-Krankheit. In Königsberg sind demnach nämlich statistisch nur 51,8 von 100.000 Bewohnern infiziert, während der Durchschnitt in Rußland bei 61,8 Infizierten je 100.000 Einwohnern liegt. Dima werden solche Zahlen nicht helfen. Außerdem ist die Tuberkulose in Königsberg so verbreitet wie andernorts die Grippe. Die Lebenserwartung der Männer im liegt bei 59 Jahren, während Frauen im Schnitt 71 Jahre alt werden.

Prostitution, Korruption und Kriminalität allerorten

Kein Grund für Optimismus. Die Königsberger Region ist in fester Hand mafiöser Strukturen. Drogen, Prostitution, Korruption und Kriminalität allerorten. Hinzu kommen krasseste Gegensätze in den Einkommensverhältnissen und die bevorstehenden Auswirkungen einer erneuten Dürre. Vor einigen Wochen hat der Vertreter der Königsberger Gebietsadministration im Russischen Föderationsrat, Senator Walerij Ustjugow, sein Amt niedergelegt. Die Gebietsduma sei zu einem "Sammelbecken für demissionierte Moskauer Beamte und Geschäftsleute" geworden. "Sie begünstigen vorwiegend ihre eigenen Geschäfte", so Ustjugow. Zwei von drei Föderationsratsmitgliedern seien Moskauer ohne Beziehung zu den Regionen des Landes. Ustjugow war Staatsanwalt in der Region und wird solche Äußerungen nicht ohne Wahrheitsgehalt von sich gegeben haben.

Betrug und Korruption gehören zum Königsberger Alltag. Das bestätigt auch das Ergebnis einer Untersuchung der staatlichen Kontrollbehörde für Handels- und Dienstleistungsbetriebe "Gostorginspekzija". Demnach halten sich nur etwa vier Prozent der geprüften Unternehmen an Gesetze und Vorschriften. Steuerbetrug gehört schon fast zum guten Ton. Bei über 50 Prozent Arbeitslosigkeit bleiben Gesetzesverstöße und Kriminalität nicht aus. Perspektivlosigkeit führt nicht nur in westlichen Staaten zu Drogenmißbrauch und Alkoholismus. Berücksichtigt man, daß etwa das Einstiegsgehalt eines Lehrers bei 900 Rubel (etwa 30 Euro) wöchentlich und damit weit unter dem Existenzminimum liegt, so haben auch Berufstätige keine wirklichen Perspektiven.

Auch wenn ich gerne weiterfragen würde, Olga kann ich mit solchen Zahlen nicht belasten. Es steht noch nicht fest, ob im kommenden Winter eine erneute Hungersnot droht. Die die regionale Landwirtschaft belastende Dürre hatte zu einem 130 Millionen Rubel schweren Schaden geführt. Nur 77 Prozent der Saatflächen konnten abgeerntet werden. Schlimm sieht es im Winter bei der Versorgung der Tiere mit Grünfutter aus. Die Weideflächen sind mangels gepflegter Drainagen verwässert und Trinkwasser-Teiche waren wegen der im Sommer lang anhaltenden Hitze und wegen fehlender Niederschläge oft ausgetrocknet.

Gegen Armut und Mangel an Medikamenten kämpfen ungezählte Initiativen in der Bundesrepublik Deutschland, oft unterstützt durch Bundesländer wie Brandenburg, Sachsen und Schleswig-Holstein. So hat zum Beispiel das Land Schleswig-Holstein im Jahr 2000 einen "Initiativkreis Kaliningrad" eingerichtet. Vertriebenenorganisationen, Kirchen und Privatpersonen wollen in diesem Kreis ihre Erfahrung und Erkenntnisse austauschen. Die in Marsch gesetzten vielen Hilfsgütertransporte haben an den Grenzübergängen immer wieder Probleme mit Zöllnern und Militärs. Dies gilt vor allem dann, wenn die wodurch auch immer erlangte Unterstützung aus der Administration fehlt, wie es bei Privatinitiativen regelmäßig der Fall ist. In den Kinderheimen und Krankenhäusern sind die mit Kleidungsgegenständen und Arzneimitteln aufgefüllten LKW gerne gesehen. Olga hat aber auch schon von Transporten an Königsberger Krankenhäuser gehört, die bis unter die Plane gefüllt in Deutschland abgefahren, aber fast leer angekommen sind. "Solche Sachen lassen sich hier gut verkaufen", meint Olga dazu nur lapidar.

Die EU-Osterweiterung verschlimmert die Situation

Bei solchen Verhältnissen wirkt es schon surrealistisch, wenn - wie jüngst geschehen - Putins Sonderbeauftragter und Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses in der russischen Staatsduma, Dimitrij Rogosin, das so von Königsberg skizzierte Bild für "eine bestellte Lüge" der westlichen Medien hält. Er habe sich "mit Grenzern, Zöllnern und Vertretern bewaffneter Staatsorgane getroffen" und sei dabei zu der Überzeugung gekommen, daß die Kriminalität in Kaliningrad den russischen Durchschnitt nicht übersteige. Solche mehrdeutigen Vergleiche dürften auch Putin selbst kaum erfreuen, sind sie doch wenig vertrauenserweckend. Die Lebensverhältnisse in Königsberg könnten rasant steigen, würde die Korruption gestoppt, die Öffnung für ausländische Investoren erweitert und eine gewisse Rechtssicherheit gewährleistet. Es scheint allerdings fraglich, ob korrupte Staatsorgane ihr eigenes Verhalten einem Prüfstand unterziehen.

Hinsichtlich der wirtschaftlichen Öffnung gibt es immerhin Ansätze in infrastrukturellen Bereichen. So soll ab dem 5. November des Jahres von Kiel über Lübeck nach Königsberg wieder eine regelmäßige Fluglinie der "Northern Air Charter" gehen. Am 17. September dieses Jahres wurde zudem zwischen dem russischen Verkehrsministerium und der Kaliningrader Administration ein Vertrag über die Wiedereinrichtung einer Bahnlinie Berlin- Königsberg geschlossen. Die Deutsche Bahn hatte im Jahr 2000 die Bahnverbindung wegen erheblicher Sachbeschädigungen an den Waggons in Königsberg und angeblicher Nichtauslastung der Strecke ersatzlos gestrichen.

Darüber hinaus steht nun auch noch die EU-Osterweiterung vor der Tür. Litauen und Polen werden der EU und dem Schengener Abkommen beitreten. Infolgedessen wird die russische Exklave eine EU-Enklave werden. Zwar ist dies für Moskau die Chance, um mit einem Fuß in der Tür zur EU zu stehen. Dennoch sind die Moskauer Ängste um den Verlust von Souveränität größer als die Visionskräfte. Bisweilen tönt es höchst nationalistisch aus Moskau Richtung Brüssel. Abschottung gegen Bevormundung, lautet dann die Devise. So war vom Korridor und sogar von einem Tunnel zwischen der Region und Weißrußland die Rede. Auch wenn die Regelung des Transitverkehrs unmittelbar vor einer Kompromißlösung zu stehen scheint, haben viele Russen in der Exklave Angst. Zu viele Arbeitsplätze hängen an den Vorteilen der Freihandelszone. Etwa ein Drittel der Bevölkerung lebt vom Handel mit den im Westen von hohen Verbrauchssteuern verteuerten Konsumgütern wie etwa Zigaretten und Alkohol. Aber auch die begünstige Einfuhr von Rohwaren, die als verarbeitete Güter wieder ins Ausland verkauft werden, könnte mit der erweiterten EU entfallen. Ohne die verarbeitende Industrie, zumeist kleinere mittelständische Unternehmen ausländischer Investoren, würden selbst diese Beschäftigten arbeitslos.

Aber auch eine diffuse Furcht vor einer Regermanisierung macht sich bei der Königsberger Administration breit, beziehungsweise wird von dort verbreitet. Gerade erst hat sich der Abgeordnete Alexandr Dolgow über eine Straßenbenennung nach Ulrich von Hutten beschwert, dessen "Name mit der Nazivergangenheit in Verbindung" stehe. Sogar die verhinderte Universitätsstudentin Olga weiß, daß Ulrich von Hutten vor 500 Jahren gelebt hat. Sie hat sich nicht nur mit der Königsberger Geschichte, sondern auch mit der deutschen Geschichte befaßt. Dennoch will die Gebietsduma noch in diesem Jahr Abgeordnetenanhörungen durchführen, auf denen die "heimliche deutsche Expansion im Gebiet Kaliningrad" erörtert werden soll.

Das 1.300 Kilometer von Königsberg entfernte Moskau fürchtet dagegen weniger deutsche oder EU-Expansionsgelüste, sondern vielmehr den Verlust der eigenen Souveränität in der Frage der Transitregelung. Die politische Zukunft vieler Apparatschiks nicht nur in Königsberg, sondern erst recht in Moskau hängt davon ab, ob es Rußland gelingen wird, sein Gesicht zu wahren. Auch Putins Kopf könnte rollen, verlöre er gegen die Brüsseler Technokraten den Einfluß auf das Gebiet. Die Verselbständigungstendenzen der Gebietsverwaltung nach Einrichtung der Freihandelszone waren unübersehbar. Selbst einfache Bewohner der Region, wie Olga oder Studenten an der Königsberger Universität machen seit zehn Jahren keinen Hehl aus ihrer Neigung, die russische Souveränität über Königsberg als nur vorübergehend anzuerkennen. "Wir sind hier nur Gäste im preußischen Haus", habe ich von Olga oft zu hören bekommen, wenn wir unsere Ideen über die Zukunft des mittleren Teils Ostpreußens austauschten (das jetzige litauische Memelland ist das eigentliche nördliche Ostpreußen) und eine gedankliche Idylle aus Bernstein, gepflegter Landwirtschaft, Trakehnerpferden und touristischen Sehenswürdigkeiten uns beflügelte.

Königsberg könnte ein wohlhabender Brückenkopf zwischen der EU und Rußland sein, europäische Investoren anlocken und seinen Menschen allein aufgrund seiner besonderen politischen Situation Wohlstand bringen. Menschen, die den Willen zum Aufbau und ein ausgeprägtes Solidargefühl in sich tragen. Allein schon die emotionale Bindung vieler Deutscher an diese Region ist ein kaum zu unterschätzender Wirtschaftsfaktor. Es gibt wohl eine Handvoll Pioniere mit dieser Beseeltheit in der Region. Die bekannteste ist die fast blinde und hochbetagte Ostpreußin Ursula Trautmann, die sich mit ihrem Hof eine neue Existenz geschaffen hat. Doch die Zeit des euphorischen Aufbruchs, eine Stimmung, die besonders in den Jahren zwischen 1993 und 1997 noch geherrscht hat, ist vorüber. Eine solche Euphorie vermag auch die schwerfällige Europäische Union nicht zu erzeugen. Statt dessen befindet sich die Kaliningrader Oblast heute wirtschaftlich, politisch und sozial am Ende der Welt, fern jeglicher Hoffnungen. Olgas Augen sind leer. Träume hat sie keine mehr.


 
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