© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    43/02 18. Oktober 2002

 
Märkische Schöpfungen
Von Theodor Fontane bis zu Autoren der Konservativen Revolution: Streifzüge durch die brandenburgische Literatur
Wolfgang Saur

Eine märkische Sage erzählt vom Teufel, der die heimischen Adelsfamilien einer kritischen Musterung unterzog und diejenigen, "die nicht mehr gut tun wollten, in einen großen Sack" steckte und "lustig damit zur Hölle" flog. "Wie er nun aber über der Stadt Friesack ist, so streift der Sack etwas hart an der Spitze des Kirchturms, so daß ein Loch hineinreißt und eine ganze Gesellschaft von Edelleuten ... herausfällt. Das sind aber die Herren von Bredow gewesen, ... nicht wenig froh.., den Krallen des Teufels ... entkommen zu sein. Zum Andenken nannten sie die Stadt ... Frie-Sack, und von hier haben sie sich dann über das ganze Havelland verbreitet."

Ebenso legendär waren die Quitzows, deren Schicksal im 19. Jahrhundert, der Epoche von Geschichtspietät und preußischer Reichseinigung, besonders fesselte. Der gefeierte Ernst von Wildenbruch (1845-1909) widmete ihnen im Zyklus seiner patriotischen Hohenzollerndramen ein eigenes Stück (1888). Dort tritt dem junkerlichen Feudalegoismus und selbst­zerstörerischen Partikularismus die gemeinschaftsbezogene, neue Staatsgesinnung Friedrich I. entgegen. Das figurenreiche Historiendrama entwickelt eine politischen Ethik als konstitutives Prinzip der Dynastie und verknüpft schon im Widmungsgedicht den historischen Modellfall mit der Gegenwart: "Der Adel, der vom Berg im Süden kam, / Mark Brandenburg den Rettungstag zu bringen, / Seht, welchen stolzen Himmelsflug er nahm: / Heut über Deutschland breitet er die Schwingen."

Dem berühmten Erfolgsstück huldigte seinerzeit auch der "märkische Goethe". Fontane läßt seine "Poggenpuhls" (1896) im 7. Kapitel an einer Quitzow-Vorstellung teilnehmen und den Onkel ganz behaglich über die eigene Familie, die ruppigen Raubritter und Bismarck im gleichen Atemzug plaudern. "Die Mark vertrat schon damals die höhere Sittlichkeit", meint der Neffe Leo. Doch auch das Einfache und Dürftige, so daß seine Schwester Therese feststellen kann, großartiger lägen die Verhältnisse doch in Schlesien. Der Autor selbst hat gleichwohl in seinen Romanen und den "Wanderungen" (1862-82) Berlin und der Mark ein Denkmal gesetzt, die Reize eines wenig bekannten deutschen Landstrichs überhaupt erst bewußt gemacht und das Fundament eines spezifischen Wir-Gefühls gelegt.

Fontane, Alexis, Wildenbruch oder die volkskundlichen Mythensammler und Historiker waren die ersten, die, am Leitfaden der Literatur, Identität aus der Geschichte und den Geschichten dieser Landschaft schöpften. Ein jederzeit aktuelles Projekt, wie die jüngsten Bemühungen um Sichtung und Darstellung des literarischen Erbes zeigen. Ein Terrain unendlicher Bezüge, Themen - und vor allem Autoren. Weit über 2000 (unter Aussparung Berlins!) hat das eben vorgelegte brandenburgische Schriftstellerlexikon (hrsg. Von Peter Walther, Lukas Verlag) zusammengetragen!

Aber was bedeutet überhaupt "brandenburgische Literatur"? Mancherlei. "Brandenburg als Startpunkt, Durchgangsetappe, Endstation: Keinen Schreibenden ließ es uninspiriert. Auf seinem sprichwörtlich kargen Boden sind Werke der Weltliteratur gediehen. Sämtlicher Genres" (Bellmann). Doch führen die "märkischen Dichterwege" nicht nur zu diversen literarischen Formen und Disziplinen. Sie lassen uns an Orten verweilen, nach literarischen Trägern und historischen Augenblicken fragen, die Rolle Berlins, das Gewicht des Politischen, ästhetische Konzepte bestimmen, Religion und Profanität, Ethik und Staatsgesinnung, ja den Literaturbegriff selbst überdenken.

Den preußischen "Seelenton" hatte der Hainbündler Hölty (1748-1776) mit seinem Lied "Üb' immer Treu und Redlichkeit" gefunden, das als mozartsches Glockenspiel der Potsdamer Garnisonkirche von 1797 bis 1945 erklang. Zur mythischen Figur im preußischen Seelenhaushalt avancierte die Königin Louise, durch Heinrich von Kleist (1777-1811) in schwerer Kriegszeit, 1810 poetisch beschworen: "Erwäg' ich, wie in jenen Schreckenstagen, / Still deine Brust verschlossen, was sie litt, / Wie du das Unglück, mit der Grazie Tritt, / Auf jungen Schultern herrlich hast getragen, / Dein Haupt scheint wie von Strahlen mir umschimmert; / Du bist der Stern, der voller Pracht erst flimmert, / Wenn er durch finstre Wetterwolken bricht." Die hohe Frau bewies in ihren Tränen eine frappante Aufgeschlossenheit für deutsche Poesie, was bis zum Regierungsantritt ihres Schwiegervaters 1786 am Berliner Hof undenkbar gewesen war.

Dem Alten Fritz (1712-1786) war die deutsche Literatur "keinen Schuß Pulver wert", seine Frankomanie notorisch, beides mit ignoranter Verachtung formuliert in: "De la littérature allemande" (1780). Das widerstrebte selbst avancierter französischer Kritik: "Friedrich begriff nicht im entferntesten, welche Bedeutung die Deutschen auf dem Gebiete der Literatur und der Philosophie haben. Er traute ihnen keinen Schöpfergeist zu" (de Stael). Als "aufgeklärter" Autokrat machte er in seiner Regierungszeit (1740-1786) Rokokoästhetik und Voltaireianismus zur exklusiven Norm, boykottierte deutsche Geister und förderte als Atheist den radikalsten Materialismus.

Stieß Friedrich die heimischen Intellektuellen zurück, so inspirierte er sie doch durch seine Taten im siebenjährigen Krieg (1756-1763). Diese hätten der deutschen Poesie, "den ersten wahren und höheren eigentlichen Lebensgehalt" gegeben, so Goethe, einen neuen zeitgeschichtlichen Realismus, wie er uns aus Lessings "Minna von Barnhelm" (1767) entgegentritt. Überaus produktiv auch dessen Berliner Freunde: der die jüdische Assimilation geistig begründende Moses Mendelssohn (1729-1786), Vorbild von Lessings Nathan, und Friedrich Nicolai (1733-1811), Haupt der Berliner Aufklärung. Im Streit mit der intellektuellen Avantgarde der Romantiker um 1800 konterte dieser Friedrich Schlegel mit dem provozierenden Apercu: die Wirkungsmächte des Zeitalters seien Friedrich der Große, die amerikanische Republik und - die Kartoffeln. Dem alten Rationalisten verbanden sich so zwanglos Utilitarismus und preußisches Ethos. Den Kartoffelanbau hatte der große Kurfürst eingeführt, und er war es auch, der mit dem "Edikt von Potsdam" (1685) auf die Kündigung des Religionsfriedens in Frankreich reagierte und mit der Ansiedelung hugenottischer Emigranten Toleranzprinzip und absolutistischen Pragmatismus verband. Zu Recht fand dieser Text Aufnahme ins neue Potsdamer Lesebuch (hrsg. von Jürgen Israel und Peter Walther, Lukas Verlag).

Der reizvolle Schloßpark ist das Werk des exzentrischen Fürsten Pückler (1785-1871), des Weltreisenden und romantischen Gartengestalters. Vielgelesen seine Reiseberichte und die "Andeutungen über Landschaftsgärtnerei" (1834), mit denen er sich Klassikerstatus erschrieb. Als "Anacreon der Lausitz" bildete er sein Gut Branitz/Cottbus zu einem kulturellen Kristallisationspunkt aus. Musenhöfe waren auch die märkischen Landsitze vieler seiner Standesgenossen (Kunersdorf, Nennhausen, Wiepersdorf, Ziebingen). Sie figurieren als literarische Zentren neben den Berliner Salons (1779ff.), den Bildungsstätten (so Viadrina in Frankfurt/Oder, 1506-1811) oder literarischen Kreisen und Vereinigungen (so etwa die "Mittwochsgesellschaft", 1783ff. oder der "Tunnel über der Spree", 1827ff.).

Nachmals prominentestes Tunnel-Mitglied war Theodor Fontane (1819-1898), der wie kein anderer in seinem künstlerischen Realismus das juste milieu bürgerlicher Werte und eine erzählerische Bonhomie verkörpert, welche schon bald nach seinem Tode psychologische und ästhetische Plausibilität verlieren sollte.

Diesen Umbruch vollzog bereits der Naturalismus. Die zentralen Werke seiner Frühzeit verfaßte der Schlesier Gerhart Hauptmann (1862-1946) im märkischen Erkner (1885-1889). Die Ibsen, Tschechow, Schnitzler nahstehenden "Einsamen Menschen" (1891) etwa reflektieren nicht nur aktuelle Debatten um Sozialismus, Frauenemanzipation und materialistischen Monismus (Darwin, Haeckel), sondern gestalten vor allem das tragische Scheitern des Protagonisten, eines bürgerlichen Intellektuellen, der vom traditionellen Glauben abgefallen, die beanspruchte neue Position eines genialischen "Freidenkers" und "Übermenschen" Nietzsches geistig und sozial nicht bewältigt und sich erschießt.

Nach außen gewandt erschien die "Grundlagenkrise" (Benn) des neuen Jahrhunderts politisch lösbar, so in der sozialistischen Utopie. Nahm man sie jedoch als metaphysisches Datum, lief es auf das religiöse Projekt einer inneren Erneuerung des Menschen hinaus. Dies geschah im deutschen Expressionismus, dessen Schriften Zeitkritik, spirituelle Motive und ästhetisches Sendungsbewußtsein verschmolzen: "Der Dichter spreche durch die Symbole des Ewigen" (Sorge). Den programmatischen Dramentext schrieb Georg Kaiser (1878-1945) mit "Von Morgens bis Mitternachts" (1916). An die Stelle der traditionell mehrpoligen dramatischen Konstellation tritt nun der um seine existentielle "Wandlung", die Eigentlichkeit Heideggers, ringende Held. Dieser ist hier ein anonymer Bankangestellter, der plötzlich seinem lethargischen Alltagstrott entrissen wird, mit der Kasse durchgeht und auf einem winterlichen Schneefeld seinen symbolischen Tod erleidet. Danach bricht er auf zu einem zweiten Zyklus, indem er die Welt durchrast nach Erlebnisintensität, um schließlich als moderner Christus-Nachfolger zu sterben. Die Jahre 1921 bis 1938 verbrachte Kaiser in Grünheide, wo er zahlreiche Stücke, nun unterhaltsam und komödiantisch, im Zeichen der neuen Sachlichkeit verfaßt hat.

Auf der Bildfläche erschienen auch Autoren der Konservativen Revolution. So verfaßte Reinhold Schneider (1903-1958) hier sein Buch über die Hohenzollern, einen schwermütigen Abgesang auf die monarchische Idee als "zerbrechendes Zeichen Gottes".

Auch Friedrich Hielscher (1902-1990), der reichsmystische und ostorientierte Nationalrevolutionär, hat in sich Brandenburg verbunden. Als er Jahrzehnte später starb, war er in der Bundesrepublik, so Karlheinz Weißmann, praktisch ein Unbekannter geworden. Mögen seine Vorkriegspositionen auch obsolet geworden sein, fasziniert doch immer noch der religiöse Aspekt seines Denkens, mit dem er die Völker geschichtstheologisch einer symbolischen Geographie integrierte. Gleich den Romantikern beschwor er seine Landsleute: "Wir wissen, daß östlich von uns alle großen Kulturländer liegen. Wir wissen, daß nur die großen Kulturen in der Tiefe wurzeln und Dauer haben. Wir wissen uns als Träger einer großen Kultur und folglich als Brüder aller derer, die gleich uns eine große ehrwürdige und gewaltige Überlieferung zu tragen haben. (...) Der Deutsche gehört zum Osten und nicht zum Westen."

Bilder: Theodor Fontane, Achim von Arnim, Heinrich von Kleist, Brecht-Weigel-Haus in Buckow: Identität aus der Geschichte und den Geschichten der Landschaft

Weitere Informationen im Internet unter www.literatur-im-land-brandenburg.de  


 
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