© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    44/02 25. Oktober 2002

 
Kolumne
Unbelehrbar
Klaus Motschmann

Die Geschichte kennt bekanntlich keine Wiederholungen, wohl aber Analogien. Insofern kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, daß die neue rot-grüne Bundesregierung dort beginnt, wo die letzte parlamentarische Regierung der Weimarer Republik unter dem sozialdemokratischen Reichskanzler Hermann Müller (SPD) im März 1930 aufgehört hat: in einer kleinkarierten Auseinandersetzung um die Bewältigung der Schuldenlast der öffentlichen Haushalte. Damals wie heute waren die Verantwortlichen in Politik und Gesellschaft - bei allen Unterschieden im einzelnen - auf die vielzitierten unvorhergesehenen Veränderungen der wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen nicht vorbereitet und hatten demzufolge keine durchgreifenden Lösungen für die Bewältigung der rapide um sich greifenden Verschuldung. Damals wie heute erstickte das ideologisch diktierte Prinzip der "Besitzstandswahrung" jeden Ansatz eines spürbaren Schuldenabbaus. Damals wie heute wurde erbittert um einige Zehntelprozente der Erhöhung irgendwelcher Sozialbeiträge gestritten. Damals ging es um 0,5 Prozent Beitragserhöhung zur Arbeitslosenversicherung, auf die sich das Kabinett Müller nicht einigen konnte; heute sind es 0,2 Prozent für die Rentenversicherung, auf die man sich gerade doch noch einigen konnte.

Das parlamentarische System von Weimar zerbrach entgegen der politischen Zwecklegende eben nicht allein am politischen Extremismus von Links und Rechts, sondern an der Unfähigkeit zur Durchsetzung undoktrinärer Maßnahmen zur Überwindung der Wirtschafts- und Finanzprobleme und begünstigte damit die Radikalisierung des politischen und gesellschaftlichen Lebens.

Offensichtlich sind diese in jedem besseren Lehrbuch der deutschen Geschichte nachzulesenden Zusammenhänge vergessen. Anders ist es wohl nicht zu erklären, daß politische Phantasten nach wie vor den Eindruck erwecken können, durch bloße Sparmaßnahmen den Schuldenberg in einigen Jahren abbauen zu können. Einstweilen wächst er kontinuierlich, und zwar um 1,333 Euro pro Sekunde (sic!), so daß der aktuelle Schuldenstand 1.246.290.459.989 Euro beträgt. Nichts deutet darauf hin, daß diese Entwicklung in absehbarer Zeit gestoppt werden kann, zumal die Verschuldung ein astronomisches Ausmaß angenommen hat, das vom normalen Bürger überhaupt nicht mehr erfaßt wird - eine massenpsychologisch höchst bedenkliche Situation. Auch in diesem Zusammenhang die Frage: Wo bleiben die sonst so rasch angemahnten "Lehren der Geschichte"?

 

Prof. Dr. Klaus Motschmann lehrte Politikwissenschaft an der Hochschule der Künste in Berlin.


 
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